Donnerstag, 29. Oktober 2020

DrH und die Treppe

Es ist mal wieder Zeit für Analgetika

Das scheint eine unendliche Geschichte zu werden. Erstmal Hintergrundinfo: Sehr viele Aspis haben ein Problem mit ihrer Feinmotorik. In Schulzeiten war ich völlig unfähig, etwas Kreisrundes auszuschneiden - ich konnte nur gerade Linien schneiden, und somit hatten meine Kreise doch sehr viele Ecken. Auch heute noch bin ich mit dem Kopf bei manchen Aktionen so weit woanders, dass ich mir regelmäßig Füße, Schienbeine, Arme, Finger and whatnot stoße bei Aktionen in der Wohnung - ich nehme eine Kurve zu großzügig, ich beachte eine offene Schublade nicht, das alles ist mittlerweile so selbstverständlich für mich geworden, dass ich mich hin und wieder frage, woher denn der blaue Fleck am Schienbein kommt, oder der Schnitt am Finger.

Heute bin ich zum dritten Mal in knapp sieben Jahren dieser Wohnung die Treppe hinuntergefallen. Ich weiß noch, bei'm ersten Mal lag es daran, dass ich einen sehr großen Karton in den Keller bringen wollte und eine Treppenstufe übersprungen habe - Knöchel verstaucht, rechts. Bei'm zweiten Mal hatte ich einen zu kleinen Schritt gemacht und war an einer Stufe hängengeblieben - Knöchel verstaucht, rechts. Heute bin ich zu spät aus der Wohnung gekommen, und da ich derzeit mit Bussen fahre (was eigentlich super klappt), bin ich einige Stufen im Treppenhaus heruntergesprungen, andere hinabgerast, und bin mit dem Fuß an einer Stufenkante abgerutscht. Natürlich wieder der rechte Knöchel, keine Ahnung, ob "nur" überdehnt oder verstaucht, jedenfalls liegt er jetzt hoch mit einem Kompressionsverband (praktisch, den hatte ich noch vom letzten Mal hier).

Da zeichnet sich ein Muster ab. Leider kein sehr Angenehmes, denn dieses Fußumknicken mit anschließendem Treppensturz tut wirklich höllisch weh! Seit einer Stunde hängt in meiner Wohnung ein riesiger Zettel, auf dem mit Edding steht NIMM' EINEN BUS FRÜHER!!!

Irgendwie ist es seltsam, die ganzen Zettel hier in der Wohnung zu sehen. Man könnte meinen, ich sei behindert: "Denk an Essen und Trinken!" - "Nimm einen Bus früher!" - "Calm down!" - "Geistige Quarantäne" - aber seitdem ich allein wohne und mein Leben (durch die vielen Schulwechsel) unter Stress geraten ist, muss ich mich an die Basics erinnern. Früher war das nicht nötig. Ja, da habe ich auch ab und an das Essen vergessen, aber ich hatte immer einen Plan im Kopf, wie der Tag und die Woche in etwa laufen sollten, und ich bin mit ungeplanten Veränderungen wesentlich besser klargekommen. 

Was mich daran gerade am meisten ärgert, ist der Unterrichtsausfall. Merkel betont zwar, dass Schulen geöffnet bleiben sollen, aber bei über sechzehntausend Ansteckungen an einem Tag bin ich mir nicht so sicher, ob da nicht auch wieder der Bildungs-Lockdown kommt. Deswegen habe ich heute für meine Schüler wieder Lernvideos aufgenommen - sie sollen zur nächsten Woche die ersten vierzig unregelmäßigen Verben können, also habe ich ein Video erstellt, in dem ich mit ihnen die Aussprache der Formen übe. So kann ich ihnen zumindest diese Hausaufgabe über das Wochenende aufgeben und wir verlieren nicht zu viel Zeit. Mit diesen Lernvideos habe ich im Lockdown ganz gute Erfahrungen gemacht; natürlich nutzt nicht jeder Schüler diese Möglichkeit, aber immerhin habe ich ihnen die Chance zum Lernen gegeben, und besser als in einer Zoom-Konferenz kann man sich diese Lernvideos immer wieder anschauen und immer wieder damit üben.

Und wo wir schon bei der Corona-Situation sind: Gerade gestern noch habe ich mit Schülern darüber gesprochen, ob ihre Familien davon betroffen sind, und einer erzählt mir von seiner Großmutter mit Restaurant und Zimmervermietung, die einen weiteren Lockdown nicht überstehen würde. Jetzt kann man nur noch hoffen, dass die Hilfen der Bundesregierung zügig anlaufen und ausreichen.  Jetzt bin ich froh, dass ich einen "essentiellen" Job habe, aber vorher hat ja niemand damit gerechnet, dass eine weltweite Pandemie das öffentliche Leben flachlegt und man überhaupt in essentielle und nicht-essentielle Berufe unterteilen muss.

Ich wünsche allen da draußen, die betroffen sind, dass sie den November einigermaßen überstehen! Und allen Kollegen einen langen Atem (teilweise durch die Masken hindurch) und ein fröhliches Lüften. Und mir etwas mehr Vernunft, Entschleunigung und Knöchelabschwellen.

Sonntag, 25. Oktober 2020

"Lass' ma' Tanke!"

Wenn es dunkel ist und man Schoki braucht...

