Freitag, 25. Dezember 2020

Geschwisterliebe


I couldn't care less about my brothers.

Meine Brüder sind mir so ziemlich egal. Mehr noch, eigentlich nerven sie mich. Das war meine Denkweise in der Jugend. Zwei ältere Brüder, die immer schon "weiter" waren als ich, und deren T-Shirts ich aufgetragen habe, weil ich nicht wusste, dass ich mir aussuchen kann, welche Kleidung ich trage. Es fühlte sich an, als ob meine Brüder immer bevorzugt wurden, wohingegen ich zuständig war für das Durchsaugen, Müllrausbringen, Blumengießen und was es sonst noch an chores im Haushalt gibt. Das ist nicht ungewöhnlich, wenn man der Dritte ist, gerade, wenn die anderen beiden Zwillinge sind. 

Das hat sich auch nicht wirklich geändert, als ich von zuhause ausgezogen bin, nach Kronshagen, in eine WG mit Conny. Keine Eltern mehr, keine Brüder mehr, sollte man meinen - aber irgendwie habe ich doch immer gespürt, dass die Brüder da sind, und dass sie mich nerven. Der eine mehr, der andere weniger. Diese Denkweise hat sich noch etwas erhärtet in Richtung "Der eine ist nett, der andere ist doof und triezt mich und macht mir absichtlich das Leben schwer". Ich bin von diesem Denken nicht losgekommen, das ganze Studium hindurch, und auch danach.

Das hat dazu geführt, dass ich mir gesagt habe, okay, in meiner Wahrnehmung habe ich einfach keine Brüder mehr. Die sollen ihren eigenen Kram machen, sollen sie doch glücklich sein, aber ich will da nicht mit reingezogen werden, ich will von ihnen nichts hören oder sehen, wenn es sich vermeiden lässt. Das ließ sich nicht immer vermeiden, gerade, wenn einer der Brüder mich für ein Wochenende bei den Eltern mit dem Auto abgeholt hat. Das waren keine schönen Erlebnisse, sondern Stress, und ich war froh, wenn ich wieder in den Kronshagener Bergen war.

Dann habe ich den Kontakt abgebrochen. Nicht mehr auf Anrufe geantwortet, klargemacht, dass ich meine Ruhe haben möchte. Bis in das Referendariat hinein und darüber hinaus. Ich konnte nie verstehen, wie man seine Geschwister lieben kann, ich wusste nicht, wie sich so etwas wie Geschwisterliebe anfühlt, ich habe nur oft davon gehört. Dann habe ich an meine eigenen Brüder gedacht und mir gesagt "Ne, niemals, da ist fast nur noch Abneigung". Auch als ich in's Berufsleben eingestiegen bin.

Aber wir werden älter und entwickeln uns weiter. Seitdem ich mich ernsthaft mit dem Asperger-Syndrom auseinandersetze, ist jegliche Abneigung, jeglicher Hass meinem Bruder gegenüber verschwunden - weil ich ihn endlich verstehe. Ich verstehe, dass er mir nie etwas Böses wollte, und ich verstehe, dass er mir nie mit Absicht das Leben schwer gemacht hat. Ich erkenne so Vieles von mir in ihm wieder. 

Und dann realisiere ich, wie ich quasi durch die Hölle gegangen bin auf dem Weg nach der richtigen Schule für mich. Und plötzlich kommt der Wunsch auf, dass es meinen Brüdern gut geht. Ich möchte, dass sie nicht wegen ihrer Verhaltensweisen so abgelehnt werden, wie es bei mir der Fall war. Ich möchte ihnen - ihm - den Stress nehmen. Ich möchte ihm helfen. Ich kann mir nicht wirklich erklären, warum mir das ein Bedürfnis geworden ist. Ich glaube, das meint der Begriff Geschwisterliebe.

I actually do care about my brothers.

Dienstag, 22. Dezember 2020

Ach, Ferien?


Es ist mal wieder soweit, und das scheint auch vor einem Lockdown nicht Halt zu machen: Mein Kopf registriert nicht, dass Ferien sind. Ich habe immer noch nicht realisiert, dass ich jetzt Zeit genug habe, um Dinge zu tun, die vielleicht wichtig sind: Familie zu Weihnachten planen, Wohnungsputz, Akten sortieren. Ist es bei Euch auch so, dass es mehrere Tage dauert, bis Ihr merkt "Ach ja, es sind ja Ferien!", oder geht das bei Euch sehr fix? Leergefegte Straßen in der Innenstadt dank Lockdown helfen nicht, meinem Gehirn zu verklickern, dass jetzt "gedankenfrei" sein darf.

Immerhin komme ich jetzt bei der Erkenntnis an, mache mich an das Bearbeiten von Mails, Schüler mit Material versorgen, Tagesstruktur zulegen. Ich habe alle Zeit der Welt, niemand hetzt mich, warum soll ich mich also weiterhin verhalten, als wäre ich verkrampft und müsste auf eine "Idealsituation" warten? Die große Buba rollt bereits regelmäßig träschtrüllerig hier hinauf in die Weltraumbasis, das ist ein guter Ausgangspunkt für ein Tageskonzept.

Nebenher lese ich weiterhin Das Aspergersyndrom im Erwachsenenalter von Ludger Tebartz van Elst. Es ist, als ob dieser Mensch (bzw. all' die Autoren, die zu diesem Sammelband beigetragen haben), der mich überhaupt nicht kennt, meine Lebenssituation beschreibt. Das macht Mut, denn es werden zwar die Schwierigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt genannt, aber es gibt auch viele Lösungsvorschläge, Adressen, an die man sich wenden kann und positive Perspektiven. Ich habe auch schon jemanden im Kopf, dem ich das Buch vielleicht empfehlen werde - es hilft wirklich.

So, und nun muss ich daran denken, die Berliner-Bestellung für Silvester unten in der Bäckerei abzugeben. Das wird zu einer Tradition hier in der Kieler Wohnung, ich fühle mich zuhause. Ich hoffe, Ihr könnt Euch zurzeit auch wohlfühlen - genießt die Feiertage und bleibt gesund!

Mittwoch, 16. Dezember 2020

Bester letzter Schultag EVAR!


Herzlich willkommen im Lockdown v2.0 - ich hoffe, Ihr bleibt alle gesund und munter. Gestern hatte ich meinen letzten Schultag, sehr spärlich, weil nur noch zwei Jahrgänge in der Schule waren und der Unterricht freiwillig. Also habe ich mir ein paar Sachen eingepackt, bin in die Schule gefahren und hatte tatsächlich nur vier Jungs aus einer meiner Klassen dort. Insgeheim hatte ich gehofft, dass genau diese vier Jungs dort sind, denn mein Unterrichtsprogramm für eine Doppelstunde Englisch war - Heteronormativität pur - genau auf Jungen in diesem Alter zugeschnitten.

Ich habe darüber schon einmal geschrieben - The Warlock of Firetop Mountain - also lasse ich die Spieledetails außen vor und erzähle von dem Erlebnis.

Vier Schüler, das ist die perfekte Teilnehmerzahl dafür: Einer bekommt zwei Würfel, um die Monsterkämpfe auszuwürfeln. Einer bekommt die Abenteuerwürfel, um z.B. bei Fallen und Herausforderungen Skill und Luck auszuwürfeln. Einer geht an die Tafel und verwaltet das Inventar und den "Kampfbildschirm", einer geht an die Tafel und verwaltet die Karte. Im Hintergrund nette Musik - diesmal gab es Saurian Exorcisms (2009) von Karl Sanders, zwar ägyptisch gefärbt, aber trotzdem ein tolles Ambiente für das Abenteuer im flammenden Berg.


Am Anfang etwas ungewöhnlich für die Kiddies, die das Spieleformat nur so ansatzweise kannten - aber immerhin, zwei von ihnen kannten schon Rollenspiele, kannten schon Begriffe wie "skill", "sword", "inventory" und weiteres. Ich habe den Spielleiter übernommen und ihnen die Geschichte aus dem Buch vorgelesen; auf Englisch, aber dabei stark vereinfacht für eine Orientierungsstufe und mit viel Pantomime. Das war im Nachhinein eine großartige Idee, denn nach einer Weile sind die Jungs in das Theater mit eingestiegen: Einer hat die Handlungen unseres Helden nachgespielt, einer hat die Monsterkämpfe richtig toll in Szene gesetzt. Da zahlt sich aus, dass die jüngeren Schüler noch eine sehr blühende Fantasie haben und sich gut in das Abenteuer hineinversetzen können. Und dadurch, dass es kein Videospiel ist, das ihnen die genaue Ausgestaltung der Höhlen und Räume vorgibt, können sie sich da frei entfalten, ganz ohne Handy und Technik.

Dann haben die Jungs vorgeschlagen, dass wir den Raum abdunkeln sollten, immerhin befinden wir uns in einer düsteren Höhle - gesagt, getan, und plötzlich ist die Zeit aus dem Bewusstsein komplett verschwunden, war schon schwierig genug, noch an das regelmäßige Lüften zu denken. Aber es war ein tolles Erlebnis, das wir hoffentlich irgendwann zu Ende führen können!

Sonntag, 13. Dezember 2020

Asperger im Erwachsenenalter


Ich dachte erst, nach drei Büchern hätte ich genug über das Asperger-Syndrom gelernt - aber wie es auch generell im Leben gilt: Man hat nie ausgelernt; somit hat ein neues Fachbuch seinen Weg in mein Leben gefunden, diesmal aus Deutschland, eine Sammlung von Essays und Untersuchungen, die sich alle mit einem für mich relevanten Thema beschäftigen. Die Quelle für alle folgenden Zitate ist

Tebartz van Elst, Ludger (Hrsg.): Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter, Berlin 2016.

...Es sollte immer dann differenzialdiagnostisch an ein Asperger-Syndrom gedacht werden, wenn Patienten mit atypischen Präsentationen von affektiven Störungen, psychosenahen Phänomenen, Zwangssyndromen, Essstörungen oder Anpassungsstörungen vorstellig werden. (...) Hinter dem unklaren und seltsamen Fall verbirgt sich nicht selten als entscheidende Erklärung für seltsame Interaktionsmuster und schwer zu verstehende Verhaltensweisen ein bis dahin undiagnostiziertes Asperger-Syndrom. Das Erkennen der richtigen Diagnose in solchen Konstellationen ist deshalb wichtig, weil schon diese Erkenntnis an sich für Patienten wie für Bezugspersonen oft eine wichtige psychotherapeutische Intervention darstellt. Denn indem sie das von den Patienten selbst und ihren Angehörigen schon immer erlebte Anders-Sein schlüssig erklären kann, nimmt sie oft für alle Beteiligten einen großen Anteil des interpersonellen Drucks und kann so eine Entlastung herbeiführen, die Raum für neue Problemlösungsansätze schafft. (...)

Im Erwachsenenalter müssen zwei Konstellationen unterschieden werden:

Bei der ersten wird ein Patient mit bereits diagnostiziertem Autismus vorstellig. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um den erwachsen gewordenen Patienten aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dann bereitet die Diagnose keine Probleme und die Betroffenen selbst sind ebenso wie ihre Angehörigen und Bezugspersonen meist mit den Besonderheiten einer [Autismus-Spektrums-Störung] ASS vertraut.

