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Freitag, 14. März 2025

Ostufer


So, die erste Schulwoche nach der Krankschreibung ist um. Das Prednisolon tut seinen Dienst, mit ein paar Aussetzern zwischendurch geht es mir doch deutlich besser, so gut, dass ich mich heute an's Schreiben mache. 

Vor etwa zwanzig Jahren hat die Tante mir einen Tipp gegeben: "Wenn Du mit der U-Bahn und S-Bahn fährst, nimm' Dir mal eine halbe Stunde und steig' in Neukölln aus. Geh' die Karl-Marx-Straße rauf und runter, da kannst Du mal eine Brise echtes Leben erleben."

Neukölln ist für Berlin in etwa das, was Gaarden für Kiel ist. Ein Stadtteil, in dem viele sozial abgehängte Menschen leben, viele mit Migrationshintergrund und seit Merkel auch sehr viele Flüchtlinge. Das betrifft in Kiel aber nicht nur Gaarden, sondern auch Ellerbek und Wellingdorf. Es ist doch ein deutlicher Unterschied zwischen dem "Sozialniveau" des Ost- und Westufers. Am Westufer wird Kiel zur Studentenstadt (ja, auch an der Fachhochschule am Ostufer), da gibt es gehobene Stadtteile wie den Blücherplatz, das habe ich zehn Jahre lang erlebt.

Jetzt arbeite ich an einer Perspektivschule mit dem Schulsozialindex 9 (whatever). Ich gehe quasi die Karl-Marx-Straße in Berlin entlang. Ich erlebe eine andere Seite unserer Gesellschaft und ich finde es toll, denn es fühlt sich an, als könnte ich da etwas bewirken. Es tut so gut, wieder in der Schule zu sein! Und zu helfen. Das ist Pädagogik pur, könnte man sagen. Es schlaucht, und es macht glücklich. Es ist nicht jeder Lehrkraft Traum, aber die Nordseeschule in St.Peter-Ording hat mir gezeigt, dass das was für mich ist.

Ich frage mich, ob die sozialen Unterschiede zwischen dem Kieler West- und Ostufer irgendwann aufgehoben werden können, und sei es nur teilweise. Oder ob die Kluft, im Gegenteil, sich weiter vertiefen wird.

Samstag, 16. November 2024

Durch - und verlängert!


Eine weitere Woche, an deren Ende ich auch am Ende bin. Ich könnte auf die Entzündungen im Mund- und Rachenraum verzichten, meine Zunge kribbelt und schmerzt, wenn ich Nahrung mit festerer Textur zu mir nehme, ich kann die Aromen nicht mehr normal schmecken, und das Warten auf die Remissionsphase nervt. Dazu kommen dann spontan zwischendurch irgendwelche Gelenkentzündungen, die schnell kommen und relativ schnell gehen können, aber doch dafür sorgen können, dass ich ein paar Stunden nicht laufen kann. Alles interessantes Neuland für mich, aber nun ist mal gut.

Dazu kommt der herausfordernde Job in der Schule - ich gehe in die Klasse, ein Drittel der Kiddies fehlt, jemand kommt angelaufen und sagt mir "Klaus ist abgehauen", und ich muss erstmal realisieren, warum überhaupt so wenige da sind; dazu kommt von links "Bekommen wir unsere Arbeit zurück?" und von rechts "Sollen die Klassenleiter losgehen, um Klaus zu holen?" und von vorne links "Ich habe Bauchschmerzen, darf ich nach Hause gehen?" und von vorne rechts "Haben sie ihre Haare jetzt rot gefärbt?" - alles gleichzeitig. Ernsthaft - ist so passiert. Der Autist (ich) steuert in einem Mordstempo auf den Meltdown zu, und dann kommt zum Glück meine Zweitsteckung und wir versuchen, das Chaos zu zweit in den Griff zu bekommen.

Solche Situationen sind an Perspektivschulen nicht selten, und es erfordert einem viel Kraft ab, ruhig zu bleiben und alles zu regeln. Ich sehe das im Unterricht anderer KollegInnen, die schon länger hier arbeiten, und beneide sie unglaublich - und versuche mir aus ihrem Unterrichtsverhalten Tipps für mich herauszuholen.

Denn so chaotisch und auslaugend das klingen mag - und auch definitiv ist, zumindest für mich - so sehr ist das genau die Arbeit, die ich leisten möchte. Ich möchte diese Kinder und Jugendlichen unterstützen, die oftmals keine Kindheit und Jugend genießen konnten, weil sie zum Beispiel auf der Flucht waren. Aus ihren Häusern gebombt in einem Alter, in dem sie das alles noch gar nicht verstehen konnten. Denen zuhause die Bezugspersonen fehlen, zum Beispiel weil auf der Flucht umgekommen oder in der Heimat verblieben, hoffend auf bessere Zeiten. Der übrige Elternteil - möglicherweise überfordert mit den vielen Kindern, das sind zerrüttete Verhältnisse, die ich mir nichtmal ansatzweise vorstellen kann. Deswegen verurteile ich nie diese Kiddies, wenn sie mal wieder Mist gebaut haben. Ich versuche ihnen so viel Mitgefühl und liebende Güte (Buddhismus) zukommen zu lassen, wie ich kann. Dabei ist mir manchmal der Autismus im Weg, und ich bin so sehr auf die Unterstützung der KollegInnen angewiesen...