Ich komme gerade von der Tanke - Schokolade. Mein erstes Lass ma Tanke-Mal war erst im Studium, für die meisten meiner Mitschüler war es bereits in der Schule soweit, Mittelstufe, Oberstufe. Nach einer Musicalprobe - "Lass ma Tanke", nach einer Aufführung - "Lass ma Tanke" - immer dann, wenn die Supermärkte schon geschlossen hatten, auf dem Land also gefühlt von sechzehn bis acht Uhr. Im Studium dann nach den späten Seminaren, wobei daraus dann auch gern ein "Lass ma BK" wurde, außerdem wohnten wir in Kiel, da haben Supermärkte etwas länger geöffnet, im Jahr Zwanzig Zwanzig fünfundzwanzig Stunden am Tag.

Ganze Sätze hatten wir damals nicht, ganze Sätze haben unsere Schüler auch heute nicht. An meiner Schule heißt es oft "Lass ma Rewe", auch wenn direkt daneben ein günstiger Discounter ist, wobei... "Deine Mudda sucht bei Aldi im Schnapsregal eine neue Wohnung", das sagt schon alles. "Dr H, dürfen wir Handy?" ist auch Standard, da bin ich schon total erstaunt, geradezu sprachlos (toll, ich habe erst sprachklos geschrieben, Buba kötert), wenn die Es Uh Es fragen "Dürfen wir bei der Aufgabe Musik hören?" - Vollverben sind Mangelware. Braucht keiner. Und Hauptsache, es wird immer Tanken mit Schokolade außerhalb der normalen Öffnungszeiten geben.

Tanken, die man lässt, eben.

post scriptum: Kommt gut in die neue Woche, und lasst uns hoffen, dass uns die Vernunft vor einem neuen Lockdown schützt. Leider (und zum Glück) sind Menschen nun mal Menschen...

Freitag, 23. Oktober 2020

Zu nichts zu gebrauchen


Endlich stellen sich mehr Regelmäßigkeiten ein - für mich ein Zeichen, dass die Dinge ja vielleicht okay sein könnten, also beschwere ich mich nicht, wenngleich die neueste Regelmäßigkeit ein wenig unpraktisch ist: In den vier Arbeitstagen an einer so vielfältigen Schule wie unserer lädt sich mein Kopf mit immer mehr Eindrücken auf - Fachkonferenz, Elterngespräch, Rückgabe der Klassenarbeit, neue Kollegin im Stützpunkt, neue Corona-Vorgaben, Banktermin links, Telefonattermin rechts, und eigentlich müsste ich das jeden Tag in einer ausführlichen Meditation alles abarbeiten. 

Stattdessen nehme ich alle Erlebnisse in meinem Kopf auf, weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll, was sie für mein Leben bedeuten, ein wuseliger Arbeitstag nach dem anderen, ich bin nur noch auf Schule eingestellt, und am Donnerstag, meinem letzten Schultag, bin ich nach der letzten Schulstunde zu nichts mehr zu gebrauchen.

Ich will niemanden sehen, niemanden hören, den Meditationsabend aufmachen und anfangen, das ganze Chaos in meinem Kopf aufzuräumen. Jetzt, am Freitag, kommt so langsam Ordnung zustande, aber ich bin noch immer zu nichts zu gebrauchen, beantworte nur manche Nachrichten, das wird frühestens morgen besser werden. Das mag für meine Mitmenschen, die vielleicht auf Rückmeldung warten, sehr anstrengend sein - aber mir signalisiert es, dass die Dinge langsam wieder in Ordnung kommen. Ich brauche diese drei freien Tage tatsächlich, damit ich in der nächsten Woche wieder voller Energie in den Schulblock starten kann.

I'm all peopled out - diesen Satz habe ich in Attwoods Buch über das Asperger-Syndrom gelesen und finde ihn wunderbar beschreibend für diesen Zustand am Donnerstag. Also: Auf der einen Seite unerreichbar, zurückgezogen, still, auf der anderen Seite mit einem Lächeln im Gesicht, denn es könnte ja ein Zeichen für Besserung sein.

Montag, 19. Oktober 2020

Was für ein Käse!


Ich esse ganz gern Käse mit Spaghetti Bolognese - in dieser Reihenfolge; meistens finden sich die Nudeln unter einem riesigen Berg Parmesan. Seit etwa einem halben Jahr hat sich meine Gewohnheit ein wenig geändert; nicht nur, dass ich den Käse jetzt immer im Stück zuhause habe (weil das Aroma von frisch geriebenem Käse einfach schöner ist), sondern ich mische zu gleichen Teilen Parmesan und Pecorino, weil mir der Parmesan mittlerweile ein wenig zu lasch geworden ist. Der Pecorino, ein Schafskäse, ist ein ganzes Stück herzhafter und verträgt sich wunderbar mit der Spaghettisauce.

Sicher, das bedeutet ein wenig Handarbeit und gerne auch mal einen Krampf in der Hand, denn es ist ein ordentliches Stück Arbeit, die Käsestücke streufähig zu zerreiben, aber ich bilde mir ein, dass das Essen dann besser schmeckt, als wenn ich fertigen Streukäse in der Tüte kaufen würde. Und, das habe ich von Tony Attwood gelernt, für Aspis kann die Einbildung eine Menge ausmachen - deswegen esse ich bestimmte Gerichte auch nur mit bestimmtem Besteck.

So, das hatte jetzt überhaupt nichts mit der Schule zu tun und das ist auch gut so. Ich muss allerdings sagen, dass der erste Schultag schön war. Ich finde es schön, wieder vor den Schülern zu stehen, vor den ruhigen wie vor den lauten. Ich hoffe, Ihr seid ebenfalls gut gestartet und habt von Euren Kiddies die Bestätigung bekommen, dass Ihr im richtigen Beruf gelandet seid.