Anders stellt sich die Situation allerdings dar, wenn Menschen mit Asperger-Syndrom und hochfunktionalen ASS ihr Leben bis ins Erwachsenenalter gemeistert haben, ohne dass es zu Kontakten zum ärztlich-therapeutischen Hilfesystem gekommen ist. Denn die Tatsache, dass die betroffenen Personen trotz überzeugendem und stabilem Vorhandensein der Kerneigenschaften einer ASS ihr Leben bis ins Erwachsenenalter ohne größere psychosoziale Krisen meistern konnten, weist entweder auf einen geringeren Schweregrad der Symptome hin oder aber auf große Kompensationsressourcen wie z.B. eine hohe Intelligenz und gute kognitive Fähigkeiten, die geholfen haben, Umgehungsstrategien zu entwickeln, eine hohe Akzeptanz in Familie, Schule, Umfeld und Beruf und eher fehlende psychiatrische Komorbiditäten wie etwa eine ADHS oder Depressionen. (...)

Menschen mit hochfunktionalem Autismus, die sich erst im Erwachsenenalter beim Arzt vorstellen

- haben oft eine weniger schwer ausgeprägte Symptomatik

- verfügen oft über eine hohe Intelligenz und gute kognitive Kompensationsstrategien

- verfügen oft über ein gut strukturiertes Netzwerk an sozialer Unterstützung (Familie, soziales Umfeld, Schule, Beruf etc.)

- können dennoch wegen der ASS-Basisstörung in Beziehungen, Partnerschaft und Beruf komplett scheitern

(...) In diesem Zusammenhang ist es interessant, auf die Rolle der Schule als möglichen Belastungsfaktor für Menschen mit ASS zu reflektieren. Intuitiv könnte zunächst davon ausgegangen werden, dass die Schule für Menschen mit ASS in erster Linie einen Belastungsfaktor darstellt. Denn man bewegt sich permanent in der sozialen Gruppe der Klassengemeinschaft und ein Großteil der schulischen Beschäftigung findet in Gruppen statt.

Gerade für Menschen mit hochfunktionalem ASS stellt die Schule nach klinischer Erfahrung aber auch einen stabilisierenden Faktor dar. Denn sie ist geprägt durch Routinen und eine ausgesprochene Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit der alltäglichen Abläufe. Dies kommt dem Bedürfnis Betroffener nach erwartungsgemäßen Tagesabläufen sehr entgegen. Es gibt wenige Zeiten im Leben, in denen man schon im Frühjahr weiß, was Mitte November mittwochs vormittags auf der Agenda steht. Gerade dies aber ist während der Schulzeit der Fall. Die schulischen Jahre - und bedingt auch noch die Universität zumindest sofern ein verschultes Studienfach gewählt wird - gehören zu den geregeltsten Zeiten im Leben vieler Menschen. Und gerade dies kommt dem Stärke-Schwäche-Profil von Menschen mit ASS entgegen.

Zudem wird in den Schulen viel wert auf rein kognitive Leistungen gelegt. Trotz steigender Anforderungen im Sinne der sozialen Kognition (vermehrte Gruppenarbeit etc.) stehen in den meisten Schulen nach wie vor Wissenserwerb sowie mathematisch-technische Fertigkeiten im Zentrum des Erziehungsziels. Und gerade in diesem Bereichen tun sich viele hochfunktionale Autisten sehr leicht, sodass sie über gute Schulnoten ihr Selbstwertgefühl weiter stabilisieren können. Vor allem dann, wenn das Klima in den Klassengemeinschaften geprägt ist von Akzeptanz und Toleranz und individuelle Eigenheiten und Schrulligkeiten hingenommen werden, kann die Schulzeit für hochfunktionale Autisten eine gute Zeit sein. Allenfalls die großen Pausen, in denen man in der Peer-Group herumhängt und "quatscht" wird dann oft als Belastung erlebt, für die sich aber rasch Umgehungsstrategien finden (z.B. in der Bibliothek Bücher lesen). (...)

Plakativ ausgedrückt könnte die Atypizität als ein zentrales Präsentationskriterium des Asperger-Syndroms im Erwachsenenalter angeführt werden. Hochfunktional autistische Menschen werden meist seit Kindheit von anderen Menschen als anders erlebt und erleben sich selber auch meist als "anders als die anderen". Diese Andersartigkeit ist vor allem in den Schwierigkeiten der sozialen Wahrnehmung und sozialen Kompetenz sowie dem extremen Bedürfnis nach erwartungsgemäß geregelten Abläufen und Routinen des Alltagslebens begründet. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten in kommunikativen Situationen sowie die extreme Unflexibilität der betroffenen Menschen ist für die anderen (oder die Neurotypischen, wie die nicht-betroffenen Menschen von manchen Betroffenen genannt werden) meist schwer nachvollziehbar, einfühlbar und damit kaum verstehbar. Dies kann ein Grund für zahlreiche Konflikte am Arbeitsplatz oder in privaten Beziehungen sein, die nicht selten ihren Kern in fundamentalen Missverständnissen und Deutungsfehlern des Verhaltens betroffener Menschen mit einem Asperger-Syndroms haben.

Dementsprechend präsentieren sich erwachsene Menschen mit bis dato nicht diagnostiziertem Asperger-Syndrom häufig in Zusammenhang mit schweren psychosozialen Konflikten beim Erwachsenenpsychiater. Häufig werden dann zunächst die Diagnosen einer Belastungsreaktion, einer Anpassungsstörung, eines Burn-out-Syndroms, einer atypischen Depression oder einer nicht selten kombinierten Persönlichkeitsstörung gestellt. Begleitende psychische Auffälligkeiten wie etwa ein sonderbares Essverhalten, seltsame zwangsähnliche Phänomene oder Besonderheiten der Wahrnehmung führen oft zu Diagnosen wie atypischen Zwangsstörungen, atypischen Psychosen oder atypischen Essstörungen. In der Beurteilung durch den Arzt ist es das Sonderbare, Komplexe, Unklare und schwer Verstehbare, also insgesamt gerade das Atypische, was typisch ist für einen erwachsenen Menschen, der sich erstmalig mit einem Asperger-Syndrom vorstellt. (...)

Die hohe Intelligenz und die guten Kompensationsstrategien haben es den Betroffenen meist ein Leben lang ermöglicht, teilweise sehr kreative und originelle Umgehungsstrategien für ihre Schwächen in der sozialen Kognition zu finden und umzusetzen. Dementsprechend sind gerade Erwachsene, die sich erstmalig mit einem Asperger-Syndrom präsentieren, beruflich aufgrund ihrer hohen Intelligenz gelegentlich recht erfolgreich. Letztendlich sind es in dieser für die Erwachsenenpsychiatrie klassischen Konstellation meist die aus den Eigenheiten der Betroffenen resultierenden psychosozialen Konflikte, welche über eine Belastungsreaktion, ein depressives oder ein sozial-phobisches Syndrom zur Vorstellung beim Arzt führen. (...)

Erwachsene mit Asperger-Syndrom fallen meist sowohl durch ungewöhnliche zwischenmenschliche Verhaltensmuster als auch durch ein oft seltsames Sprachverhalten auf. Es fällt ihnen oft extrem schwer, zwanglose Beziehungen aufzubauen und alltägliche Small-Talk-Situationen zu beherrschen. Auch die Sprache kann seltsam monoton, wenig moduliert und eintönig klingen. Häufig ist auch das Blickverhalten auffällig und durch ein vermeiden des Blickkontakts oder einen starren, wenig modulierten Blick gekennzeichnet. (...)

Betroffenen Menschen fällt es oft ausgesprochen schwer, soziale Signale anderer Menschen zu entziffern. So kann die Bedeutung des emotionalen Gehalts von Gesichtsausdrücken oft kaum entschlüsselt werden. Das Betrachten von wütenden, fröhlichen, traurigen oder angeekelten Gesichtsausdrücken führt also nicht wie bei den meisten Menschen zu einem spontanen und unreflektierten Mitschwingen, sondern wird synthetisch bzw. spontan gar nicht wahrgenommen.

Ähnliches gilt für die Wahrnehmung der Sprachmelodie bzw. der Prosodie. Stimmen werden also spontan nicht als gelangweilt, ängstlich, drohend oder ironisch wahrgenommen, sondern das Gehörte konzentriert sich auf das wörtlich Gesagte. Dementsprechend stellen Situationen, in denen die komplexe und spontane Wahrnehmung von emotionalen Inhalten eine große Rolle spielt (Small Talk auf Partys, Ironie, Zweideutigkeiten, Witze etc.), Menschen mit Asperger-Syndrom oft vor extreme Schwierigkeiten. Immer wieder kommt es hier zu Missverständnissen, mehrdeutige oder ironische Aussagen werden wörtlich genommen oder verwirren, sodass sich die Patienten aus der Situation zurückziehen. Zwar können viele Betroffene aufgrund ihrer hohen Intelligenz lernen, analytisch die Bedeutung von traurigen oder wütenden Gesichtern zu entziffern, jedoch stellt dies erhebliche Anforderungen an die Aufmerksamkeit und Konzentration in den entsprechenden Situationen, da die analytische Dekodierung emotionaler Informationsweitergabe sehr viel Zeit kostet und die Betroffenen dadurch oft deutlich verlangsamt sind. (...)

Die vielleicht markanteste Eigenschaft hochfunktionaler Autisten ist das extreme Bedürfnis nach erwartungsgemäßen Tagesabläufen und Verhaltensroutinen. Jeder Tag beginnt und endet mit bestimmten ritualen, das Aufstehen am Morgen, Waschen und Ankleiden erfolgt nach bestimmten und genau festgelegten Reihenfolgen und auch der Tagesablauf ist streng definierten Abläufen unterworfen. Auch die Arbeitsabläufe sind oft stereotyp auf die immer gleiche Art und Weise organisiert und ebenso endet der Tag häufig nach einem streng reglementierten Ritual. Werden diese Stereotypien und Rituale von Außen gestört, führt dies bei den Betroffenen zu extremen Überforderungsgefühlen, Anspannung und Frustrationen, die sich nicht selten in Form von Wutausbrüchen Luft macht. Gerade diese Rituale und die damit verbundenen Wutausbrüche sind oft Gegenstand intensiver zwischenmenschlicher Konflikte sowohl am Arbeitsplatz als auch im privaten Rahmen, da die nicht-betroffenen Menschen nicht nachvollziehen können, wieso ihre Partner oder Kollegen so unflexibel sind und sich anscheinend wegen irgendwelcher Kleinigkeiten so stark aufregen können. Auch wenn diese Symptomatik gelegentlich an Zwangsstörungen erinnern kann, so fehlt doch die typische Angst-Zwangs-Dynamik der primären Zwangsstörung, d.h. mit den zwangsähnlichen Routinen und Stereotypien werden nicht wie bei klassischen Zwangshandlungen irrationale Ängste abgewehrt und sie werden dementsprechend auch nicht als Ich-dyston erlebt wie bei der klassischen Zwangsstörung. Stereotypien und Routinen finden sich bei Betroffenen nicht selten auch im Zusammenhang mit dem Essverhalten und was das eigene Gewichtsideal anbelangt, weshalb gelegentlich auch atypische Essstörungen bei Menschen mit Asperger-Syndrom diagnostiziert werden. (...)