...aber es funktioniert so langsam! Der Job belastet mich nicht nur, er ist in den meditativen Nachgängen so ungemein bereichernd, erweitert meinen Horizont für das, was andere Menschen auf dieser Welt durchmachen. Ich möchte unbedingt weiterarbeiten, auch wenn ich aufgrund meiner Fächerkombination möglicherweise nie eine Planstelle an dieser Schule bekommen werde.

Und immerhin in dieser Hinsicht sieht es positiv aus: Mein Verlängerungsvertrag ist angekommen und jetzt unterschrieben! Ich kann in vollem Umfang bis Ende des Halbjahres weiterarbeiten. Was dann kommt, sehen wir dann. 

Jetzt ist endlich eine Blockade im Gehirn gelöst und ich kann mich auf die Suche nach einer gastroenterologischen Diagnose machen. Montag geht es los.

Daumen drücken!

post scriptum: Und Euch wünsche ich wie immer, dass Ihr Eure Arbeit ebenso bereichernd erleben könnt wie ich, und dass Ihr sie durchhaltet. Dass Ihr an diesem Wochenende etwas Energie tanken könnt. Ich denke, ich werde heute mal wieder eine "Tonglen"-Meditation praktizieren, Euren Stress in mich aufnehmen und etwas Entspannung "ausatmen" - Ihr wisst ja vielleicht aus dem damaligen Blogeintrag, wie das gemeint ist.

Freitag, 11. Oktober 2024

Ferienreif!


Leute, ich bin sowas von reif für die Ferien! Und das war alles so absehbar, es ist genau gekommen, wie befürchtet: Mitten in der Diagnosephase (Crohn?) nach über einem Jahr Arbeitslosigkeit an eine neue Schule zu kommen, das bringt den Autisten vollkommen aus seiner Taktung. Wieder neue KollegInnen, die mir sagen möchten, wie ich meinen Unterricht zu machen habe - ja, diesmal mit "Du musst..."-Anweisungen und nicht "Ich würde..."-Vorschlägen - wieder ein Haufen neuer SchülerInnen, die sich erstmal an das Prinzip Dr Hilarius gewöhnen müssen und anfangs am Rad drehen, das alles mit dem Verstärkungsfaktor Perspektivschule

Zweitsteckung zu sein gibt einem viele interessante Einblicke in den Unterricht der anderen Lehrkräfte. Und dann merkt man natürlich auch, wenn jemand nicht so unterrichtet, wie es eigentlich nach dem Schulkonzept gedacht ist, und das kann ich dann in meinem Kopf wieder nicht vereinbaren. Wir unterrichten nach der Neuen Autorität, was ich zu einem großen Teil nachvollziehen kann, da ich aus der Humanistischen Pädagogik komme.

Dann aber tönt es von mehreren Seiten: Du musst strenger sein, du musst die gleich einnorden, sonst tanzen die dir irgendwann auf der Nase rum, da musst du mit Strafen arbeiten, Unterrichtsklima Furcht, das kann es doch nicht sein. Und ich kann noch nicht einmal garantieren, dass das Hilarius-Prinzip diesmal aufgeht, denn mein Vertrag läuft nur bis zum elften Dezember, ich kann mich also womöglich nicht einmal richtig etablieren. Keine Zeit, meine Art des Unterrichts vielleicht wertzuschätzen lernen.

Das alles, kombiniert mit der Gesundheit, sorgt dafür, dass ich die ersten Ferientage geistig tot sein werde. Es ist alles viel zu viel, volle Stelle kombiniert mit mehreren Ärzten, daran muss ich mich erst gewöhnen.

Ich weiß, ich bin an unserer Schule nicht die einzige Lehrkraft, die reif für die Ferien ist. Wie sieht es bei Euch aus?

Mittwoch, 28. Juni 2023

Vor Gericht


Morgen stehen neben zusätzlichen mündlichen Prüfungen für ESA und MSA die Versetzungskonferenzen an. Das Kollegium entscheidet bei SchülerInnen, deren Zeugnis nicht die Anforderungen für einen Aufstieg nach Zehn oder in die Oberstufe erfüllt. Sie haben einen Antrag gestellt; morgen wird entschieden. 