Sonntag, 18. Oktober 2020

Ungewisse Zeiten


Liebe Leute, wir sind am Ende der Herbstferien angekommen. Morgen geht es in S-H zurück in die Schule, und ich bin sehr gespannt, wie das werden wird, angesichts dieser rapide steigenden Infektionszahlen. Kommt es zu einem weiteren Lockdown? Distance Learning? Oder kommen wir gut durch? Das sind sicherlich ungewisse Zeiten.

Für mich wird es spannend, ab morgen mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, weil das Auto in der Werkstatt auf seine TÜV-Prüfung vorbereitet wird. Ich fahre mit dem Bus nur unmerklich länger zur Schule, der Rückweg könnte sogar schneller gehen, und ich werde sehr genau darauf achten, wie es klappt, denn sollte ich an dieser Schule bleiben können, rückt eine längerfristige Perspektive ohne Auto in den Blick. Weil es für die Umwelt besser ist, und weil ich es nicht gut schaffe, ein Auto zu pflegen.

Es wird also eine aus mehrerlei Sicht sehr interessante erste Woche. Meine Schüler in Neun sind im Praktikum und machen ihre ersten Erfahrungen in der Arbeitswelt da draußen - für sie wird es also auch interessant werden. Für die anderen Lerngruppen stehen in dieser ersten Woche einige ernste Worte an: Die Klassenarbeit wird zurückgegeben, und in Einzelgesprächen sondieren wir einmal den Leistungsstand. 

Kommt gut in die neue Woche, und bleibt gesund! 

Und: In der Ruhe liegt die Kraft.

Montag, 12. Oktober 2020

Geduld


Wer mich ein bisschen kennt, denkt sich wahrscheinlich, dass bei einer größeren Blogpause entweder ein neuer Film, eine neue Serie oder ein neues Videospiel dahintersteckt. Richtig gedacht: Da wäre zum einen The Haunting of Bly Manor (2020), die zweite Staffel nach der grandiosen Shirley Jackson-Verfilmung The Haunting of Hill House (2018) - mit einer Bewertung halte ich mich noch zurück. Bin mal gespannt, ob mein Eindruck sich mit dem Kritikerspiegel deckt. addendum: Ja, tut er.

Zum anderen wäre da Obduction - die Miller-Brüder, die kreativen Köpfe hinter der Myst-Reihe, die ich im Blog schon einmal kommentiert habe, haben vor einiger Zeit ein neues Spiel herausgebracht, das den Charakter von Myst behält, neue Technologie nutzt und eine high concept science fiction story erzählt. Mit allem, was ich an den anderen Spielen mochte: Viele Schalter zum Umlegen, viele Knöpfe, Gleise, Schwebebahn, knackige Rätsel, Atmosphäre pur. Und vor allem: Kein Stress. Kein Game Over. Ich kann das in aller Ruhe erleben.

Und genau um dieses "in aller Ruhe" geht es heute, denn früher hatte ich es nicht unbedingt mit der Ruhe. Einer der Nachteile, wenn man sehr intelligent ist: Der Kopf gewöhnt sich an die Grundhaltung, dass alles sehr schnell gehen muss. Aufgaben in der Schule, im Studium - sehr schnell erledigt. Und gerade wenn man noch davon ausgeht, der eigene Kopf ticke völlig normal, kommt man nicht auf die Idee, dass es auch anders ginge.

Man sitzt dann als Schüler im Unterricht, völlig unterfordert, und fragt sich, warum das nicht alles schneller voranginge. "Ich habe das doch alles schon verstanden, können wir nicht weitermachen?" Und auch, wenn man andere Menschen bei Aufgaben beobachtet, können einem schnell die Finger kribbeln. "Du brauchst so lange dafür... lass' mich das einfach machen, das geht schneller, dann können wir weitermachen." Vielleicht geht es anderen Hochbegabten da draußen nicht so - müsste ich aber erst noch kennen lernen, bisher konnte mir jeder Betroffene diesen Eindruck in unterschiedlichen Formen bestätigen.

Genau so bin ich auch an Spiele herangegangen, besonders Rätseladventures. Diese Spiele sind auf Ruhe und Langsamkeit ausgelegt, nicht auf Hektik. Wenn ich so ein Spiel vor mir hatte, die meisten Rätsel zügig lösen konnte, dann aber bei einem Rätsel nicht schnell genug auf die Lösung gekommen bin, habe ich mich schnell hilfesuchend an den Herrn WWW gewandt. So konnte ich die Spiele zwar zügig beenden, aber es geht ja nicht darum, möglichst fix an das Ziel zu kommen. In Rätseladventures ist der Weg das Ziel.

Das Meditationstraining und die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus haben mir einige Geduld beigebracht. Mittlerweile schaue ich nicht mehr nach Lösungen im Internet. Das kann dazu führen, dass ich ein Spiel beginne und dann mehrere Stunden lang an einem Rätsel festsitze, das Spiel dann erstmal wieder beende, ohne auch nur irgendeinen Fortschritt erreicht zu haben. Ich nehme das Rätsel dann mit in die Meditation, zerbreche mir weiterhin den Kopf, und wenn ich dann irgendwann die Lösung gefunden habe, ist das Gefühl einfach unbeschreiblich - zufrieden, erleichtert, glücklich, neu angespornt.