Die Aufmerksamkeitssteuerung bei Menschen mit Asperger-Syndrom kann an eine ADHS erinnern. Einer ausgeprägten Fähigkeit zur Hyperfokussierung auf bestimmte interessierende Themen kann eine nicht weniger starke Unaufmerksamkeit bei nicht-interessierenden Themenbereichen entgegenstehen. Möglicherweise verbunden mit der Möglichkeit zur Hyperfokussierung und der Tendenz zu stereotypischen Verhaltensweisen entwickeln manche Menschen mit Asperger-Syndrom in Teilbereichen ausgeprägte Sonderbegabungen. Diese bewegen sich meist im perzeptiven, gestalterischen oder mathematischen Bereich. Aber auch im sprachlichen Bereich können Autisten außergewöhnliche Leistungen vollbringen (Erlernen vieler Sprachen, schriftstellerische und dichterische Leistungen), wobei hier selten der kommunikativ-pragmatische Aspekt von Sprache subjektiv im Zentrum der Faszination steht sondern eher der systematische (Faszination einer Sprachstruktur und Grammatik) oder der konstruktive Aspekt (Kreierung von Sonder- und Eigensprachen, Ästhetik, Dichtung etc.). Auch das Sammeln großer Mengen von enzyklopädischen Wissensinhalten fasziniert viele Menschen mit Asperger-Eigenschaften sehr, ohne dass dabei die pragmatische und anwendungsorientierte Seite dieses Wissenserwerbs subjektiv im Zentrum steht. (...)

Ein Eigenschaftsbereich, der bei vielen Menschen mit Asperger-Syndrom auffällig ist, aber noch nicht zu den offiziellen Definitionskriterien zählt (außer beim DSM-5), ist die perzeptive Wahrnehmung. Hier berichten viele Betroffene von einer extremen Empfindlichkeit im Hinblick auf eine akustische, visuelle, taktile oder olfaktorische Reizüberflutung. Quietschende oder schrille Geräusche, starke Gerüche oder grelle Farben können gelegentlich als extrem unangenehm empfunden werden. Dies gilt auch für Berührungen durch andere Menschen. Dementsprechend meiden Betroffene Situationen, in denen sie mit solchen Sinneseindrücken konfrontiert werden (U-Bahn, Menschenmengen, Einkaufszentren etc.) und führen oft ein eher zurückgezogenes Leben. (...)

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich bei dem Asperger-Syndrom und den hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen um eine Entwicklungsstörung mit stabiler Symptomatik handelt, die sich gerade bei geringerer Ausprägung sowie hoher Intelligenz und guter Kompensationsbedingungen nicht selten erst im Erwachsenenalter erstmanifestiert. Das klinische Bild ist insbesondere durch Defizite der sozialen Wahrnehmung und Kompetenz, Stereotypien und Verhaltensroutinen, Sonderbegabungen und Sonderinteressen definiert. Ferner finden sich häufig Besonderheiten der perzeptiven Wahrnehmung, ein schlechter Augenkontakt und Probleme im Bereich der Feinmotorik und Koordination. Gerade im Erwachsenenalter resultieren aus den Kerndefiziten oft erhebliche zwischenmenschliche und interaktive Probleme, die dann Anlass der Vorstellung beim Arzt oder Psychotherapeuten sind. In diesem Zusammenhang ist oft schon allein die korrekte Diagnosestellung sehr hilfreich, weil sie hilft, Fehlinterpretationen von Verhaltensauffälligkeiten zu vermeiden, und so die Selbst- und Fremdakzeptanz fördert. Bei eigenartigen und sonderbar anmutenden Menschen mit komplexen psychosozialen Problemen und atypischen affektiven Symptomen, Zwangssymptomen und Anspannungszuständen sollte differenzialdiagnostisch an eine hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störung gedacht werden.

(S.27-35)

Freitag, 11. Dezember 2020

Play it again, SAM!


Corona verschafft mir mehr Zeit zuhause, und so verschaffe ich mir mehr Zeit zum Schreiben - heute über eine aufregende Story. 

Gute Science Fiction-Geschichten bringen mich zum Staunen. Sie erfüllen mich mit Ehrfurcht, sie machen mir Angst. Mir bleibt der Mund offen stehen, ich fühle mich bereichert. Im Englischen gibt es das großartige Wort exhilarating dafür. Am Ende einer solchen Geschichte bin ich aufgeregt, würde am liebsten wissen, wie es weitergeht, habe genügend Denkimpulse, mir die weitere Handlung im Kopf auszumalen. Ich bin inspiriert.

2001: A Space Odyssee (1968) ist ein klassisches Beispiel dafür, oder auch Arrival (2016) oder der Roman The Invasion of the Body Snatchers von Jack Finney, der nicht ohne Grund bisher viermal verfilmt worden ist. Solche aufregenden, spannenden Geschichten finden wir in diversen Medien wieder: Auf der Playstation bietet The T.A.L.O.S. Principle eine tolle Story getragen von vielen herausfordernden Rätseln - und im vergangenen Jahr ist ein neues Spiel hinzugekommen, das die Grenzen zwischen Videospiel und Film mal wieder verschwimmen lässt.

Observation (2019) handelt von einer Astronautin Emma Fisher, die nach einem Blackout auf der namengebenden Weltraumstation im Orbit über der Erde erwacht - der Spieler schlüpft allerdings nicht in die Rolle eben jener Astronautin, sondern in die des Betriebssystems der Station Systems, Administrations & Maintenance, oder einfach SAM. SAM und Emma versuchen nach diesem Blackout herauszufinden, warum genau sie auf dieser Station sind, was die Mission ist, wo die anderen Besatzungsmitglieder sind.

Für einen Aspi-Nerd ist es total toll, eine künstliche Intelligenz spielen zu können, die logisch denkt und handelt - aber auch für andere Spieler dürfte dieses Spiel ein kleines Meisterwerk darstellen - sei es nun die Regie der spannenden Szenen, sei es die klassische SciFi-Musik oder das Unbekannte, was einem in Form eines Sechsecks begegnet. Das macht neugierig.

Das Spiel ist in vier bis sechs Stunden durchgespielt, und das ist auch gut so: Die Story ist straff, die Rätsel behindern die Progression nicht, man hat nie das Gefühl, festzuhängen. An mehreren Stellen wird es wirklich unheimlich, aber in einem positiven, aufregenden Sinn, man möchte wissen, wie es weitergeht - und am Ende der Geschichte möchte man applaudieren, weil die Schlussszene besser nicht hätte gemacht werden können.

Hey die große Buba, falls Du das liest: Ich habe das Spiel jetzt zum zweiten Mal gespielt. Das zeigt mir, dass es nicht langweilig wird, sondern dass es immer wieder ein Erlebnis ist. Wenn wir in den Ferien zwei Abende dafür finden könnten, verspreche ich Dir ein kleines Kunstwerk, das nachwirkt. Schon die Titelsequenz mit Musik eines Nine Inch Nails-Mitglieds zeigt, dass da etwas Aufregendes wartet.

"BRING HER!"



Mittwoch, 9. Dezember 2020

Geisterschule


Als ich heute nach meinem Unterricht auf den Bus wartete, wunderten sich andere Wartende, dass es so leise sei. Gruselig. Still. Wer an einer Gemeinschaftsschule unterrichtet, weiß, dass es dort keine Stille gibt - aber wir sind in Zeiten von Corona gelandet. Fast rien ne va plus, wenn beinahe das halbe Kollegium fehlt und fast alle Jahrgänge in's Distanzlernen geschickt werden.

Die Atmosphäre an der Schule ist wirklich etwas gruselig. Immerhin sind die lüttesten Kiddies noch da und sorgen für Action in den Pausen, aber ansonsten könnte die Schule Schauplatz für einen Horrorfilm sein. Ich komme mit der Situation überhaupt nicht klar, weil ich nichts planen kann. Ich komme in neue Klassen zur Vertretung, ich weiß heute nicht, wie nächste Woche aussieht, das ist ein Hangeln von einer Stunde zur nächsten und das ist für einen Aspi echter Horror. 

Zum Glück sind es nur noch anderthalb Wochen.

Bleibt gesund!

Sonntag, 6. Dezember 2020

Enhanced Classroom

Anders sehen, anders riechen, anders erleben, anders merken.

Enhanced classroom
 bedeutet in etwa soviel wie erweiterter oder bereicherter Unterricht. Unterricht mit einem gewissen Extra. Schönes Beispiel zur Veranschaulichung des Begriffs "enhanced": Es ist bekannt, dass die USA Gefangene foltern, um Informationen aus ihnen herauszupressen. Sie nennen es allerdings nicht Folter - torture - sondern Enhanced Interrogation Techniques/Methods. Das ist ein klassischer Euphemismus.

Hier geht es aber um etwas Positives. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder gelesen, wie die richtige Atmosphäre das Lernen für Schüler erleichtern kann, und darüber hinaus, wie das Gehirn eine bestimmte Atmosphäre mit einem bestimmten Lerninhalt verknüpfen kann. Ein konkretes Beispiel: Ich führe in einer Lerngruppe ein neues Thema ein, die if-clauses. Dafür nehme ich mir eine Doppelstunde Zeit und lasse die Schüler ihre Handys vorn am Pult ablegen. Ich brauche ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich erkläre ihnen die Grammatik, sie schreiben mit, bearbeiten Aufgaben, Lernzielkontrolle, alles paletti.

Was die Schüler nicht wissen: Ich habe vor der Stunde das Klassenzimmer mit Sandelholz-Räucherstäbchen ganz leicht "beduftet". Sie haben es wahrgenommen ("Oh, das riecht hier total schön, waren sie das?"), aber damit ist die Sache für sie abgehakt. Ihr Unterbewusstsein verknüpft Sandelholzduft mit den Regeln zur Bildung der If-Sätze und speichert das ab. Drei Wochen später steht die Klassenarbeit an. Wieder setze ich den Sandelholzduft ein; die Schülerhirne erinnern sich an den Duft und es fällt ihnen leichter, sich die Grammatikregeln wieder vor Augen zu führen. Positiver Lerneffekt.

Wir kennen das aus unseren eigenen Erlebnissen: Wenn ich eine Tüte Badesalz öffne und daran schnuppere, schießt mir sofort ein Bild von vor über zehn Jahren in den Kopf; ich stehe mit ein paar Kommilitonen und Prof. Dr. Josef Wiesehöfer in Griechenland am Strand von Methoni, der Wind braust uns um die Ohren und bläst uns das Meersalz in's Gesicht. Es funktioniert jedesmal wieder, wenn ich diese Badesalztüten öffne.

Wenn sich herausstellen sollte, dass ich an der Toni bleiben kann, möchte ich dieses Experiment irgendwann selbst einmal durchführen. Im Referendariat habe ich schon eine ähnliche Erfahrung gemacht, indem ich Schwarzlicht eingesetzt habe. Wenn es den Kindern helfen kann, komplexe Inhalte besser zu merken, dann wäre das doch toll - oder?

post scriptum: Danke an die große Buba - ihr Satz "Herbst ist genau die richtige Zeit für eine gothic horror story" hat mich daran erinnert, wie eine unterschiedliche Atmosphäre ein unterschiedliches Erleben ein und derselben Sache bewirken kann.

Freitag, 4. Dezember 2020

Patschuli

Blau und Patschuli - tolle Kombination

Auf meiner Suche nach den besten Entspannungstechniken hat sich ein neuer Duft in meine Sammlung von Räucherwaren eingeschlichen. Dabei ist mir der Name Patschuli nicht neu; ich habe in meiner Kindheit den Roman Rosa Riedl, Schutzgespenst (1979) von Christine Nöstlinger mehrfach verschlungen, und jene namensgebende Rosa Riedl ist zwar tot, liebt aber immer noch den Duft von Patschuli, während die junge Nasti ihn grausig findet, wie Mottenkugeln. Das hat sich in mein Hirn eingebrannt, als Wörter - ich habe nie getestet, wie Patschuli eigentlich riecht.