Ich bin mir noch ein wenig unschlüssig. Mal angenommen, mich würde eine Schülerin gefragt haben, ob ich bitte für die Versetzung stimmen könnte. Weiterhin angenommen, dass ich die Schülerin dann im Gespräch ausführlich darüber aufgeklärt habe, dass der Sprung in die SekII für Manche unerwartet hoch ist. Dass es durchaus ein realistisches Szenario sei, dass sie es - in meinem Fach - nicht auf eine ausreichende Leistung bringe. Sie sagt dann: "Okay, vielleicht wird das wirklich nichts, aber ich könnte es doch zumindest einmal probieren, mich richtig reinzuhängen, oder?"

Für mich wäre in einem solchen Fall klar, dass ich für die Versetzung stimmen würde. Einen Versuch ist es wert, aber mit allerlei Auflagen für das nächste Schuljahr. Meine Frage an Euch: Könntet Ihr mir Gründe nennen, warum ich mit Nein stimmen sollte? Das würde mir wirklich weiterhelfen, denn mir fallen sie von allein nicht ein - Theory of Mind klappt bei mir eben nicht so gut.

Ich freue mich über jeden Kommentar!

Freitag, 23. Juni 2023

Unterrichtsversuch - fehlgeschlagen, zumindest teilweise


Was bin ich froh, wenn mir SchülerInnen ehrliches Feedback geben und nicht einfach nur Nettigkeiten schreiben, weil sie es sich nicht mit mir verderben wollen. Die Hutmethode funktioniert wunderbar. So kann ich neue Sachen im Unterricht ausprobieren und erleben, ob meine Befürchtungen möglicher Hindernisse sich bewahrheiten oder Probleme aufgekommen sind, an die ich nie gedacht hätte. 

In diesem Halbjahr habe ich versucht, eine Lektüre durch eine Miniserie zu ersetzen. Das Thema war gothic fiction, und als Lektüre hätten wir Shirley Jacksons The Haunting of Hill House (1959) gelesen. Da es aber eine brillante moderne Verfilmung als zehnteilige Miniserie gibt, habe ich gedacht, ich versuche das mal. Wir schauen das im Unterricht; zehn Wochen lang in der Doppelstunde mit Aufarbeitung danach, und in der Einzelstunde erarbeiten wir die nötigen Skills für das Abitur, ergo das Verfassen diverser Aufsatztypen. 

Da ist viel Gutes bei herumgekommen, manche SchülerInnen fanden es hilfreich, zusätzlich zum Text ein Bild vor Augen zu haben. Das kann aber auch zuviel des Guten sein, wenn zum Beispiel jemand lieber nicht hinsieht (gothic fiction ist eben eng mit horror verknüpft) und dadurch wichtige Details verpasst. Auch hat nicht jeder einen Netflix-Zugang, um die Episoden oder Teile davon nochmal zu schauen, wohingegen man in einem Buch einfach gewünschte Partien mehrmals lesen kann. Dazu kommt die Überforderung: Man schaut etwas Neues, Spannendes, in einer Fremdsprache. Man ist so gebannt auf den Bildschirm, dass man darüber hinaus seine Notizen vollkommen vergisst. 

Ich hätte nach jeder Episode die SchülerInnen eine kleine summary schreiben lassen sollen. So hätten sie den Plot jederzeit zur Hand gehabt und dazu mehr Schreibübungen. Mir fällt sowas immer erst im Nachgang auf, und das mag jetzt wie eine Ausrede klingen, aber es liegt zum Teil am Autismus. Genauer der Theory of Mind. Ich kann mir vollkommen neue Dinge nicht so einfach vorstellen; auch im Referendariat war es für mich immer schwierig, mögliche Probleme bei den SchülerInnen bei der Stundenplanung zu antizipieren. 

Ich werde lieber dreimal überlegen, ob ich so etwas noch einmal mache. Ändert aber nichts daran, dass ich nach wie vor gern mit Film im Unterricht arbeite, und unterstreicht meine Vermutung, dass Anthologieserien wesentlich besser geeignet sind für den Unterricht

Und in der Klausur waren auch vierzehn Punkte dabei, also will ich nicht meckern.

Montag, 27. März 2023

"Herr Homann?"



Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie meine Mutter früher erzählt hat, wenn sie ehemalige SchülerInnen getroffen hat, in der Stadt, bei'm Einkauf, wo auch immer. Sie hat mir davon erzählt und war immer ganz glücklich über diese Wiedersehen. Mittlerweile kann ich dieses Gefühl nachvollziehen.

Ich sitze in der Fünfzehn auf dem Weg von der Schule nach Hause. Wie üblich bearbeite ich Logikrätsel, die perfekte Busbeschäftigung. Ich nehme um mich herum kaum etwas wahr, achte nur auf die Haltestellenansage "Karlstal", aber dann setzt sich jemand vor mich und ich höre ein "Herr Homann?"