Klar, dass diese Geduld auch ihre Nachteile haben kann. In den unteren Klassenstufen, in denen die Schüler wuselig, laut und überall sind, hilft es nicht unbedingt, wenn man im Unterricht alle Klassengeräusche ganz geduldig hinnimmt, bis irgendwann die Schüler selbst sich beschweren, dass es zu laut im Raum ist und sie nichts lernen können. Trotzdem bin ich sehr glücklich darüber, dass ich etwas geduldiger geworden bin - wie ich auch damals schon im Blog in dem Artikel Entschleunigung geschrieben hatte.

In dem Sinne: Kommt entspannt und gelassen in die neue Woche!

(außer der Sannitanic, die wird Gelassenheit frühestens in siebzehn Jahren wieder erleben)

Montag, 5. Oktober 2020

Das neue Spiel (Kommentar)


Die aktuelle Kurzgeschichte hat sich aus einem visuellen Impuls heraus ergeben, den ich während einer Meditation hatte. Mit geschlossenen Augen habe ich diesen Würfel gesehen, um den es im Spiel geht; ich habe keine Ahnung, warum dieses Bild entstanden ist, aber es könnte damit zu tun haben, dass ich tatsächlich sehr gern Rätselspiele mag. Das Bild war so klar zu erkennen, dass ich mir vorgestellt habe, was wohl dahinterstecken könnte. So ist die Idee um ein Spiel entstanden, das Auswirkungen in der realen Welt haben könnte - mal wieder Science Fiction, weil ich es mag, realistische Szenarien zu wählen und ihnen dann einen fiktionalen Faktor hinzuzufügen.

So hatte ich dann relativ zügig den ersten Teil der Geschichte fertiggestellt, in dem der Protagonist die Regeln des Spiels erklärt, und mein Ziel war es, das Ganze möglichst authentisch erscheinen zu lassen, also habe ich einfach meine Blog-Persona gewählt, den typischen Sprachstil, damit zu Beginn der Story niemand allzu schnell auf die Idee kommt, dass es sich tatsächlich um Fiktion handelt. Ich habe der großen Buba diesen Teil zu lesen gegeben, und sie hat mir bestätigt, dass der erste Teil (bis zur Ankunft des seltsamen Pakets) durchaus glaubwürdig erscheint. Das hat mich beruhigt; ich hatte erst befürchtet, dass die Idee etwas zu abgedreht ist, dass Amazon plötzlich unangekündigte Pakete zuschicken könnte. Jeder Leser findet früher oder später heraus, dass es sich nicht um eine wahre Begebenheit handelt, klar. Spätestens bei der Beschreibung des "realen" Würfels, würde ich meinen. Hauptsache, der Leser wird erstmal unwissentlich in diese Geschichte hinein gezogen, mit dem Ziel, ihn dazu zu bringen, das Ende der Story erfahren zu wollen. Also genau wie mit einem Spieler, der sein Spiel irgendwann nicht mehr zur Seite legen kann.

Nun stellte sich aber noch die Frage, in welche Richtung ich mit der Geschichte gehen wollte. Sollte es eine alberne Katastrophe werden, so wie die Geschichte der tödlichen Zimtsterne oder des schaurigen Wanderers? Dann habe ich überlegt, ob ich den SciFi-Ansatz nicht mit etwas Pädagogischem verknüpfen könnte, so wie in der Geschichte Der Wiederholer, und dann ist mir die Idee gekommen, eine Art cautionary tale daraus zu machen, eine Story, die vor etwas warnen sollte, denn mir ist die Anekdote eines Schülers in den Kopf geschossen, der sich innerhalb eines Schulhalbjahres um zwei ganze Noten verschlechtert hat - nennen wir ihn Klaus, das ist nicht sein richtiger Name.

Ich fand es ziemlich beunruhigend, dass Klaus - sonst ein Dreier-Schüler in Englisch - in der ersten Klassenarbeit im neuen Jahr eine Fünf geschrieben hatte. Zunächst dachte ich an einen Einzelfall, Blackout, aber dann wurde auch die zweite Arbeit eine Fünf und ich habe mich am Elternsprechtag mit der Mutter zusammengesetzt. Wir sind verschiedene Erklärungsmöglichkeiten durchgegangen: Klaus könnte entdecken, dass er sich für Jungen interessiert, und Angst davor haben, oder er könnte Zugang zu psychoaktiven Substanzen gefunden haben, es könnten Probleme mit dem Hormonstoffwechsel vorliegen und noch weitere Gründe. Zu manchen Schülern kann ich einen sehr guten Zugang finden - bei Klaus dauerte es etwas länger, aber irgendwann hat er im Gespräch dann erzählt, dass das Problem ein neues Videospiel sei, das ihn rund um die Uhr fesselte. Natürlich waren die Mutter und ich erstmal beruhigt, dass es nichts Psychisches oder Gesundheitliches im klassischen Sinne war - aber es blieb dabei: Klaus hatte sich sehr zurückgezogen, den Kontakt zu seinen Freunden schleifen lassen und er war in der Schule extrem abgerutscht. Es hat eine ganze Menge Arbeit gebraucht, bis wir ihn wieder auf seinen "normalen" Weg zurückbringen konnten.