Dann kam die geniale Doku Woodstock (1970) und ich war fasziniert, von der Musik, den Menschen, allem, was da so passiert ist, und der Patschuli scheint ein richtiger Hippie-Duft zu sein. Also habe ich mir mal Räucherstäbchen bestellt - und wie so oft, wenn ich eine ganz neue Sorte kennen lerne: Viel zu intensiv, gleich irgendwo in das Regal gestopft. Mittlerweile habe ich mich etwas herangetastet und ich muss sagen, der Duft ist wunderbar zum Entspannen! Nicht ohne Grund gibt es ein Kneipp-Bad Tiefenentspannung mit dem Duft von Patschuli und Sandelholz - und dazu noch tiefblauer Farbe für das Wasser, mal wieder für alle Sinne.

Ich bin nicht immer in der Stimmung für Patschuli, oft sind es noch die holzigen Düfte, die ich gerne mag, das frische Adlerholz steht nach wie vor auf Platz Eins bei mir, aber ich habe einen tolle neue Ergänzung für das Heimkonzept bekommen.

Mittwoch, 2. Dezember 2020

Zusammen

 


"Bleibt gesund, und den Rest wuppen wir wie immer zusammen."

So endete eine heutige Dienstmail an das Kollegium. Ich war von diesem Satz total fasziniert, weil ich ihn im Schulkontext vorher noch nie gehört habe. Sieben Schulen, neun Jahre Schuldienst, und nicht ein Mal hat jemand auf einer Funktionsstelle sich die Mühe gemacht, zu betonen, dass wir das alles zusammen meistern. Und dann auch noch "wie immer"!

Ich finde das absolut großartig, weil diese Zeile den Gemeinschaftsschulgeist verkörpert, und genau dadurch grenzen sich eben auch andere Schulformen von uns ab. Da steckt drin, dass wir alle momentan mit der wackeligen Coronasituation zu kämpfen haben, darunter leidet nicht nur der Aspi, das betrifft alle. Und irgendwie versuchen wir alle, das Schiff zu schaukeln. Und man muss niemandem persönliche Vorwürfe machen, wenn etwas nicht läuft - das habe ich an zwei, drei Schulen schon ganz anders erlebt. 

Das war's auch schon - musste gerade sein.

Dienstag, 1. Dezember 2020

Zwischen Transparenz und Panikmache


Dieser Tage möchte ich kein Schulleiter sein. Was ist, wenn an meiner Schule ein Corona-Fall auftritt? Sollte man der gesamten Schulgemeinschaft genau die betroffenen Personen mitteilen, Namen und so weiter? Oder sollte man mit seinen Verkündigungen lieber etwas schwammig bleiben a la "Der neunte Jahrgang bleibt zehn Tage zuhause"? 

Die einen sagen, dass wir dringend die Transparenz brauchen: Wenn ein Schulmitglied sich infiziert hat, müssen alle darüber Bescheid wissen, damit man Kontakte nachverfolgen kann und ein unkontrolliertes Ausbreiten verhindert. Die anderen sagen, dass man dann allerdings Panik auslösen könnte, wenn man sagt "Sieglinde Detlef hat sich infiziert" - vielleicht, weil das Coronavirus, das bis dato nur durch die Nachrichten geschwoben ist, auf einmal greifbar wird? (Der Aspi erzählt natürlich wieder alles jedem weiter.)

Ich hoffe, dass Eure Schulen verschont bleiben, passt auf Euch auf, denkt an AHA und L und was es noch so im Alphabet gibt. Wird nicht weniger...

Mittwoch, 25. November 2020

Nicht mehr auf der Flucht!


Seitdem ich die Nordseeschule in St.Peter-Ording verlassen habe, bin ich nur noch vor allem weggelaufen, weil an dem Punkt die Sicherheit in meinem Leben verschwunden ist. Ich habe mich in Videospiel- und Filmwelten geflüchtet, jegliche freie Minute, oder in's Bett. Hauptsache wegkommen von dem Thema Schule, mit dem ich von da an nur noch Panik verbunden habe. Unsicherheit. Das Gefühl, falsch zu sein. 

Wenn ich in die Schule gegangen bin, wollte ich nach dem Unterricht so schnell wie möglich wieder weg, keine unnötige Minute dort verbringen. Wenn ich hingefahren bin, war ich auf die Minute genau, bloß nicht zu früh dort ankommen. Ich habe mir angewöhnt, mit gesenktem Kopf durch die Schulen zu laufen, in der Hoffnung, dass mich niemand anspricht. Kontakt mit Kollegen oder Schülern wurde zu einer Probe - mache ich es richtig? Oder wieder falsch und werde bestraft? Ganz so wie früher, Gefühl Dauerprüfstand.

Die Leitfrage jeden Tag war, wie ich am besten den Dienst überstehe. Mit Spaß und Genuss am Lehrerdasein hatte das nicht mehr viel zu tun. Der Unterricht war sozusagen nur ein Hindernis auf dem Weg, wieder zuhause zu sein und weiter vor der eigenen Verantwortung wegzulaufen. Ich habe mir eingeredet, dass ich mich nur in meiner Wohnung wohlfühlen kann. Ich fühle mich hier wohl, klar, aber das "nur"... für einen Aspi unter Stress kann das heißen, dass er sich jedesmal, wenn er seine Wohnung verlässt, in eine Gefahrenzone begibt und eben nicht mehr wohlfühlt. 

Aspis sind gut darin, sich in ihre Kopfkonzepte zu vermauern. Und ganz schlecht darin, sie wieder aufzubrechen. Es hat mehrere Jahre gedauert, um das hier zu realisieren - um mir wirklich bewusst zu werden... dass ich mich eben auch außerhalb meiner Wohnung wohlfühlen darf. Dass ich Dinge vielleicht sogar manchmal richtig mache. Dass ich gern unterrichte. Dass ich eben nicht immer so schnell wie möglich zuhause sein muss. Dass der Aufenthalt in der Schule Spaß macht, weil ich dort Menschen wiedersehe, die mir etwas bedeuten. Dass ich gern unter Menschen bin.

Dieser Schalter wird nur sehr langsam umgelegt, aber der Prozess ist im Gange. Ich finde nach und nach zurück zu einer Sicht vom Leben, die mir in den letzten Jahren abhanden gekommen ist. Ein gutes Zeichen: Auch eine Reise von zehntausend Meilen beginnt immer mit dem ersten Schritt. 

Und ich bin nicht mehr auf der Flucht.

Dienstag, 24. November 2020

Elektrisierte Heimfahrt


Kiel hat seinen ersten Elektrobus. Hybridbusse, die großen weißen, gibt es schon eine Weile länger, aber dieser hier fährt ausschließlich mit Strom und hat auch den dementsprechenden Hinweis Elektrobus #0001 aufgedruckt. Man merkt, dass wir im Probebetrieb sind; der Bus ist größer als die anderen weißen Busse, weil auf dem Dach Stromabnehmer angebracht sind. Dieser Anblick hat bei mir Gedankenzüge abfahren lassen.

Ich denke darüber nach, wie toll es doch sein könnte. Eine quasi autofreie Stadt. Naja, und wenn wir nicht ganz so weit gehen können, dann immerhin... nein. Lass' mich träumen. Es wäre so viel entspannter! Weniger Unfälle, CO²-Neutralität, das Bild von einem richtig gut funktionierenden ÖPNV in Kiel passt, vielleicht mit Stromtrassen, an denen die Elektrobusse oder die Stadtbahn entlang fahren... sehen zwar nicht toll aus, aber geschenkt, es geht nicht um Ästhetik, sondern um Pragmatik, ach, und ganz nebenbei geht es um unsere Welt.

Ich werde die Klimakatastrophe nicht mehr miterleben, könnte mich also wie im Speck fühlen, scheiß auf die Menschen, die nach mir kommen. Aber so langsam werde ich etwas grüner. So langsam bedeutet mir unser Planet dann doch etwas. Ob es das Alter ist? Oder so grandiose - und herzzerreißende - Dokumentationen wie Chasing Coral (2017), bei der ich tatsächlich Tränen in den Augen hatte? Oder weil ich endlich eine Stadtbahn in Kiel haben möchte?

Oder vielleicht reicht eben auch schon der Anblick eines Elektrobusses als Impuls, das eigene Verhalten einmal zu überdenken.

Montag, 23. November 2020

Schule bei McDoof

Käwiehn, raus aus der Pommessauce!

Ich weiß zur Zeit gar nicht, was ich schreiben soll. Trump ist ein alter Hut - sollte man meinen. Selbst die Republikaner schämen sich nach und nach für ihn. Corona-Leugner? CoViDioten? Auch nix Neues mehr. Die AfD, die Störer in den Bundestag schleust? Überrascht das ernsthaft jemanden? Verlängerung des Teil-Lockdowns - war zu erwarten. Nur die Schulen sollen tapfer geöffnet bleiben, Präsenzunterricht ist ja so unglaublich wichtig.

Und darin liegt die crux, denn er ist wichtig. Nicht nur wegen der Stoffvermittlung, die ist fast geschenkt. Es geht um die Betreuung der Kinder, und um die Möglichkeit der Kinder zu einem Miteinander, zu sozialer Interaktion, denn die kann WhatsApp nur ansatzweise ersetzen.

Halbieren wir doch einfach die Lerngruppen, dann können wir die Sicherheitsauflagen besser einhalten. Und dann kommt aus der Politik der Vorschlag, wir sollten mit den Klassen einfach in die ganzen leerstehenden Räumlichkeiten umziehen, zum Beispiel in die Hotels. Warum nicht gleich in die Restaurants und Fast Food-Ketten? Essen gibt es ja sowieso nur noch außer Haus, da können wir einige der Kinder auch gleich in der Fritteuse, pardon, im Ballpool unterbringen, zusammen mit einem bald arbeitslosen Pommesbaby.

Schön, damit wäre dann die Frage der Räumlichkeiten geklärt - und was ist mit dem Personal? Irgendwie höre ich nichts von zusätzlichen Lehrkräften bisher, vielleicht bin ich aber auch immer noch taub. Mir soll niemand erzählen, es gäbe da draußen keine verfügbaren Lehrkräfte, die auf eine Anstellung warten. Stattdessen werden lieber die Förderstunden für I-Kinder streng weiter reguliert, und auch die Schulbegleitungen werden nur für jede tatsächlich stattgefundene Schulstunde bezahlt, egal, ob man in der Schule war und sich um das Kind gekümmert hat oder nicht.

Ich komme immer noch nicht klar mit dieser Möglichkeit, dass ja jeden Tag etwas Neues in Sachen Corona und Schulalltag kommen könnte. Irgendwie lebe ich gerade sehr von Tag zu Tag, kann noch nichtmal an den nächsten Besuch der Pomsa Träsch-Trüllera denken, im Kühlschrank ist nach wie vor nix zu essen und meine Fingernägel brechen mal wieder.

In diesem Sinne: Kommt gut in die neue Woche!

Mittwoch, 18. November 2020

Bleibt alles anders


Als ich nach Kiel gezogen bin, gab es die Buslinie 12. Genau wie die Linie 11 startete sie in Dietrichsdorf, fuhr dann aber nicht in die Wik hoch, sondern nach Suchsdorf zum Rungholtplatz. Die Linie 12 ist während meines Studiums eingestampft worden, und keiner vermisst sie; stattdessen fährt jetzt die 22 zum Rungholtplatz und die Taktung der 11 wurde erhöht.