Ich schaue auf, und erkenne den Kopf wieder, mit den pinken Haaren, Piercings, Nasenring, unsmiling, aber mittlerweile habe ich sieben Schulen durch und muss zugeben: "Ah, hilf' mir mal auf die Sprünge!" "BBZ Plön, X, BFS III" - und damit ist alles klar. Genau, X hatte ich in der Berufsfachschule III unterrichtet (der Bildungsgang führt zur Fachhochschulreife), und ich liebte ihre no bs-Attitüde. Nicht mehr als nötig reden, sehr clever, alternativ nicht nur im Outfit.

Und so reden wir darüber, was wir jetzt machen, denn unsere gemeinsame Unterrichtszeit dürfte jetzt fünf Jahre her sein. Sie erzählt mir, dass sie das Fachabitur angegangen hat, aber wegen einer Person abgebrochen hat, mit der ich ebenfalls erhebliche Probleme hatte. Ich komme nicht mit Autorität klar, wenn die Autorität dumm ist. Jedenfalls ist X jetzt in die Sozialarbeit gegangen, und das läuft wunderbar, und da war das Mama-Gefühl: Glücklich, und auch ein kleines bisschen stolz zu sehen, dass dieser Mensch seinen Weg in's Leben gefunden hat. Das hat dem Tag ein wenig dringend benötigtes Lächeln gegeben, und es war echt schade, dass ich drei Haltestellen weiter bereits wieder aussteigen musste.

Solche Begegnungen wirken nach. Kennt Ihr das?

Donnerstag, 26. Januar 2023

Jungs, die kuscheln...


...und sich gegenseitig den Bart kraulen. Deswegen liebe ich diesen Job.

Heute war der letzte Schultag vor den Zeugnissen - für Einige wird es morgen das böse Erwachen geben, wenn sie schwarz auf weiß sehen, dass sie vielleicht im ersten Halbjahr doch einmal den Arsch hätten hochbekommen sollen, um für die Schule zu arbeiten. Andere waren bereits heute überrascht, was sie sich für gute Noten erarbeitet haben - sowas sehe und höre ich gern.

Es geht aber gerade nicht um die Zeugnisse, sondern den heutigen Schultag, der echt schön war. Richtung Nachmittag etwas ruppiger, aber trotzdem gut. Mein Grundkurs in Neun hat heute richtig gut mitgemacht. Das war eine tolle Doppelstunde, weil sie sehr authentisch war: Prüfungsvorbereitungen für den ESA, für das Fach Englisch, aber auf Deutsch. Wir wiederholen, wie man Fragen formuliert, und fragen uns gegenseitig aus, für die Dialogaufgaben, und die haben mitgemacht! Alle! Ich war total begeistert, erste Stunde die dröge Grammatikwiederholung, zweite Stunde dann die praktische Anwendung, und das hat Spaß gemacht.

Und ich realisiere immer mehr, dass viele SchülerInnen zuhause überhaupt keine Grenzen aufgezeigt bekommen oder dass Eltern überfordert sind. Ich habe SchülerInnen, die sich unglaublich viel rausnehmen, und dann kann man auch mal sehr laut oder im Gespräch unter vier Augen sehr streng und deutlich werden - so dass sie erstmal komplett wütend sind und dichtmachen.

Thekla hat mir damals erklärt "Wenn du das machst, verlierst du sie. Dann wirst du ihnen scheißegal." - und sie hat Recht, deswegen mache ich die strenge, harte Tour auch erst, wenn die Kiddies einigermaßen wissen, wie ich ticke, und wenn sie mich für sich akzeptiert haben. Denn dann trifft es - und dann sind sie in der nächsten (oder übernächsten) Englischstunde auch nicht mehr wütend, und man kann wieder auf die spaßige Tour arbeiten. Muss zwischendurch halt mal knallen (bildlich gesprochen, ich sehe schon die Beschwerden).

Und dann gab es tolle Szenen über den Tag verteilt - eine Lerngruppe sollte flash plays schreiben, in Gruppenarbeit mit nur zwanzig Minuten Vorbereitungszeit eine winzige Szene um die zwei Minuten kreieren - und zwar so, dass ich danach das Publikum fragen konnte, inwiefern es sich um eine genretypische Szene der gothic fiction handelt. Die haben das begeistert mitgemacht, damit hatte ich nicht gerechnet - ein Genuss!

Und was war noch? Zwei Schüler, die nebeneinander sitzen - im Unterricht - der eine kuschelt sich an den anderen, der andere krault ihm den Bart. Ich finde es grandios, dass man an unserer Schule so eine Hetero-Bromance ausleben kann (und vielleicht ist da ja auch ein Fünkchen Wahrheit drin), das wäre an vielen anderen Schulen undenkbar.

Ich liebe diese Schule!

post scriptum: Und ich habe einen neuen "spannenden" Schüler am Haken. Mal sehen, was die nächsten Gespräche und Beobachtungen so ergeben. Die große Buba weiß ganz genau, was das bedeutet.