Ich kann diese Anekdote einfach nicht vergessen - vielleicht auch, weil ich selbst Videospieler bin und das Problem kenne - dass man sich nicht von dem Geschehen auf dem Bildschirm losreißen kann. Also habe ich mir überlegt, wie ich die Geschichte des seltsamen Würfels mit der Schulanekdote verbinden konnte. Am Ende sollte die Geschichte eines Menschen stehen, der sich wegen eines Spiels von der Außenwelt abkapselt. Aber er sollte, quasi als Inversion, sich nicht ganz freiwillig dazu entscheiden, seine Arbeit und seine Kontakte zu vernachlässigen; das Spiel sollte ihn zwingen, und dazu musste die Komponente des Größerwerdens hinzugefügt werden - damit der Würfel eine echte Gefahr darstellen würde. Der Protagonist sollte gezwungen werden, mehr und mehr Zeit mit dem Spiel zu verbringen; auch bei der klassischen Spielsucht mag am Anfang die bewusste Entscheidung stehen, noch ein, zwei Stunden, noch drei, vier Levels weiter zu spielen, aber irgendwann stellt sich dem Abhängigen diese Wahl nicht mehr, sondern es hat sich zu einem Zwang entwickelt.

Der größte Unterschied zwischen der Entwicklung in der Geschichte und dem realen Leben dürfte im zeitlichen Ablauf liegen. In der Geschichte reicht es, den zerbrochenen Couchtisch zu sehen, um zu realisieren, dass irgendwas nicht in Ordnung ist; im realen Leben merkt ein Spielsüchtiger von seiner Sucht in der Regel erst etwas, wenn es zu spät ist, und wenn er ohne Hilfe diesem Sog nicht mehr entkommen kann. In dieser Hinsicht habe ich das Ende der Story durch die rosarote Brille gesehen.

Ich habe versucht, es nicht zu fröhlich werden zu lassen, ein kleines Aber! einzubauen, indem der Protagonist bei'm Deinstallieren des Spiels auf ein anderes, neues Spiel hingewiesen wird, und natürlich soll das Ende suggerieren, dass er sich gleich in die nächste Abhängigkeit stürzt. Das entspricht dann wieder dem realen Leben, denn trotz Heilung von einer Abhängigkeit erlangt man damit keine Immunität, sondern lebt ständig in Rückfallgefahr. Mark Twain soll sinngemäß einmal gesagt haben, es sei kinderleicht, mit dem Rauchen aufzuhören - er habe es schon hundertmal geschafft.


Liebe Lehrkräfte, unsere Schulkiddies sind digital natives, für sie ist der Zugang zu Videospielen etwas Selbstverständliches, leider im Gegensatz zur Aufklärung über die Gefahren. Pädagogisieren ohne konkreten Anlass nützt da oftmals nichts. Haltet Eure Augen geöffnet, beobachtet unerwartet stark abfallende Leistungen Eurer Lernenden, achtet darauf, ob sie sich zurückziehen, weniger mit ihren Freunden machen, ob sie stiller im Unterricht werden, ob sie klärende Gespräche vermeiden wollen, und bleibt im Kontakt mit den Erziehungsberechtigten. Signalisiert Verständnis, denn oft kommt es vor, dass ein videospielender Jugendlicher sich denkt, dass die "alten" Lehrer sowieso keine Ahnung haben, was Videospiele sind, und auch kein Verständnis dafür haben - denn in ihren Augen sind das ja eh' nur alles brutale Ballerspiele (und die Medienberichterstattung trägt leider zu diesem Eindruck bei).

Freitag, 2. Oktober 2020

Das neue Spiel


Ich spiele seit einiger Zeit ein neues Spiel, faszinierend, ungewöhnlich, intellektuell fordernd und mit einem abgedrehten Humor - also genau das Richtige für mich; es erinnert mich ein wenig an den Rubik's Cube. Das Spiel wird von Amazon produziert? gesponsert? ...whatever, jedenfalls steckt Amazon mit drin und das wird später noch relevant sein. 

Es ist kein kostenloses Videospiel; man muss sich einen Account anlegen und kann dann für einen Euro das Spiel für vierundzwanzig Stunden auf dem eigenen Gerät freischalten. Das könnte als pure Abzocke betrachtet werden, vor allem, weil das Spiel ein hohes Suchtpotential hat, aber es gibt da eine kleine, aber geniale Regel, die das alles aufwiegen könnte.

Zuerst aber zu den Regeln: Das Spiel ist minimalistisch aufgebaut; auf dem Bildschirm sieht man einen großen dreidimensionalen Würfel, wie aus Plexiglas, und in diesem großen Würfel befinden sich maximal drei mal drei mal drei kleinere Würfel (auf höheren Leveln können es auch vier oder fünf hoch drei Würfel sein). Der Würfel ist nicht bis obenhin mit diesen kleinen Würfeln gefüllt, gerade am Anfang ist noch sehr viel leerer Raum vorhanden, sonst könnte man das Spiel auch gar nicht spielen, denn es geht darum, den großen Würfel zu drehen.

Es gibt Drehungen um neunzig Grad, so dass man den Würfel auf jede angrenzende Seite drehen kann. Da die Schwerkraft hier vorhanden ist, bedeutet das, dass bei einer Drehung die Würfel im Inneren umherfallen und neu ausgerichtet werden. Die kleinen Würfel sind farbig, immer in maximal sechs verschiedenen Farben, die in den höheren Levels auch mal wechseln können. Die Grundfarben sind rot, gelb, grün, blau, orange und violett. Selten ist ein kleiner Würfel auch mehrfarbig.