Ab dem nächsten Jahr Zwanzig Einundzwanzig wird es aber wieder eine Buslinie 12 geben - und nicht nur die; 13, 14, 15 kommen hinzu, und noch viele weitere, und überhaupt werden sich die Kieler Busverhältnisse im kommenden Jahr sehr deutlich verändern. Grund dafür ist, dass das Kieler Liniennetz jetzt in Stadtverkehr und Regionalverkehr aufgeteilt werden soll. Der Stadtverkehr wird künftig von der KVG bedient, der Regionalverkehr wird von der Autokraft übernommen. Im Zuge werden die Linien 100 und 500 gestrichen. Hier ein paar der wichtigsten Änderungen:

Linie 12 von Strande nach Schulensee (via Eiche)

Linie 13 von Strande nach Schulensee (via Brauner Berg)

Linie 14 von Mettenhof nach Laboe

Linie 15 von Mettehof nach Heikendorf

Linie 45 vom Hauptbahnhof nach Rönne

Linie 740 von Kiel über Altenholz nach Surendorf

Linie 780 von Kiel nach Nortorf (via Flintbek)

Linie 790 von Kiel nach Flintbek

Dazu wird die Taktung einiger Linien weiter erhöht. Kombiniert mit der Erhöhung des Nachtbusverkehrs seit diesem Sommer muss man sagen, dass Kiel sich wieder einmal einen Schritt Richtung Verbesserung des ÖPNV voranbewegt hat. Wir sind zwar noch nicht ganz bei der Stadtbahn angekommen, aber das wird nur eine Frage der Zeit sein, und bis dahin gibt es bald noch mehr Alternativen zum Auto.

Findet so ein Liniennetznerd wie ich natürlich toll! Ich hoffe nur, dass die Kosten für die Monatskarte dadurch nicht irgendwie explodieren. Und ich könnte mir vorstellen, dass mir der Name Fünfhunderteins fehlen wird.

Hier kann man sich das zukünftige Liniennetz ansehen.

Samstag, 14. November 2020

Kindesmissbrauch


Es fällt mir ein bisschen schwer, diesen Artikel zu schreiben, und er wandert schon seit Monaten in meinem Kopf herum - eigentlich schon seit Jahren, seit dem Zeitpunkt, zu dem ich ein Missbrauchsopfer in der Schule unterrichtet habe. Wir stellen uns X vor: Ein Kind in der Orientierungsstufe, in einer ziemlich lebhaften Klasse, man könnte sie auch als herausfordernd oder chaotisch beschreiben. X lässt sich von dem Irrsinn der Mitschüler nicht anstecken, versucht, möglichst cool zu wirken. Egal, was die Anderen machen, das ist eh' alles scheiße. Nichts gefällt X, alles prallt an X ab.

Es ist eine typische I-Lerngruppe, siebzehn Schüler, alles dabei. X hat den Förderstatus Emotionale und Soziale Entwicklung, der in Kiel nicht mehr vergeben wird. X wirkt völlig emotionslos, wobei, eher dauerwütend. Irgendwann fällt mir auf, dass X in einer lustigen Situation kichern muss, aber versucht es krampfhaft zu unterdrücken. Ich strahle X an, versuche zum Lachen zu ermutigen. Ich erfahre erst einige Wochen später, dass das eine für X höchst ungewöhnliche Reaktion war.

Erst dann erfahre ich, dass X von den leiblichen Eltern sexuell missbraucht wurde, dann zu Pflegeeltern gekommen ist und von diesen ebenfalls sexuell missbraucht wurde. In dem Moment vergeht mir der Spaß und mein Gesicht fühlt sich an, als hätte ich eine saure Zitrone ausgelutscht, und mein Körper wird in den Boden gezogen. An dem Tag komme ich nach Hause und fange erstmal an zu weinen - das war mein erster "Live"-Kontakt mit Kindesmissbrauch.

Diese Geschichte ist hier im Blog schon einmal irgendwo gelandet. Diesmal ist sie mir wichtig, weil ich einen Film gesehen habe, der dieses grausige Thema verblüffend gut zugänglich darstellt. Mysterious Skin (2004) von Gregg Araki zeigt die Geschichte zweier Achtjähriger, die von ihrem Trainer sexuell missbraucht werden. Hauptsächlich wendet er sich aber ihren ausgehenden Teenagerjahren zu, um zu zeigen, was dieses Erlebnis mit ihnen angestellt hat: Der Eine hat angefangen, sich zu prostituieren, der Andere ist weggezogen und versucht verzweifelt, die fünf Stunden verlorene Zeit seines Lebens rekonstruieren; er landet bei der Theorie, dass er von Außerirdischen entführt sein muss, die seltsame Experimente mit ihm angestellt haben.

Dieser kindliche Abwehrmechanismus mag eine schützende Funktion haben - das Erlebnis wird nicht aus dem Gedächtnis radiert, aber in einer ganz dunklen Ecke vergraben; viele Missbrauchsopfer berichten von "Zeit, die verloren gegangen ist" - eine Weile, an die sie sich absolut nicht mehr erinnern können. Oft kommt es aber vor, dass in späteren Jahren die Neugier kommt, zusammen mit dem Wunsch, diese unbeantworteten Fragen endlich aufzuklären, und dann ist Aufarbeitung nötig.

In verschiedenen Medien wird das Thema aufgearbeitet, jeweils mit unterschiedlichen Genres: In der Episode Touch der Serie The Haunting of Hill House (2018) mit einer gothic horror-Note, in der Serie Mr Robot (2015-2019) als Hacker-Thriller und in Arakis Film als gay movie. In den beiden Serien wird das Erlebnis auf sehr dramatische und ein wenig sensationslüsterne Weise dargestellt - Mysterious Skin dagegen ist eine Dramedy, die wunderbar leicht zugänglich ist, witzig, verschmitzt - die letzte Szene, in der die Ereignisse der Vergangenheit enthüllt werden, ist allerdings extrem verstörend und wirkt intensiv nach.

Ich habe bei'm ersten Ansehen eine Weile gebraucht, um zu verarbeiten, was mir da gerade präsentiert wurde, und auch erst dann ist mir bewusst geworden, warum der Film in Deutschland ab achtzehn Jahren empfohlen wird. Er ist sehr explizit, ohne dabei jemals einen sexuellen Akt zu zeigen, ohne Kinderpornographie vor die Kamera zu bringen. In Sexszenen werden ungewöhnliche Blickwinkel gewählt, ähnlich wie Kinder sich, wenn sie missbraucht werden, einen bestimmten Fixpunkt weg vom Gesicht ihres Angreifers suchen und darauf konzentrieren.

Gleichzeitig zeigt Araki die manchmal verstörende Faszination und Neugier, mit der ein Kind, das sich des Verbrechens noch nicht bewusst ist, auf den Akt zugeht - als Spiel, als Herausforderung - der Täter suggeriert ihm, dass es Spaß macht, und das Kind ist völlig überfordert und nimmt die Aussage des Menschen, dem es vertraut, einfach hin.

Für mich als Lehrer ist dieser Film unglaublich wichtig geworden. Ich werde ihn definitiv niemals im Unterricht einsetzen (das könnte bei betroffenen Schülern Traumata hervorbringen und andere grundsätzlich verstören), aber er hat meinen Horizont erweitert und mir wieder bewusst gemacht, dass wir diese Kinder vielleicht in unseren Lerngruppen vor uns haben. "Nein, bei uns kommt das nicht vor", diesen Satz hört man leider an manchen Schulen, dabei bin ich überzeugt davon, dass es das in allen Familien geben kann, egal von welcher sozialer Herkunft, unabhängig vom Bildungsniveau. Es ist leider immer aktuell. Und ich werde den Film auch an Kollegen weiterempfehlen, so wie ich es hier und jetzt an Euch als Leser empfehle.

Und es erinnert uns als Lehrer daran, nicht wegzuschauen und es totzuschweigen, wenn ein Kind ein in egal welcher Weise auffälliges Verhalten zeigt. Wir müssen darauf zugehen, auch wenn es unangenehm ist. Niemand hat gesagt, dass Lehrer ein leichter Beruf sei.


post scriptum: Ich merke, dass ich zu ernsteren Filmen und Serien wesentlich besseren Zugang habe als zu Sachen, die auf Unterhaltung und lustig getrimmt sind. Diesen Gegensatz bemerke ich bei zwei Netflix-Serien, die oft in denselben Rezensionen auftauchen, weil es deutliche Schnittmengen gibt: Die deutsche Serie "Dark" und die amerikanische Serie "Stranger Things", beide im Science Fiction-Genre aufgehoben. Stranger Things ist typisch amerikanisch geworden, bunt, laut, nicht anspruchsvoll und zielt mehr auf Kinder und Jugendliche ab, und ich habe in der dritten Staffel ernsthafte Probleme, durchzuhalten, während "Dark" mich von Anfang an gefesselt hat. Ist keine Wertung, nur die Feststellung, dass ich eher ernsthaftes Material brauche.

Mittwoch, 11. November 2020

Victor


Dies sind wahrlich bewegende Tage. Nein, richtiger müsste es heißen: bewegte Tage. Sie sind bewegt, voller Action, da ist Einiges los. Sie wirken auf mich definitiv nicht bewegend, eher im Gegenteil, sie lähmen mich, weil es mal wieder alles zuviel ist. Da passiert so viel, was irgendeine Bedeutung für mich hat, dass ich viel mehr Zeit mit Meditation verbringen sollte, um nicht geistig zu implodieren.

Da hätten wir zum Beispiel die Amerikaner, die einen neuen Präsidenten gewählt haben, und wie zu erwarten spielt der amtierende Präsident die beleidigte Leberwurst, will seinen Posten nicht räumen. Dem Anderen zum Sieg gratulieren schon mal gar nicht, und am liebsten in seinen verbleibenden zwei Monaten noch möglichst viel Porzellan zerschlagen. Es wäre so armselig, so mitleiderregend, wenn es nicht gleichzeitig so gefährlich wäre, und ich muss zugeben, momentan bin ich froh, kein Amerikaner zu sein

Dann sind da die Mails, und wenn ich einen Abend mal vergessen habe, sie durchzusehen, sind es am nächsten Tag dann so viele, dass ich Angst bekomme und gar nicht erst mit dem Lesen anfange. Der eingebildete Behinderte: Ich habe Angst, dass mich eine Mail so sehr aus der Bahn werfen könnte, dass mein Tagesplan nicht so ablaufen kann, wie ich ihn mir zurechtgelegt habe. Ist alles schon reichlich vorgekommen.

Außerdem realisiere ich zur Zeit, dass das Busfahren wirklich gut klappt, und das Nachdenken, ob ich überhaupt noch ein Auto brauche, verwirrt mich, weil ich immer gedacht habe, es sei absolut notwendig. Allerdings bin ich doch froh, wenn ich das Auto wiederhabe, denn die Unsicherheit, ob mein Bus morgens rechtzeitig kommt, ob ich das Umsteigen schaffe oder ob der Bus vielleicht ausfallen könnte, das erschwert mir den Morgen einigermaßen.