Montag, 15. August 2022

Tag Eins


Bei manchen Menschen kommt irgendwann der Ferien-End-Blues. Der stellt sich dann ein, wenn einem bewusst wird, dass die Ferien nun doch langsam zu Ende gehen und damit ein Ende der Freiheiten einhergeht, Verantwortung auf einen zukommt, der Tagesrhythmus neu eingependelt werden muss und vieles mehr. Ich kenne das Gefühl oft aus den kurzen Ferien.

Im Sommer ist das ganz anders, da bin ich am Ende sehr froh, dass es wieder in die Schule geht, und ich bin voller Vorfreude - mit Abstrichen für Stundenplan oder Unterrichtsverteilung. Der erste Schultag hat das alles wieder bestätigt. Ich bin in einem wunderbaren Beruf tätig, auch wenn ich mich gern frage, warum ich nicht Schauspieler geworden bin. 

Heute stand ein reduzierter Stundenplan an, weil in den ersten drei Stunden Klassenlehrerunterricht war, und somit hatte ich nur zwei Stunden Englisch in meinem Grundkurs im zwölften Jahrgang (G9). Vorher habe ich mich mit meinem Praktikanten getroffen. Ich habe echt Angst, dass ich ihm jetzt drei Wochen lang zeige, wie man als Lehrer nicht sein sollte, und schon heute habe ich mich erwischt bei "Also ich habe das heute so gemacht, aber eigentlich sollte man es so machen". Aber im Gegensatz zu einem Referendariat kann ich vermutlich nicht zu viel falsch machen. Interessant, dass ein Unterrichtsentwurf (Raster, Lerngruppe, Didaktik, Methodik) mittlerweile zehn Seiten lang sein soll, wir wurden damals darauf gedrillt, das auf exakt drei Seiten zu bringen...

Der Zwölferkurs ist ein Geschenk - acht SchülerInnen (ich hatte noch nie so eine kleine Lerngruppe). Kein Druck, auf das Zentralabi hinzuführen. Gemütlicher kleiner Klassenraum an einer dauerkühlen Stelle der Schule. Ich bin total begeistert, heute gab es hauptsächlich Organisation und ein bisschen beschnuppern, aber die Gruppe kommt mir extrem sympathisch vor. Völlig unterschiedliche Köpfe, das könnte vielleicht ein wenig entschädigen dafür, dass ich meine Jetzt-Achtklässler nicht weiterführen darf. Vielleicht.

Jedenfalls war es ein wunderbarer erster Tag, an dem ich komplett zerflossen bin, es sind wieder zweiunddreißig Grad in der Wohnung, bis Donnerstag werde ich wieder Handtücher und Taschentücher in rauen Mengen verbrauchen. Morgen ist mein freier Tag, also gleich erstmal wieder ausschlafen (ist nötig, manchmal kann ich wegen der Hitze erst zwischen zwei und drei Uhr nachts einschlafen). Und es steht viel Papierkram an.

Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Montag? Ich wünsche Euch einen tollen Start in das neue Schuljahr!

Mittwoch, 3. August 2022

Das Bushaltestellen-Wunder


Obwohl ich lieber S- und U-Bahn fahre - und ich hoffe sehr, dass der anstehende politische Entscheid für die Kieler Straßenbahn fallen wird - hat doch der Begriff Bushaltestelle in meinem Leben eine besondere Bedeutung gewonnen. Genauer gesagt, drei besondere Bedeutungen.

Da wäre zuerst die Unterrichtsmethode Bushaltestelle, die bei mir so aussieht, dass, wer in einer Erarbeitungsphase zuerst fertig ist, sich an die Bushaltestelle setzt. Das sind zwei Stühle neben dem Lehrerpult. Von da an können sich Schüler melden, die Hilfe benötigen, und der oder die BushaltestellenschülerInnen gehen dann in die Klasse und helfen. Ganz klassisches Schüler-hilft-Schüler-Prinzip, klappt immer wieder super, gerade in den leistungsschwächeren Kursen kann mir das viel Arbeit abnehmen.

Dann war da noch ein ganz besonderes Erlebnis in meiner schulischen Arbeit, an das ich immer sofort denken muss, wenn ich den Begriff "Bushaltestelle" höre - das Bushaltestellen-Wunder. In der Impro AG haben wir damals ganz am Anfang eine Übung gemacht, bei der die SchülerInnen Menschen spielen sollten, die an der Bushaltestelle warten. Sie haben sich also bestimmte Charaktere überlegt und sind dabei in die "Extreme" gegangen: ein spielendes, unruhiges Kind, ein genervter Schüler, zwei, die sich streiten, alles mit ein bisschen overacting. Danach haben wir eine Übung gemacht, bei der wir uns für fünf Minuten so langsam wie irgend möglich bewegen mussten - so langsam, dass die Bewegungen fast wie von einem Schnappschuss zum nächsten wirkten. Diese extreme Langsamkeit hat etwas in den SchülerInnen bewegt; wir haben danach noch einmal die Bushaltestellenszene gespielt, und plötzlich waren da Menschen, die Sorgen im Leben hatten, die verliebt waren, die lecker gegessen hatten, extrem subtil und realitätsnah dargestellt. Ich hatte diesen "Trick" von Viola Spolin gelernt, hätte aber nicht gedacht, dass er so deutliche Resultate bringt. Wirklich ein kleines Wunder.