Der große Würfel, in dem sich die kleineren befinden, hat verschiedenfarbige Seiten; sechs unterschiedliche Farben, und deswegen haben die kleinen Würfel auch maximal sechs verschiedene Farben. Es ist nämlich so: Wenn ein kleinerer roter Würfel auf die rote Seite des großen Würfels fällt, fällt er aus dem Würfel heraus und ist damit verschwunden. Das Ziel ist es, mit möglichst wenigen Drehungen alle kleinen Würfel "abzuräumen", damit der große Würfel leer ist.

Das ist am Anfang noch sehr einfach, aber es kommen unterschiedliche Hürden dazu: Die Zahl der Innenwürfel steigt, die Schwerkraft wirkt zeitweilig in eine andere Richtung - das kann sehr verwirrend sein, wenn auf einmal alle Würfel nach links fallen - oder die Schwerkraft ist für einen Moment komplett aufgehoben, so dass man den Außenwürfel beliebig drehen kann, ohne die Position der Innenwürfel zu verändern. 

Man kann auch Spezialgegenstände bekommen, mit denen man zum Beispiel eine Seite des Außenwürfels neu einfärben kann, oder einen beliebigen Innenwürfel auflösen. Einer der besonderen Gegenstände ist die White Hole Sphere, und jetzt wird es richtig interessant: Wenn man diesen Gegenstand benutzt, wirkt die Schwerkraft in alle Richtungen gleichzeitig, die Würfel werden quasi vom Mittelpunkt des Außenwürfels abgestoßen und können zu mehreren Außenseiten herausfallen. 

Wenn man es schafft, die kleinen Würfel richtig zu positionieren und dann die White Hole Sphere benutzt, kann man alle Würfel gleichzeitig zu allen Seiten herausfallen lassen und den gesamten Außenwürfel aufräumen. Das kommt nur äußerst selten vor, aber wenn man es schafft, bekommt man einen Preis - im realen Leben! 

Der Wert des Preises errechnet sich nach den Beiträgen, die ich seit dem letzten Gewinn eingezahlt habe (ein Euro für vierundzwanzig Stunden). So hatte ich zum Beispiel gleich am dritten Spieltag es geschafft, alles abzuräumen. Mein Gewinn hatte daher einen Ausgangswert von drei Euro. Das wird mit einem zufälligen Multiplikator von null bis maximal hundertfünfzig Prozent verrechnet, so dass mein Gewinn einen zufälligen Wert zwischen null Euro und vier Euro fünfzig hatte. Auch die Art des Gewinnes wird dann per Zufallsgenerator aus dem gesamten Sortiment von Amazon bestimmt. Ich habe von Nutzern gelesen, die eine von diesen japanischen Winkekatzen bekommen hatten, oder ein HDMI-Kabel, oder einen Roman, mal war es eine Videospielkonsole (will nicht wissen, wie lange dieser Nutzer dafür hat spielen müssen), mal ein Klorollenhalter. 

Was genau der Preis ist, erfährt man erst, wenn der Postbote kommt und das Päckchen auspackt. Man erkennt diese Päckchen daran, dass das ganz normale A-Logo von Amazon darauf ist, aber in einem Würfelnetz gedruckt. So habe also auch ich Post bekommen - es war ein recht kleiner Brief, war ja logisch, bei dem Wert - und darin fand ich einen Tubenschlüssel. Das ist so ein Teil, mit dem man Cremetuben (Zahnpasta, Hautcreme usw.) aufrollen kann, um sie ganz einfach möglichst vollständig zu leeren. Eigentlich Tinnef, aber momentan habe ich das Ding bei mir im Bad und rolle damit Neurodermitiscremes auf, muss wohl eine Art Stolz sein, dass ich die Herausforderung geschafft habe. Immerhin, ein paar Wochen später habe ich ein neues Duschhandtuch bekommen. In rot, wie toll. Ist im Kleidersack gelandet.

Das Spiel macht wirklich süchtig, weil immer die Aufregung dabei ist, ob man diesmal eine White Hole Sphere bekommt und alles mit einem Schlag abräumen kann. Die Musik im Spiel ist großartig, Ambient, entspannend, und es gibt eine Stimme, die manche Spielzüge kommentiert, und sie ist so herrlich sarkastisch, fast schon zynisch, und sie wird nicht müde, mich daran zu erinnern, dass ich in der ganzen Zeit eigentlich auch in der realen Welt etwas erledigen bzw. erleben könnte. Aber das muss warten; ich bin jetzt schon eine Menge Levels aufgestiegen, ich habe jetzt den vier mal vier mal vier Würfel, mehrfarbige Miniwürfel, manchmal wechselnde Farben des Außenwürfels, so langsam wird es ziemlich komplex und ich liebe es, wie mein Kopf raucht.

Ich habe auch heute wieder zwei Stunden davor verbracht und würde wahrscheinlich immer noch davor sitzen, wenn es nicht an der Tür geklingelt hätte und ich wieder ein Paket mit dem A-Logo in einem Würfelnetz bekommen hätte. Das hat mich ein bisschen verwirrt, denn ich habe bisher keinen neuen Jackpot geschafft, das rote Handtuch war das letzte, was ich gewonnen hatte. Ich habe das Paket noch nicht geöffnet, denn irgendwie finde ich das schon komisch. Ob das eine Werbeaktion ist? Irgendeine personalisierte Werbeaktion anhand meiner Nutzerdaten, oder ob es irgendwas mit Phishing zu tun hat?