Und da war ja auch noch die Sache mit dem Ohrenarzt, dem ich ein H zuviel in seinen Namen gegeben habe (es muss Oto... heißen, nicht Otho...). Ich kann wieder hören, wunderbar, aber das Ohr hat sich entzündet und tut mitunter ziemlich weh. Abgeklärt, immerhin keine Mittelohrentzündung, Salbe, Nasenspray und Zwiebeln helfen. Was man nicht alles lernt. Aber das hat die Aufmerksamkeit dann schon wieder auf das Ohr gezogen, und nicht auf die Schule, und das ist problematisch.

Unter all' den Mails, die da eintrudeln, ist dann plötzlich eine von der horizonterweiternden Art dabei, von einem ehemaligen Schüler. Wirft mich nicht aus der Bahn, lenkt meinen Gedankenfokus aber komplett um, weil der Inhalt so faszinierend ist - ich hoffe, dass aus der Story vielleicht mal ein Gastbeitrag für diesen Blog wird.

Dazu natürlich der ganz normale Schulwahnsinn, und ich bin heilfroh, dass die Kiddies Uhren stellen, um an's regelmäßige Durchlüften zu denken, denn ich bekomme das natürlich wieder überhaupt nicht mit, weil ich so sehr in die Unterrichtssituation vertieft bin. Ich bin sehr froh, dass morgen Donnerstag ist, mein letzter Schultag in der Woche, und ich werde dieses Wochenende definitiv für Schularbeiten nutzen müssen.

Was mir übrigens wieder vor Augen führt, dass ich sehr froh bin, zwei sogenannte Langfächer zu unterrichten. Englisch und Latein werden je nach Schule und Jahrgang mit drei bis sechs bzw. fünf Stunden in der Woche unterrichtet. Das bedeutet, dass ich weniger Lerngruppen benötige, um auf meine Stundenzahl zu kommen, und das macht viel aus: Ich vertiefe mich so sehr in den Charakter einer Klasse, dass ich mit momentan vier Lerngruppen ausgelastet bin. Wenn ich da an den ehemaligen Kollegen denke, Musiklehrer, mit dreizehn Lerngruppen... das würde ich niemals schaffen.

Und warum dieser Beitrag? Vielleicht einfach als eine Art Ventil. Und warum überhaupt Victor? Das weiß da draußen nur eine einzige Person - eine Person, die den Zusammenhang zwischen Titel und Inhalt des Artikels erkennen kann. Oder auch nicht.

Haltet die Ohren steif, die Woche ist halb um, das Wochenende naht, und ich hoffe, dass Ihr nicht auf der gingiva geht!

Freitag, 6. November 2020

Zurück vom Othorhinolaryngologos - typisch Aspi


Was für ein Erlebnis ist es, hören zu können! Was für ein Genuss! Wir realisieren das nicht, denn wir nehmen unser Hörvermögen als selbstverständlich hin. Vollkommen normal - bis es eines Tages plötzlich verschwindet. Teilweise. Ich hatte das schon ein paar Mal, und ich weiß noch, wie ich bei'm ersten Mal vollkommen erschüttert war: Eines Morgens bin ich aufgewacht und konnte auf der linken Seite nichts mehr hören. Dazu ein dumpfes Gefühl im Kopf, wie der Druck, wenn man im Zug durch einen Tunnel fährt. Der Unterschied liegt darin, dass man bei der Tunnelfahrt durch Schlucken oder Nasezuhalten einen Druckausgleich erzeugen kann, es ploppt, alles wieder normal.

Damals aber nicht. Ich weiß noch genau, wie ich immer wieder versucht habe, mir die Nase zuzuhalten und den Druck wegzubekommen, aber es hat nicht geklappt. Da ist eine gewisse Panik aufgekommen - was ist los, warum geht das Gefühl nicht weg, mit dem Finger am Ohr herumzufummeln bringt nichts, und damals dachte ich noch, Wattestäbchen wären eine gute Idee (SIND SIE NICHT!), um zu schauen, ob da irgendwas im Ohr nicht in Ordnung ist. Diese Panik... die Angst, nie wieder richtig hören zu können, von jetzt an immer diesen "halben" Kopf zu haben (ich weiß nicht, wie ich das Gefühl anders beschreiben kann) war grausig, ich war kurz vor den Tränen. 


Heute ist es viele Jahre später und ich weiß, dass das nichts Schlimmes ist, das Ohr ist verstopft, passiert hin und wieder, kein Problem, man geht zum Hals-Nasen-Ohrenarzt und lässt sich das einfach wieder freispülen. Dank Corona und der Ansage der ersten Praxis, ich müsse drei Wochen auf einen Termin warten, war ich in dieser Woche völlig fertig, und Frau Schwarzbohrer da draußen, die Schulbegleitung für einen Aspi ist, weiß, was "völlig fertig" für einen Aspi bedeutet.

Ich bin sehr glücklich über den Tipp einer Kollegin und die HNO-Praxis Dr. Thomas Harder in Mettenhof, ein Anruf heute morgen, in den Bus gesprungen, zwei Stunden später war ich wieder sauber und normal zuhause. Mit normalem Hörvermögen, und was für ein wunderbares Gefühl das ist! Nach vier halbtauben Tagen macht das wirklich einen großen Unterschied, ich hatte mich schon fast an das dumpfe Gefühl gewöhnt. 

Den Arzttipp hatte ich am Montag bekommen - oder war es Dienstag? Jedenfalls stellt sich dem Leser vielleicht die Frage, warum ich nicht direkt an dem Tag bei der Praxis angerufen habe und hingefahren bin - wäre schließlich möglich gewesen. Aber jetzt kommt das Aspi-Gehirn und ist mit der Arbeit in der Schule für einen Tag völlig überfordert. Ich habe jeden Tag den Nachmittag damit verbracht, zu sortieren, was in der Schule passiert ist, und habe nicht mehr den Nerv für den Arzt gehabt.

Muss man sich mal vorstellen. Nimmt mehrere Tage erhebliche Einschränkung in Kauf, nur weil er "überfordert" ist. Wird einsortiert in die "Du bist Aspi? Zeig doch mal!"-Fallstudien, direkt neben "Ich bin dieses Jahr wegen Corona kein einziges Mal in den Hansa-Park gefahren".

Dienstag, 3. November 2020

Wie bitte?


"I'm sorry, but could you please repeat your answer?"

Das war mein häufigster Satz gestern in der Schule, denn ich bin momentan schwerhörig. Musste irgendwie so kommen, denn mein Fuß hat sich recht zügig von dem Sturz erholt (Bänder werden elastischer?); das Gehen geht wieder? Geht ja gar nicht! Also hat mein rechtes Ohr dichtgemacht.

Diejenigen unter Euch, die schon einmal ein verstopftes Ohr hatten, kennen das. Die Anderen kennen es vielleicht, wenn nach einem Besuch im Schwimmbad noch Wasser im Ohr ist: Man hört auf der Seite kaum noch etwas, stattdessen ist ein dumpfes Dröhnen dabei und unangenehmer Druck auf dem Ohr. Man hält dann den Kopf seitlich, hüpft auf und ab und das Thema ist erledigt - aber nicht, wenn das Ohr richtig verstopft ist. Dann sollte man bei'm Arzt vorbeischauen oder zumindest jemanden finden, der einem bei der Behandlung hilft. 

Wirklich schlimm ist so etwas nicht, solange es sich nicht entzündet. Es ist nur unangenehm und, gerade als Lehrer, unpraktisch: Ich verstehe die Sachen nur noch zur Hälfte, dazu kommt der Mundschutz, der jetzt auch den ganzen November über im Klassenraum jede Wortbeteiligung auf die Hälfte der Lautstärke reduziert. Mir war das so unangenehm, dass ich ab der zweiten Stunde immer direkt zu den Schülern hingegangen bin, die sich melden.

Also, Telefonat, HNO-Praxis finden. Erste Nummer.

"Ja, schönen guten Tag, mein Name ist DrH. Mein rechtes Ohr ist seit ein paar Tagen dicht und ich kann zur Zeit nur sehr schlecht damit hören. Kann ich das bei ihnen reinigen lassen?"

"Ja, das ist kein Problem, es geht eben nur wegen der Corona-Lage nicht sofort."

"Damit habe ich auch schon gerechnet; wann ginge es denn?"

"Also, ich hätte einen Termin für sie am Freitag..."

Freude, Freitag, das wären ja nur ein paar Tage!

"...den zwanzigsten November."

Ja, damit hatte sich das erledigt, denn zweieinhalb Wochen Schule mit diesen Umständen sind mir zu hart. Also fröhliches Weitertelefonieren, egal, welche Bewertung die Ärzte online haben, ich möchte nur mein Ohr freibekommen, das dauert nur zehn Minuten, vielleicht fünfzehn. Aber - alles ausgebucht. Wenn da nicht die Empfehlung einer Kollegin wäre, die mir einen Arzt in Mettenhof a.k.a. Bettendorf (für die große Buba) genannt hat. Wenn die Infos auf deren Homepage noch aktuell sind, rufe ich morgen nach der Schule einmal in der Praxis an und kann vielleicht direkit vorbeischauen. Hoffentlich, denn ich brauche mein Ohr zurück.

post scriptum: Ich bin so gespannt auf die kommende Nacht. Auch wenn wir vielleicht noch etwas bis zum endgültigen Ergebnis werden warten müssen: Die USA wählen ihren neuen Präsidenten. Hoffentlich den Neuen. Denn diesen Trumpel noch weitere vier Jahre ertragen zu müssen, facht die nicht gänzlich unrealistische Angst vor einem Bürgerkrieg in Amerika weiter an. Let's hope for the best! Oder wie Kimberley Guilfoyle in ihrer ... lauten Rede sagte: THE BAAAAAAAAAAHST IST YÄÄÄÄÄÄÄÄT TU CUMMMMMMMMMMMMMMMMMMM!!!

Donnerstag, 29. Oktober 2020

DrH und die Treppe

Es ist mal wieder Zeit für Analgetika

Das scheint eine unendliche Geschichte zu werden. Erstmal Hintergrundinfo: Sehr viele Aspis haben ein Problem mit ihrer Feinmotorik. In Schulzeiten war ich völlig unfähig, etwas Kreisrundes auszuschneiden - ich konnte nur gerade Linien schneiden, und somit hatten meine Kreise doch sehr viele Ecken. Auch heute noch bin ich mit dem Kopf bei manchen Aktionen so weit woanders, dass ich mir regelmäßig Füße, Schienbeine, Arme, Finger and whatnot stoße bei Aktionen in der Wohnung - ich nehme eine Kurve zu großzügig, ich beachte eine offene Schublade nicht, das alles ist mittlerweile so selbstverständlich für mich geworden, dass ich mich hin und wieder frage, woher denn der blaue Fleck am Schienbein kommt, oder der Schnitt am Finger.

Heute bin ich zum dritten Mal in knapp sieben Jahren dieser Wohnung die Treppe hinuntergefallen. Ich weiß noch, bei'm ersten Mal lag es daran, dass ich einen sehr großen Karton in den Keller bringen wollte und eine Treppenstufe übersprungen habe - Knöchel verstaucht, rechts. Bei'm zweiten Mal hatte ich einen zu kleinen Schritt gemacht und war an einer Stufe hängengeblieben - Knöchel verstaucht, rechts. Heute bin ich zu spät aus der Wohnung gekommen, und da ich derzeit mit Bussen fahre (was eigentlich super klappt), bin ich einige Stufen im Treppenhaus heruntergesprungen, andere hinabgerast, und bin mit dem Fuß an einer Stufenkante abgerutscht. Natürlich wieder der rechte Knöchel, keine Ahnung, ob "nur" überdehnt oder verstaucht, jedenfalls liegt er jetzt hoch mit einem Kompressionsverband (praktisch, den hatte ich noch vom letzten Mal hier).