Nummer drei bezieht sich auf gestern Abend und den Grund, warum ich diesen Artikel überhaupt schreibe. In der großen Buba-Familie gibt es einen Corona-Fall, und zur Sicherheit haben wir uns gestern einfach unten an der Bushaltestelle Diesterwegstraße getroffen, hingesetzt und ein bisschen erzählt. Es gab eine Phase, da hatten wir das hier öfters gemacht, einfach ne halbe Stunde Bushaltestelle, das war cool, wenn ich vielleicht an einem Abend keine Lust auf Menschen hatte. Ich glaube, das war vor unserer Videospiel-Filme-Medien-gemeinsam-erleben-Phase. War großartig und wird deshalb hier festgehalten.

Mittwoch, 22. Juni 2022

This is not goodbye.


Die Tränen rollen wieder. Abschiedsgeschenke der SchülerInnen und ich würde am liebsten aus dem Fenster springen, weil das alles einfach so unfair ist und weil ich sie nächstes Jahr einfach weiter unterrichten möchte. Daraus wird nichts (in der klassischen Form), aber ich werde meinen Fuß in der Schultür behalten. So schnell werden die mich nicht los!

Morgen ist der letzte reguläre Schultag. Immerhin darf ich meinen Kurs in Acht noch einmal wiedersehen, nachdem ich sie zum Halbjahr abgeben musste. Ihnen hatte ich damals auch einen Horrorfilm versprochen - also wird es auch für sie morgen Drag Me to Hell (2009) geben. Mit meinen Siebenern schauen ich dann noch das Finale des Films, das fehlte uns, und es gibt Zeugnisnoten und -gespräche. Danach muss ich dann fix nach Hause, habe eine wichtige Mail bekommen, Details müssen warten...

...denn gleichzeitig ist morgen der letzte Vorbereitungstag für die Projektwoche, die am Freitag beginnt. Meine Gruppe hat sich nochmal etwas verkleinert, da dürften zehn SchülerInnen sitzen, mit denen ich dann zusammen ein bisschen Filmanalyse, Filmhistorie und Horizonterweiterung betreiben kann. Das mildert den Trennungsschmerz etwas ab, aber natürlich verschwindet der nicht einfach.

Aber - ich lass' nicht los. This is not goodbye!

post scriptum: Und in den Sommerferien gibt es noch ein Kurstreffen mit meinen Zehnern, darauf freue ich mich schon sehr.

Freitag, 3. Juni 2022

Verwässerte SchülerInnen, oder: Der Genuss, Erklärungen zu suchen

Ich liebe Rätsel, ich liebe es, nachzudenken und Antworten zu finden. Gestern ist mir ein neues Rätsel in mein elektronisches Postfach geflattert, in Form der Teilnehmerliste meines Filmprojektes für die Projektwoche.

Man würde wohl denken, dass sich in erster Linie meine eigenen Schüler für das Projekt anmelden, aber das war diesmal kaum möglich: Ich habe mein Projekt für die Jahrgänge Neun bis Zwölf angeboten, die meisten meiner Schüler sind allerdings in Sieben. Die meisten Schüler meines Neunerkurses haben klasseninterne Projekte - also war ich sehr gespannt, wer sich denn so für mein Filmdings interessieren würde. 

Es war ein Genuss, die Liste zu lesen, voller interessanter Feinheiten, die ich gestern und heute in Meditationen degoutiert habe. Es überrascht mich nicht, dass Autisten sich für mein Projekt angemeldet haben. Ich kann bestätigen: Der Draht ist da, in welcher Form auch immer, und es zahlt sich aus, eine autistische Lehrkraft zu haben, wenn man SchülerInnen mit autistischen Verhaltensweisen hat. 

Einen dieser Teilnehmer unterrichte ich noch nichtmal selbst, bin aber eben über die Autismus/Otherness-Schiene im Kontakt und gespannt drauf, m/w/d real kennenzulernen. Ich finde, wenn ich das richtig sehe, Kollegenkinder in der Liste, die ich bisher nicht unterrichtet habe - das macht mir ein bisschen Angst, weil ich wieder denke, ich könnte etwas falsch machen und noch mehr Gegenwind gegen mich aufheizen - allerdings glaube ich, dass ich mit den betreffenden KollegInnen ganz gut klarkomme. Dann sind da noch ältere Geschwister von Kiddies, die ich unterrichte, das wird interessant.