Jedenfalls wollte ich diese Gelegenheit nutzen und Euch erstmal von diesem Spiel schreiben. Ich hätte das schon viel früher tun können, aber wie immer, wenn etwas meine volle Aufmerksamkeit bekommt, vergesse ich alles um mich herum. Dieses Paket hat mich quasi aus meiner Spielewelt herausgerissen, und jetzt, wo ich das alles für den Blog geschrieben habe, habe ich keine Lust mehr zu warten. Ich mache mich mal an's Öffnen; das Teil ist etwas größer als ein Schuhkarton und verhältnismäßig schwer, schauen wir mal...

...okay, und so schnell kann es zwei Stunden später sein. Ich bin etwas überrascht, und irgendwie ist die ganze Sache auch ein bisschen creepy, ich hab erstmal gegoogelt, ob ich Infos zu dem Paket bekommen kann - nada. Nichts. In dem Paket war ein Würfel aus - ist das Plexiglas? Oder Acrylglas? Kantenlänge zehn Zentimeter, habe gerade nachgemessen, also recht handlich, und darin sind kleinere Würfel. Also quasi wie das Videospiel, nur in echt. Und mein erster Gedanke war, okay, das soll vielleicht ein Souvenir sein, um ein bisschen Werbung für das Programm zu machen, und ich hab den Würfel einfach dekorativ auf den Couchtisch gestellt.

Ich habe erstmal nicht weiter darauf geachtet, aber nach einer halben Stunde oder so kam ein Geräusch von dem Würfel, so eine Art Plastikgeklöter, und dann habe ich tatsächlich einen Schreck bekommen, denn ohne Vorwarnung war da ein weiterer Würfel in dem großen Würfel - erst waren es sechs, jetzt sind es sieben. Waren es sieben; ich fand das ziemlich gruselig, wie ein Würfel aus dem Nichts erscheinen kann, und dann bin ich auf die Idee gekommen, dass das ja mit visuellen Effekten gemacht sein könnte, dass da also keine echten Würfel drin sind, sondern Hologramme oder so etwas - ich bin mit optischer Technik nicht so vertraut. 

Also habe ich mir den Würfel genommen und geschaut, ob ich ihn auseinandernehmen kann, habe nach Schrauben gesucht, aber da war nichts zu sehen. Nur glatte Seiten und Kanten aus "Glas". Als ich den Würfel dann herumgedreht habe, um die Unterseite abzusuchen, ist genau das passiert, worum es im Spiel ging: Ein grüner Würfel ist auf die grüne Außenseite gefallen und hat sich aufgelöst. Ich habe KEINE Ahnung, wie man so etwas entwerfen kann, welche Technik dahintersteckt, aber ich finde das ziemlich cool, dass es das Spiel jetzt auch in echt gibt. Ich habe direkt am Würfel herumgedreht, und jetzt ist es etwas später und ich habe fast alle Würfel in dem großen Würfel abgeräumt. Nice! Ich frage mich, ob man hier auch "Bonusgegenstände" bekommen kann, wie die White Hole Sphere - ich halte Euch auf dem Laufenden, jetzt muss ich erstmal in's Bett, denn es ist kurz vor Mitternacht und die letzte Schulwoche steht an.

(...)

Jetzt nimmt das Ganze etwas sonderbare Forman an. Long story short: Ich bin aufgewacht und der Würfel war fast komplett wieder mit kleinen Würfeln angefüllt, muss über Nacht passiert sein - und ich hab überlegt, ob ich schnell vor der Schule noch eine Runde damit spielen sollte, aber das ging nicht, ich musste pünktlich zu einer Mikrofortbildung da sein, also habe ich den Würfel liegen gelassen. Es ist jetzt gerade... fünfzehn Uhr zwanzig, und ich habe ja damit gerechnet, dass der Würfel mittlerweile voll sein würde, aber das hier macht mir echt ein bisschen Angst: Der Würfel ist etwas größer als am Anfang. Wie in dem Videospiel passen jetzt vier Würfel je Kante hinein, ich habe nachgemessen, die Kantenlänge beträgt jetzt exakt dreizehn Zentimeter. So etwas kann es gar nicht geben, und ich fühle mich wie in einer Science Fiction-Geschichte. Und es kommt noch besser: Ich habe ein bisschen mit dem Würfel gespielt und versucht, viele kleine Würfel loszuwerden, und als ein großer Teil abgeräumt war, ist mir der Würfel aus der Hand gefallen - weil er kleiner geworden ist?!

Das sollte jetzt eigentlich der Moment sein, an dem ich bei Amazon anrufe, denn so nett dieses Spiel auch ist, das geht mir einen Schritt zu weit. Ich habe jetzt gerade aber keinen Nerv dafür, morgen lasse ich zwei Klassenarbeiten schreiben und wir haben Fachkonferenz. Kommt auf die To Do-Liste. 

(...)

Schlecht geschlafen. Mir lässt das keine Ruhe, und dann bin ich viel zu spät eingedöst und habe verschlafen, so eine Scheiße. Direkt zur Schule, gar nicht an den Würfel gedacht, Unterrichtsprogramm abgespult und dann wieder ab nach Hause - und jetzt fangen die Probleme richtig an. Ich hatte den Würfel auf dem Couchtisch gelassen - als ich reingekommen bin, lag er auf dem Fußboden. Sehr viel größer, und offenbar sehr viel schwerer, denn die Ecke der Tischplatte (aus Glas) ist abgebrochen. Scherben auf dem Fußboden und dazwischen ein Würfel mit weit über zweihundert Würfeln darin. Nein, das müssen rein rechnerisch weit über fünfhundert Würfel sein; die Kantenlänge des Würfels ist über dreißig Zentimeter, und es passen jetzt nach Augenmaß bis zu tausend Würfel hinein.