Da zeichnet sich ein Muster ab. Leider kein sehr Angenehmes, denn dieses Fußumknicken mit anschließendem Treppensturz tut wirklich höllisch weh! Seit einer Stunde hängt in meiner Wohnung ein riesiger Zettel, auf dem mit Edding steht NIMM' EINEN BUS FRÜHER!!!

Irgendwie ist es seltsam, die ganzen Zettel hier in der Wohnung zu sehen. Man könnte meinen, ich sei behindert: "Denk an Essen und Trinken!" - "Nimm einen Bus früher!" - "Calm down!" - "Geistige Quarantäne" - aber seitdem ich allein wohne und mein Leben (durch die vielen Schulwechsel) unter Stress geraten ist, muss ich mich an die Basics erinnern. Früher war das nicht nötig. Ja, da habe ich auch ab und an das Essen vergessen, aber ich hatte immer einen Plan im Kopf, wie der Tag und die Woche in etwa laufen sollten, und ich bin mit ungeplanten Veränderungen wesentlich besser klargekommen. 

Was mich daran gerade am meisten ärgert, ist der Unterrichtsausfall. Merkel betont zwar, dass Schulen geöffnet bleiben sollen, aber bei über sechzehntausend Ansteckungen an einem Tag bin ich mir nicht so sicher, ob da nicht auch wieder der Bildungs-Lockdown kommt. Deswegen habe ich heute für meine Schüler wieder Lernvideos aufgenommen - sie sollen zur nächsten Woche die ersten vierzig unregelmäßigen Verben können, also habe ich ein Video erstellt, in dem ich mit ihnen die Aussprache der Formen übe. So kann ich ihnen zumindest diese Hausaufgabe über das Wochenende aufgeben und wir verlieren nicht zu viel Zeit. Mit diesen Lernvideos habe ich im Lockdown ganz gute Erfahrungen gemacht; natürlich nutzt nicht jeder Schüler diese Möglichkeit, aber immerhin habe ich ihnen die Chance zum Lernen gegeben, und besser als in einer Zoom-Konferenz kann man sich diese Lernvideos immer wieder anschauen und immer wieder damit üben.

Und wo wir schon bei der Corona-Situation sind: Gerade gestern noch habe ich mit Schülern darüber gesprochen, ob ihre Familien davon betroffen sind, und einer erzählt mir von seiner Großmutter mit Restaurant und Zimmervermietung, die einen weiteren Lockdown nicht überstehen würde. Jetzt kann man nur noch hoffen, dass die Hilfen der Bundesregierung zügig anlaufen und ausreichen.  Jetzt bin ich froh, dass ich einen "essentiellen" Job habe, aber vorher hat ja niemand damit gerechnet, dass eine weltweite Pandemie das öffentliche Leben flachlegt und man überhaupt in essentielle und nicht-essentielle Berufe unterteilen muss.

Ich wünsche allen da draußen, die betroffen sind, dass sie den November einigermaßen überstehen! Und allen Kollegen einen langen Atem (teilweise durch die Masken hindurch) und ein fröhliches Lüften. Und mir etwas mehr Vernunft, Entschleunigung und Knöchelabschwellen.

Sonntag, 25. Oktober 2020

"Lass' ma' Tanke!"

Wenn es dunkel ist und man Schoki braucht...

Ich komme gerade von der Tanke - Schokolade. Mein erstes Lass ma Tanke-Mal war erst im Studium, für die meisten meiner Mitschüler war es bereits in der Schule soweit, Mittelstufe, Oberstufe. Nach einer Musicalprobe - "Lass ma Tanke", nach einer Aufführung - "Lass ma Tanke" - immer dann, wenn die Supermärkte schon geschlossen hatten, auf dem Land also gefühlt von sechzehn bis acht Uhr. Im Studium dann nach den späten Seminaren, wobei daraus dann auch gern ein "Lass ma BK" wurde, außerdem wohnten wir in Kiel, da haben Supermärkte etwas länger geöffnet, im Jahr Zwanzig Zwanzig fünfundzwanzig Stunden am Tag.

Ganze Sätze hatten wir damals nicht, ganze Sätze haben unsere Schüler auch heute nicht. An meiner Schule heißt es oft "Lass ma Rewe", auch wenn direkt daneben ein günstiger Discounter ist, wobei... "Deine Mudda sucht bei Aldi im Schnapsregal eine neue Wohnung", das sagt schon alles. "Dr H, dürfen wir Handy?" ist auch Standard, da bin ich schon total erstaunt, geradezu sprachlos (toll, ich habe erst sprachklos geschrieben, Buba kötert), wenn die Es Uh Es fragen "Dürfen wir bei der Aufgabe Musik hören?" - Vollverben sind Mangelware. Braucht keiner. Und Hauptsache, es wird immer Tanken mit Schokolade außerhalb der normalen Öffnungszeiten geben.

Tanken, die man lässt, eben.

post scriptum: Kommt gut in die neue Woche, und lasst uns hoffen, dass uns die Vernunft vor einem neuen Lockdown schützt. Leider (und zum Glück) sind Menschen nun mal Menschen...

Freitag, 23. Oktober 2020

Zu nichts zu gebrauchen


Endlich stellen sich mehr Regelmäßigkeiten ein - für mich ein Zeichen, dass die Dinge ja vielleicht okay sein könnten, also beschwere ich mich nicht, wenngleich die neueste Regelmäßigkeit ein wenig unpraktisch ist: In den vier Arbeitstagen an einer so vielfältigen Schule wie unserer lädt sich mein Kopf mit immer mehr Eindrücken auf - Fachkonferenz, Elterngespräch, Rückgabe der Klassenarbeit, neue Kollegin im Stützpunkt, neue Corona-Vorgaben, Banktermin links, Telefonattermin rechts, und eigentlich müsste ich das jeden Tag in einer ausführlichen Meditation alles abarbeiten. 

Stattdessen nehme ich alle Erlebnisse in meinem Kopf auf, weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll, was sie für mein Leben bedeuten, ein wuseliger Arbeitstag nach dem anderen, ich bin nur noch auf Schule eingestellt, und am Donnerstag, meinem letzten Schultag, bin ich nach der letzten Schulstunde zu nichts mehr zu gebrauchen.

Ich will niemanden sehen, niemanden hören, den Meditationsabend aufmachen und anfangen, das ganze Chaos in meinem Kopf aufzuräumen. Jetzt, am Freitag, kommt so langsam Ordnung zustande, aber ich bin noch immer zu nichts zu gebrauchen, beantworte nur manche Nachrichten, das wird frühestens morgen besser werden. Das mag für meine Mitmenschen, die vielleicht auf Rückmeldung warten, sehr anstrengend sein - aber mir signalisiert es, dass die Dinge langsam wieder in Ordnung kommen. Ich brauche diese drei freien Tage tatsächlich, damit ich in der nächsten Woche wieder voller Energie in den Schulblock starten kann.

I'm all peopled out - diesen Satz habe ich in Attwoods Buch über das Asperger-Syndrom gelesen und finde ihn wunderbar beschreibend für diesen Zustand am Donnerstag. Also: Auf der einen Seite unerreichbar, zurückgezogen, still, auf der anderen Seite mit einem Lächeln im Gesicht, denn es könnte ja ein Zeichen für Besserung sein.

Montag, 19. Oktober 2020

Was für ein Käse!


Ich esse ganz gern Käse mit Spaghetti Bolognese - in dieser Reihenfolge; meistens finden sich die Nudeln unter einem riesigen Berg Parmesan. Seit etwa einem halben Jahr hat sich meine Gewohnheit ein wenig geändert; nicht nur, dass ich den Käse jetzt immer im Stück zuhause habe (weil das Aroma von frisch geriebenem Käse einfach schöner ist), sondern ich mische zu gleichen Teilen Parmesan und Pecorino, weil mir der Parmesan mittlerweile ein wenig zu lasch geworden ist. Der Pecorino, ein Schafskäse, ist ein ganzes Stück herzhafter und verträgt sich wunderbar mit der Spaghettisauce.

Sicher, das bedeutet ein wenig Handarbeit und gerne auch mal einen Krampf in der Hand, denn es ist ein ordentliches Stück Arbeit, die Käsestücke streufähig zu zerreiben, aber ich bilde mir ein, dass das Essen dann besser schmeckt, als wenn ich fertigen Streukäse in der Tüte kaufen würde. Und, das habe ich von Tony Attwood gelernt, für Aspis kann die Einbildung eine Menge ausmachen - deswegen esse ich bestimmte Gerichte auch nur mit bestimmtem Besteck.

So, das hatte jetzt überhaupt nichts mit der Schule zu tun und das ist auch gut so. Ich muss allerdings sagen, dass der erste Schultag schön war. Ich finde es schön, wieder vor den Schülern zu stehen, vor den ruhigen wie vor den lauten. Ich hoffe, Ihr seid ebenfalls gut gestartet und habt von Euren Kiddies die Bestätigung bekommen, dass Ihr im richtigen Beruf gelandet seid.

Sonntag, 18. Oktober 2020

Ungewisse Zeiten


Liebe Leute, wir sind am Ende der Herbstferien angekommen. Morgen geht es in S-H zurück in die Schule, und ich bin sehr gespannt, wie das werden wird, angesichts dieser rapide steigenden Infektionszahlen. Kommt es zu einem weiteren Lockdown? Distance Learning? Oder kommen wir gut durch? Das sind sicherlich ungewisse Zeiten.

Für mich wird es spannend, ab morgen mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, weil das Auto in der Werkstatt auf seine TÜV-Prüfung vorbereitet wird. Ich fahre mit dem Bus nur unmerklich länger zur Schule, der Rückweg könnte sogar schneller gehen, und ich werde sehr genau darauf achten, wie es klappt, denn sollte ich an dieser Schule bleiben können, rückt eine längerfristige Perspektive ohne Auto in den Blick. Weil es für die Umwelt besser ist, und weil ich es nicht gut schaffe, ein Auto zu pflegen.

Es wird also eine aus mehrerlei Sicht sehr interessante erste Woche. Meine Schüler in Neun sind im Praktikum und machen ihre ersten Erfahrungen in der Arbeitswelt da draußen - für sie wird es also auch interessant werden. Für die anderen Lerngruppen stehen in dieser ersten Woche einige ernste Worte an: Die Klassenarbeit wird zurückgegeben, und in Einzelgesprächen sondieren wir einmal den Leistungsstand. 

Kommt gut in die neue Woche, und bleibt gesund! 

Und: In der Ruhe liegt die Kraft.

Montag, 12. Oktober 2020

Geduld


Wer mich ein bisschen kennt, denkt sich wahrscheinlich, dass bei einer größeren Blogpause entweder ein neuer Film, eine neue Serie oder ein neues Videospiel dahintersteckt. Richtig gedacht: Da wäre zum einen The Haunting of Bly Manor (2020), die zweite Staffel nach der grandiosen Shirley Jackson-Verfilmung The Haunting of Hill House (2018) - mit einer Bewertung halte ich mich noch zurück. Bin mal gespannt, ob mein Eindruck sich mit dem Kritikerspiegel deckt. addendum: Ja, tut er.