Und was ich besonders bemerkenswert finde: In einem Projekt über Vielfalt im Film finden sich neben zwölf Jungen nur zwei Mädchen. Ich kann mir das nicht erklären. Erfahrungsgemäß komme ich bei Schülerinnen etwas besser an - oder es ist wieder nur meine Wahrnehmung, die täuscht. Oder es liegt am subject matter - dass sich Jungs eher für Filmanalyse interessieren als Mädchen? Ob sie wissen, worauf sie sich da einlassen? Wir werden nicht um die eine oder andere LGBTQ-Szene herumkommen. Aber vielleicht sind sie ja allesamt ein kleiner (vierzehn) aufgeschlossener Haufen.

Ich bin selbst total platt, wie sehr mich diese Teilnehmerliste fasziniert hat. So sehr, dass ich sie mit in die Badewanne genommen habe, um darüber nachzudenken. Das Ergebnis sieht man oben.

Ich freue mich riesig auf die Projektwoche!

Donnerstag, 2. Juni 2022

Bestanden! ...aber...

Heute seid Ihr Helden

Heute haben unsere Prüflinge die Ergebnisse der ESA/MSA-Abschlussprüfungen bekommen. Ist ein interessantes Gefühl, ihnen danach zum ersten Mal in die Augen zu schauen. Ich kann anhand der Augen ihre Gefühle nicht so gut erkennen. Einfach ist es, wenn jemand freudig strahlt, aber sobald es um feinere Nuancen geht, bin ich raus. Eine andere Schülerin schaut mich an, ich habe den Eindruck, dass sie lächelt, aber dann sagt sie, dass sie den Jahrgang wiederholen wird. Ich kann sowas einfach nicht zuordnen.

Ich mache ihnen aber klar, dass ich stolz auf sie bin. Sie haben ihren Schulabschluss bestanden, und das ist toll, gerade wenn ich bedenke, wie sehr ein paar Schüler zu kämpfen haben. Und dann kommen die ersten Fragen: "Meinen sie, ich sollte eine mündliche Prüfung machen, damit ich meine Note nochmal verbessern kann?" In Deutsch und Mathematik ist das möglich, in Englisch nur, wenn man die Englischprüfung gestrichen hat (weil dort der obligatorische sprachpraktische Teil bereits eine mündliche Prüfung ist).

Und dann muss ich all' meinen Mut zusammennehmen und sagen: "Nein." Ich ringe nach Worten, um das nett rüberzubringen - aber es ist eben so, dass bei allen Menschen die kognitiven Fähigkeiten irgendwann ausgereizt sind und nicht jeder sich auf eine sehr gute Note steigern kann. Und die "Aber das ist doch ein tolles Ergebnis!"-Phrase rutscht mir nicht raus.

Faszinierend war es da, dass ein Schüler heute in der Pause ernsthaft meinte, dass mir die Schüler bestimmt leid tun, wenn ich ihnen sagen muss, dass es keine Möglichkeit zur Verbesserung gibt, zum Beispiel keinen Aufstieg in die Oberstufe. Es bricht mir manchmal das Herz, aber an diesem Punkt zählen kalte Fakten und Zahlen auf dem Papier, diese Note mit zwei Nachkommastellen, und das soll jetzt Aussagekraft haben.

Ich sage ihnen nicht, dass diese Zahl immer etwas von Willkür hat. Ich sage ihnen auch nicht, dass diese Zahl ihre Zukunft mit Sicherheit beeinflussen wird. Mir schwebt vor dem geistigen Auge jedes mal eine Eins Komma Neun, die mir keine Türen geöffnet hat, sondern bestenfalls die Möglichkeit verschafft hat, diese Tür anzuschauen. Und weiterzugehen. Hoffentlich schreiben auch einige der SchülerInnen Briefe, obwohl sie die Schule verlassen und es ihnen egal sein könnte. Wäre schön, wenn jemandem bewusst wäre, dass ich diese Kiddies im Fach Englisch zu ihrem Abschluss geführt habe.

Jetzt kommt für Euch der große Blick nach draußen - nicht mehr täglich auf die Tafel gerichtet, sondern auf Eure eigenen Ziele, Wünsche und Träume. Mutig voran!

Mittwoch, 9. März 2022

Auf die Knie!


Im Referendariat gab es viel zu lernen zum Thema "Wo sollte sich die Lehrkraft während des Unterrichts im Raum aufhalten?" - glaube ich zumindest. Ich kann mich an kaum noch etwas aus dem Ref erinnern, ich habe da nicht wirklich viel gelernt (infolgedessen mir die Schulleitung dann Arroganz und Überheblichkeit unterstellt hat). Was ich noch weiß: Wenn man während einer Erarbeitungsphase durch die Klasse geht und auf die Aufgaben der Schüler schauen möchte, dann sollte man immer von vorne kommen, nicht hinten im Rücken der Schüler herumschleichen. Finde ich nachvollziehbar - deswegen habe ich es vielleicht auch im Kopf behalten.