Ich muss das irgendwie loswerden. Ich habe versucht, den Würfel herumzukippen, aber er ist mittlerweile echt schwer geworden. Zum Glück geht es noch, und ich habe laut Uhr fünf Stunden gebraucht, um den Würfel wieder deutlich zu verkleinern - da geht die nächste Nacht dahin, es ist vier Uhr morgens, und warum schreibe ich das überhaupt noch.

(...)

FUCK!!! 

(...)

Okay, es ist Donnerstag, mein letzter Schultag ist vorbei, meine Nerven auch. Wo fange ich an. Ich war zwei Tage nicht in der Schule. Dienstag habe ich FUCK!!! geschrieben, weil ich nach drei Stunden Schlaf gesehen habe, dass der Würfel sich wieder auf acht mal acht mal acht kleine Würfel vergrößert hatte. Die neuen Würfel sind immer schneller aufgetaucht! Am Anfang ist ein Würfel alle halbe Stunde herausgeploppt, jetzt hat es nicht mal mehr drei Minuten gedauert! Und im Panikmodus kann ich nicht mehr sehr gut denken - einzige Überlegung: Wenn ich jetzt in die Schule fahre, dürfte mich am Nachmittag in meiner Wohnung das absolute Chaos erwarten, wenn der Würfel wieder größer geworden ist und irgendwann womöglich meine Einrichtung zerlegt, also habe ich mich krankgemeldet. Sowas hatte ich echt noch nie, blaumachen und so. Was für ein Scheißgefühl, aber immerhin konnte ich mich dem Würfel zuwenden.

Ich habe den ganzen Tag gebraucht, nichts gegessen, und ich bin auch nicht an's Telefon gegangen, als es zweimal geklingelt hat, oder vielleicht auch öfters, ich habe das nicht mehr so ganz mitbekommen. Wenn ich das Spiel auch nur zehn Minuten allein gelassen habe, waren wieder eine ganze Reihe neuer Würfel aufgetaucht, immer schneller und ich musste gegenan arbeiten. 

Irgendwann am späten Abend war es geschafft - die Zeit habe ich auch nicht mehr mitbekommen, weil ich immer schneller gegen die neuen Würfel ankämpfen musste, aber nach und nach ist der Würfel kleiner geworden. Klar, ich liebe das Kopfrauchen bei Logikspielen, aber das war echt zu hart. irgendwann hatte ich nur noch vier kleine Würfel, und nach ein paar weiteren Drehungen, waren sie verschwunden - und mit dem letzten Würfel hat sich dann der große Würfel einfach aufgelöst.

Ich war so kaputt und habe einfach erstmal geglaubt, dass das alles war, und bin in's Bett gefallen - und habe dann erst gemerkt, welcher Schlafentzug sich bei mir angestaut hatte, denn ich habe den ganzen Mittwoch durch geschlafen - ohne mich bei der Schule abzumelden, ohne alles, und erst nach dem Aufwachen, als ich gesehen habe, dass der Würfel tatsächlich komplett verschwunden war, habe ich meinen Rechner gestartet und gesehen, dass sich achtunddreißig Mails angesammelt hatten, die ich nicht gelesen hatte, und vier Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.

Ich habe mich SO MIES gefühlt... weil sich Leute wirklich Sorgen um mich gemacht haben. Und weil ich die Schule vollkommen im Unklaren gelassen habe. Heute bin ich dann endlich wieder zum Unterricht gegangen, ich war bei Silke, meiner Schulleiterin, und habe mich entschuldigt. Und als erstes habe ich das Spiel von meinem Rechner gelöscht. Spannend schön und gut, aber es hat mir gereicht; mein Tisch kaputt, völlig übernächtigt, meine Mitmenschen besorgt oder enttäuscht, weil ich nicht mehr erreichbar bin, und ich werde ihnen das nicht einmal sinnvoll erklären können, denn das glaubt mir garantiert keiner. Alles, was sie mitbekommen haben, war, dass ich mich zurückgezogen habe, ohne Kommentar, dass meine Arbeit darunter gelitten hat und dass ich keine Mails mehr beantwortet habe.

Es hat so gut getan, den Uninstall-Button zu klicken. Als ob eine Last von mir abfällt. Aber auf der Seite mit der "Danke, dass Sie gespielt haben!"-Seite wurde ein interessantes neues Spiel gezeigt, das klingt echt faszinierend, und jetzt sind ja Ferien...


Disclaimer: Diese Geschichte ist Fiktion. Dieses Spiel gibt es nicht - aber das beschriebene Problem gibt es sehr wohl, in allen Altersgruppen, und in meinem nächsten Beitrag werde ich einen kleinen Kommentar zu dieser Geschichte schreiben - warum mir als Lehrer diese Thematik besonders wichtig ist. Spielsucht kann in allen Altersgruppen auftauchen, sie ist ein alter Hut, aber keine Kleinigkeit. Seid wachsam und achtet auf auffälliges Verhalten bei Euren Schülern, unentschuldigtes Fehlen, Müdigkeit, rapider Abfall der schulischen Leistungen, Zurückgezogenheit, Nicht-Darüber-Reden-Wollen und mehr.