Zum anderen wäre da Obduction - die Miller-Brüder, die kreativen Köpfe hinter der Myst-Reihe, die ich im Blog schon einmal kommentiert habe, haben vor einiger Zeit ein neues Spiel herausgebracht, das den Charakter von Myst behält, neue Technologie nutzt und eine high concept science fiction story erzählt. Mit allem, was ich an den anderen Spielen mochte: Viele Schalter zum Umlegen, viele Knöpfe, Gleise, Schwebebahn, knackige Rätsel, Atmosphäre pur. Und vor allem: Kein Stress. Kein Game Over. Ich kann das in aller Ruhe erleben.

Und genau um dieses "in aller Ruhe" geht es heute, denn früher hatte ich es nicht unbedingt mit der Ruhe. Einer der Nachteile, wenn man sehr intelligent ist: Der Kopf gewöhnt sich an die Grundhaltung, dass alles sehr schnell gehen muss. Aufgaben in der Schule, im Studium - sehr schnell erledigt. Und gerade wenn man noch davon ausgeht, der eigene Kopf ticke völlig normal, kommt man nicht auf die Idee, dass es auch anders ginge.

Man sitzt dann als Schüler im Unterricht, völlig unterfordert, und fragt sich, warum das nicht alles schneller voranginge. "Ich habe das doch alles schon verstanden, können wir nicht weitermachen?" Und auch, wenn man andere Menschen bei Aufgaben beobachtet, können einem schnell die Finger kribbeln. "Du brauchst so lange dafür... lass' mich das einfach machen, das geht schneller, dann können wir weitermachen." Vielleicht geht es anderen Hochbegabten da draußen nicht so - müsste ich aber erst noch kennen lernen, bisher konnte mir jeder Betroffene diesen Eindruck in unterschiedlichen Formen bestätigen.

Genau so bin ich auch an Spiele herangegangen, besonders Rätseladventures. Diese Spiele sind auf Ruhe und Langsamkeit ausgelegt, nicht auf Hektik. Wenn ich so ein Spiel vor mir hatte, die meisten Rätsel zügig lösen konnte, dann aber bei einem Rätsel nicht schnell genug auf die Lösung gekommen bin, habe ich mich schnell hilfesuchend an den Herrn WWW gewandt. So konnte ich die Spiele zwar zügig beenden, aber es geht ja nicht darum, möglichst fix an das Ziel zu kommen. In Rätseladventures ist der Weg das Ziel.

Das Meditationstraining und die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus haben mir einige Geduld beigebracht. Mittlerweile schaue ich nicht mehr nach Lösungen im Internet. Das kann dazu führen, dass ich ein Spiel beginne und dann mehrere Stunden lang an einem Rätsel festsitze, das Spiel dann erstmal wieder beende, ohne auch nur irgendeinen Fortschritt erreicht zu haben. Ich nehme das Rätsel dann mit in die Meditation, zerbreche mir weiterhin den Kopf, und wenn ich dann irgendwann die Lösung gefunden habe, ist das Gefühl einfach unbeschreiblich - zufrieden, erleichtert, glücklich, neu angespornt.

Klar, dass diese Geduld auch ihre Nachteile haben kann. In den unteren Klassenstufen, in denen die Schüler wuselig, laut und überall sind, hilft es nicht unbedingt, wenn man im Unterricht alle Klassengeräusche ganz geduldig hinnimmt, bis irgendwann die Schüler selbst sich beschweren, dass es zu laut im Raum ist und sie nichts lernen können. Trotzdem bin ich sehr glücklich darüber, dass ich etwas geduldiger geworden bin - wie ich auch damals schon im Blog in dem Artikel Entschleunigung geschrieben hatte.

In dem Sinne: Kommt entspannt und gelassen in die neue Woche!

(außer der Sannitanic, die wird Gelassenheit frühestens in siebzehn Jahren wieder erleben)

Montag, 5. Oktober 2020

Das neue Spiel (Kommentar)


Die aktuelle Kurzgeschichte hat sich aus einem visuellen Impuls heraus ergeben, den ich während einer Meditation hatte. Mit geschlossenen Augen habe ich diesen Würfel gesehen, um den es im Spiel geht; ich habe keine Ahnung, warum dieses Bild entstanden ist, aber es könnte damit zu tun haben, dass ich tatsächlich sehr gern Rätselspiele mag. Das Bild war so klar zu erkennen, dass ich mir vorgestellt habe, was wohl dahinterstecken könnte. So ist die Idee um ein Spiel entstanden, das Auswirkungen in der realen Welt haben könnte - mal wieder Science Fiction, weil ich es mag, realistische Szenarien zu wählen und ihnen dann einen fiktionalen Faktor hinzuzufügen.

So hatte ich dann relativ zügig den ersten Teil der Geschichte fertiggestellt, in dem der Protagonist die Regeln des Spiels erklärt, und mein Ziel war es, das Ganze möglichst authentisch erscheinen zu lassen, also habe ich einfach meine Blog-Persona gewählt, den typischen Sprachstil, damit zu Beginn der Story niemand allzu schnell auf die Idee kommt, dass es sich tatsächlich um Fiktion handelt. Ich habe der großen Buba diesen Teil zu lesen gegeben, und sie hat mir bestätigt, dass der erste Teil (bis zur Ankunft des seltsamen Pakets) durchaus glaubwürdig erscheint. Das hat mich beruhigt; ich hatte erst befürchtet, dass die Idee etwas zu abgedreht ist, dass Amazon plötzlich unangekündigte Pakete zuschicken könnte. Jeder Leser findet früher oder später heraus, dass es sich nicht um eine wahre Begebenheit handelt, klar. Spätestens bei der Beschreibung des "realen" Würfels, würde ich meinen. Hauptsache, der Leser wird erstmal unwissentlich in diese Geschichte hinein gezogen, mit dem Ziel, ihn dazu zu bringen, das Ende der Story erfahren zu wollen. Also genau wie mit einem Spieler, der sein Spiel irgendwann nicht mehr zur Seite legen kann.

Nun stellte sich aber noch die Frage, in welche Richtung ich mit der Geschichte gehen wollte. Sollte es eine alberne Katastrophe werden, so wie die Geschichte der tödlichen Zimtsterne oder des schaurigen Wanderers? Dann habe ich überlegt, ob ich den SciFi-Ansatz nicht mit etwas Pädagogischem verknüpfen könnte, so wie in der Geschichte Der Wiederholer, und dann ist mir die Idee gekommen, eine Art cautionary tale daraus zu machen, eine Story, die vor etwas warnen sollte, denn mir ist die Anekdote eines Schülers in den Kopf geschossen, der sich innerhalb eines Schulhalbjahres um zwei ganze Noten verschlechtert hat - nennen wir ihn Klaus, das ist nicht sein richtiger Name.

Ich fand es ziemlich beunruhigend, dass Klaus - sonst ein Dreier-Schüler in Englisch - in der ersten Klassenarbeit im neuen Jahr eine Fünf geschrieben hatte. Zunächst dachte ich an einen Einzelfall, Blackout, aber dann wurde auch die zweite Arbeit eine Fünf und ich habe mich am Elternsprechtag mit der Mutter zusammengesetzt. Wir sind verschiedene Erklärungsmöglichkeiten durchgegangen: Klaus könnte entdecken, dass er sich für Jungen interessiert, und Angst davor haben, oder er könnte Zugang zu psychoaktiven Substanzen gefunden haben, es könnten Probleme mit dem Hormonstoffwechsel vorliegen und noch weitere Gründe. Zu manchen Schülern kann ich einen sehr guten Zugang finden - bei Klaus dauerte es etwas länger, aber irgendwann hat er im Gespräch dann erzählt, dass das Problem ein neues Videospiel sei, das ihn rund um die Uhr fesselte. Natürlich waren die Mutter und ich erstmal beruhigt, dass es nichts Psychisches oder Gesundheitliches im klassischen Sinne war - aber es blieb dabei: Klaus hatte sich sehr zurückgezogen, den Kontakt zu seinen Freunden schleifen lassen und er war in der Schule extrem abgerutscht. Es hat eine ganze Menge Arbeit gebraucht, bis wir ihn wieder auf seinen "normalen" Weg zurückbringen konnten.

Ich kann diese Anekdote einfach nicht vergessen - vielleicht auch, weil ich selbst Videospieler bin und das Problem kenne - dass man sich nicht von dem Geschehen auf dem Bildschirm losreißen kann. Also habe ich mir überlegt, wie ich die Geschichte des seltsamen Würfels mit der Schulanekdote verbinden konnte. Am Ende sollte die Geschichte eines Menschen stehen, der sich wegen eines Spiels von der Außenwelt abkapselt. Aber er sollte, quasi als Inversion, sich nicht ganz freiwillig dazu entscheiden, seine Arbeit und seine Kontakte zu vernachlässigen; das Spiel sollte ihn zwingen, und dazu musste die Komponente des Größerwerdens hinzugefügt werden - damit der Würfel eine echte Gefahr darstellen würde. Der Protagonist sollte gezwungen werden, mehr und mehr Zeit mit dem Spiel zu verbringen; auch bei der klassischen Spielsucht mag am Anfang die bewusste Entscheidung stehen, noch ein, zwei Stunden, noch drei, vier Levels weiter zu spielen, aber irgendwann stellt sich dem Abhängigen diese Wahl nicht mehr, sondern es hat sich zu einem Zwang entwickelt.

Der größte Unterschied zwischen der Entwicklung in der Geschichte und dem realen Leben dürfte im zeitlichen Ablauf liegen. In der Geschichte reicht es, den zerbrochenen Couchtisch zu sehen, um zu realisieren, dass irgendwas nicht in Ordnung ist; im realen Leben merkt ein Spielsüchtiger von seiner Sucht in der Regel erst etwas, wenn es zu spät ist, und wenn er ohne Hilfe diesem Sog nicht mehr entkommen kann. In dieser Hinsicht habe ich das Ende der Story durch die rosarote Brille gesehen.

Ich habe versucht, es nicht zu fröhlich werden zu lassen, ein kleines Aber! einzubauen, indem der Protagonist bei'm Deinstallieren des Spiels auf ein anderes, neues Spiel hingewiesen wird, und natürlich soll das Ende suggerieren, dass er sich gleich in die nächste Abhängigkeit stürzt. Das entspricht dann wieder dem realen Leben, denn trotz Heilung von einer Abhängigkeit erlangt man damit keine Immunität, sondern lebt ständig in Rückfallgefahr. Mark Twain soll sinngemäß einmal gesagt haben, es sei kinderleicht, mit dem Rauchen aufzuhören - er habe es schon hundertmal geschafft.


Liebe Lehrkräfte, unsere Schulkiddies sind digital natives, für sie ist der Zugang zu Videospielen etwas Selbstverständliches, leider im Gegensatz zur Aufklärung über die Gefahren. Pädagogisieren ohne konkreten Anlass nützt da oftmals nichts. Haltet Eure Augen geöffnet, beobachtet unerwartet stark abfallende Leistungen Eurer Lernenden, achtet darauf, ob sie sich zurückziehen, weniger mit ihren Freunden machen, ob sie stiller im Unterricht werden, ob sie klärende Gespräche vermeiden wollen, und bleibt im Kontakt mit den Erziehungsberechtigten. Signalisiert Verständnis, denn oft kommt es vor, dass ein videospielender Jugendlicher sich denkt, dass die "alten" Lehrer sowieso keine Ahnung haben, was Videospiele sind, und auch kein Verständnis dafür haben - denn in ihren Augen sind das ja eh' nur alles brutale Ballerspiele (und die Medienberichterstattung trägt leider zu diesem Eindruck bei).