Montag, 5. Oktober 2020

Das neue Spiel (Kommentar)


Die aktuelle Kurzgeschichte hat sich aus einem visuellen Impuls heraus ergeben, den ich während einer Meditation hatte. Mit geschlossenen Augen habe ich diesen Würfel gesehen, um den es im Spiel geht; ich habe keine Ahnung, warum dieses Bild entstanden ist, aber es könnte damit zu tun haben, dass ich tatsächlich sehr gern Rätselspiele mag. Das Bild war so klar zu erkennen, dass ich mir vorgestellt habe, was wohl dahinterstecken könnte. So ist die Idee um ein Spiel entstanden, das Auswirkungen in der realen Welt haben könnte - mal wieder Science Fiction, weil ich es mag, realistische Szenarien zu wählen und ihnen dann einen fiktionalen Faktor hinzuzufügen.

So hatte ich dann relativ zügig den ersten Teil der Geschichte fertiggestellt, in dem der Protagonist die Regeln des Spiels erklärt, und mein Ziel war es, das Ganze möglichst authentisch erscheinen zu lassen, also habe ich einfach meine Blog-Persona gewählt, den typischen Sprachstil, damit zu Beginn der Story niemand allzu schnell auf die Idee kommt, dass es sich tatsächlich um Fiktion handelt. Ich habe der großen Buba diesen Teil zu lesen gegeben, und sie hat mir bestätigt, dass der erste Teil (bis zur Ankunft des seltsamen Pakets) durchaus glaubwürdig erscheint. Das hat mich beruhigt; ich hatte erst befürchtet, dass die Idee etwas zu abgedreht ist, dass Amazon plötzlich unangekündigte Pakete zuschicken könnte. Jeder Leser findet früher oder später heraus, dass es sich nicht um eine wahre Begebenheit handelt, klar. Spätestens bei der Beschreibung des "realen" Würfels, würde ich meinen. Hauptsache, der Leser wird erstmal unwissentlich in diese Geschichte hinein gezogen, mit dem Ziel, ihn dazu zu bringen, das Ende der Story erfahren zu wollen. Also genau wie mit einem Spieler, der sein Spiel irgendwann nicht mehr zur Seite legen kann.

Nun stellte sich aber noch die Frage, in welche Richtung ich mit der Geschichte gehen wollte. Sollte es eine alberne Katastrophe werden, so wie die Geschichte der tödlichen Zimtsterne oder des schaurigen Wanderers? Dann habe ich überlegt, ob ich den SciFi-Ansatz nicht mit etwas Pädagogischem verknüpfen könnte, so wie in der Geschichte Der Wiederholer, und dann ist mir die Idee gekommen, eine Art cautionary tale daraus zu machen, eine Story, die vor etwas warnen sollte, denn mir ist die Anekdote eines Schülers in den Kopf geschossen, der sich innerhalb eines Schulhalbjahres um zwei ganze Noten verschlechtert hat - nennen wir ihn Klaus, das ist nicht sein richtiger Name.

Ich fand es ziemlich beunruhigend, dass Klaus - sonst ein Dreier-Schüler in Englisch - in der ersten Klassenarbeit im neuen Jahr eine Fünf geschrieben hatte. Zunächst dachte ich an einen Einzelfall, Blackout, aber dann wurde auch die zweite Arbeit eine Fünf und ich habe mich am Elternsprechtag mit der Mutter zusammengesetzt. Wir sind verschiedene Erklärungsmöglichkeiten durchgegangen: Klaus könnte entdecken, dass er sich für Jungen interessiert, und Angst davor haben, oder er könnte Zugang zu psychoaktiven Substanzen gefunden haben, es könnten Probleme mit dem Hormonstoffwechsel vorliegen und noch weitere Gründe. Zu manchen Schülern kann ich einen sehr guten Zugang finden - bei Klaus dauerte es etwas länger, aber irgendwann hat er im Gespräch dann erzählt, dass das Problem ein neues Videospiel sei, das ihn rund um die Uhr fesselte. Natürlich waren die Mutter und ich erstmal beruhigt, dass es nichts Psychisches oder Gesundheitliches im klassischen Sinne war - aber es blieb dabei: Klaus hatte sich sehr zurückgezogen, den Kontakt zu seinen Freunden schleifen lassen und er war in der Schule extrem abgerutscht. Es hat eine ganze Menge Arbeit gebraucht, bis wir ihn wieder auf seinen "normalen" Weg zurückbringen konnten.

Ich kann diese Anekdote einfach nicht vergessen - vielleicht auch, weil ich selbst Videospieler bin und das Problem kenne - dass man sich nicht von dem Geschehen auf dem Bildschirm losreißen kann. Also habe ich mir überlegt, wie ich die Geschichte des seltsamen Würfels mit der Schulanekdote verbinden konnte. Am Ende sollte die Geschichte eines Menschen stehen, der sich wegen eines Spiels von der Außenwelt abkapselt. Aber er sollte, quasi als Inversion, sich nicht ganz freiwillig dazu entscheiden, seine Arbeit und seine Kontakte zu vernachlässigen; das Spiel sollte ihn zwingen, und dazu musste die Komponente des Größerwerdens hinzugefügt werden - damit der Würfel eine echte Gefahr darstellen würde. Der Protagonist sollte gezwungen werden, mehr und mehr Zeit mit dem Spiel zu verbringen; auch bei der klassischen Spielsucht mag am Anfang die bewusste Entscheidung stehen, noch ein, zwei Stunden, noch drei, vier Levels weiter zu spielen, aber irgendwann stellt sich dem Abhängigen diese Wahl nicht mehr, sondern es hat sich zu einem Zwang entwickelt.

Der größte Unterschied zwischen der Entwicklung in der Geschichte und dem realen Leben dürfte im zeitlichen Ablauf liegen. In der Geschichte reicht es, den zerbrochenen Couchtisch zu sehen, um zu realisieren, dass irgendwas nicht in Ordnung ist; im realen Leben merkt ein Spielsüchtiger von seiner Sucht in der Regel erst etwas, wenn es zu spät ist, und wenn er ohne Hilfe diesem Sog nicht mehr entkommen kann. In dieser Hinsicht habe ich das Ende der Story durch die rosarote Brille gesehen.

Ich habe versucht, es nicht zu fröhlich werden zu lassen, ein kleines Aber! einzubauen, indem der Protagonist bei'm Deinstallieren des Spiels auf ein anderes, neues Spiel hingewiesen wird, und natürlich soll das Ende suggerieren, dass er sich gleich in die nächste Abhängigkeit stürzt. Das entspricht dann wieder dem realen Leben, denn trotz Heilung von einer Abhängigkeit erlangt man damit keine Immunität, sondern lebt ständig in Rückfallgefahr. Mark Twain soll sinngemäß einmal gesagt haben, es sei kinderleicht, mit dem Rauchen aufzuhören - er habe es schon hundertmal geschafft.


Liebe Lehrkräfte, unsere Schulkiddies sind digital natives, für sie ist der Zugang zu Videospielen etwas Selbstverständliches, leider im Gegensatz zur Aufklärung über die Gefahren. Pädagogisieren ohne konkreten Anlass nützt da oftmals nichts. Haltet Eure Augen geöffnet, beobachtet unerwartet stark abfallende Leistungen Eurer Lernenden, achtet darauf, ob sie sich zurückziehen, weniger mit ihren Freunden machen, ob sie stiller im Unterricht werden, ob sie klärende Gespräche vermeiden wollen, und bleibt im Kontakt mit den Erziehungsberechtigten. Signalisiert Verständnis, denn oft kommt es vor, dass ein videospielender Jugendlicher sich denkt, dass die "alten" Lehrer sowieso keine Ahnung haben, was Videospiele sind, und auch kein Verständnis dafür haben - denn in ihren Augen sind das ja eh' nur alles brutale Ballerspiele (und die Medienberichterstattung trägt leider zu diesem Eindruck bei).

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