Es gibt da auch noch eine andere Sache, die ich eher zufällig gelernt habe. In der aktuellen Schüler-Feedbackrunde hat eine Schülerin das allerdings expliziert als positiven Faktor genannt: Wenn sich ein Schüler bei der Erarbeitung meldet und ich - von vorne - an seinen Platz gehe, gehe ich instinktiv direkt in die Hocke. Das war für mich immer logisch: Ich bin zwei Meter groß, ich möchte nicht auf einen Schüler herabsprechen, der Hilfe braucht. Ich möchte mit ihm auf Augenhöhe reden. Das klingt nach einer Kleinigkeit, aber es scheint den Schülern zu helfen, dass sie sich mit ihren Problemen bei den Aufgaben ernstgenommen fühlen. Extrem zuträglich für das Lehrer-Schüler-Verhältnis (und diesmal erwähne ich Hattie nicht).

Mir ist die Bedeutung dessen in meiner ersten Latein-Lehrprobe bewusst geworden. Ach sorry, ich meine natürlich Unterrichtsbesuch. Von Herrn Kruse, Studienleiter in Latein, mittlerweile Schulleiter in Niebüll. Herr Kruse fand diese Lehrprobe nämlich total toll - was ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Ich hatte bei der Besprechung fast angefangen zu heulen; ich hatte die Stunde so schön durchgeplant, sah auf dem Raster richtig rund aus, aber klassischer Anfängerfehler: Viel zu viel geplant. Am Ende der Stunde hatte ich gerade ein Viertel dessen geschafft, was geplant war. Die Stunde war ein Reinfall, aus meiner Perspektive.

Herr Kruse hat mir dann aber erklärt, warum ich kaum etwas geschafft habe: Weil ich bei jeder hilfesuchenden Meldung an den Platz des Schülers gehe, und dort auf die Knie runter. Das kostet etwas Zeit. Herr Kruse hat mir klargemacht, worauf es im Unterricht ankommt, und das ist nicht in erster Linie die Beendigung des Stundenrasters.

Das ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben, und deswegen falle ich auch heute noch vor meinen Schülern auf die Knie. 

Freitag, 4. März 2022

Der positive Spin


Heute war ein großer Prüfungstag und ich habe etwas Wichtiges über mich gelernt - was ich eigentlich aus den Fachbüchern schon wusste, aber heute habe ich es live erlebt und kann Euch nun ein daraus destilliertes Glas Asperger pur anbieten:

Projektpräsentationen. Die Projektmappe wurde schon vor zwei Wochen eingereicht, und heute war dann quasi der Höhepunkt, die Schüler präsentieren ihr Thema. Geile Sache, wir hatten das damals erst im zwölften Jahrgang. Da kann man sich, wenn man speziell ist, mal richtig austoben - aber darum geht es jetzt nicht. Ich habe beide Vorträge heute genossen - und ich bin heilfroh, dass meine Zweitprüferin dabei war.

Asperger-Autisten sind wandelnde Geigerzähler für Unstimmigkeiten. Sie sehen (beziehungsweise spüren, ist tatsächlich so), wenn etwas fehlerhaft ist. Dieser andauernde Zustand führt dazu, dass ich nur darauf schaue, was alles falsch ist an dem Projekt. Hinweis Richtung Sannitanic: Ich meine damit nicht, dass ich das gern anders gehabt hätte, sondern objektive Fehler. Das ist, als ob da bei mir im Kopf sofort eine Lampe angeht, und es fühlt sich oft sogar gut an. Im Sinne von "Ha, ich hab' was gefunden!" - don't judge me, ich kann es nicht abstellen.

Und es kommt noch besser: Die Notenbekanntgabe wirkt bei mir fast wie eine Urteilsverkündung: Der Aspi bringt keine "Das habt ihr aber fein gemacht"-Phrasen. Er sagt "Das war gut", "Das war ausdifferenziert", und vor allem sagt er "Das ging nicht weit genug in die Tiefe", "Da war zu wenig Eigenleistung drin", "Da hätte etwas Kreatives und Originelles hingehört". Ich finde erst im Nachklapp - wenn überhaupt - einen positiven Spin des Ergebnisses. Ich klatsche den Prüflingen meine Kritik hin und bin zufrieden, dass ich am Ende die Note nachvollziehbar und logisch erläutert habe. Perfekt, Prüfung ist rund gelaufen, weiter im Programm.

"Ihr beide lasst gerade die Köpfe hängen, oder?"

Ich schaue zu meiner Zweitprüferin. Der Satz kommt von ihr. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mal wieder zu sachlich-direkt war. Sie ist diejenige, die plötzlich das "menschliche" Element reinbringt, das Verständnis. Sie versucht, den Absturz in den Köpfen aufzuhalten, sie seht den impact bei den Schülern. Sie sieht, dass sie unglücklich sind. 

Ich sehe das nicht.

Reading mind in the eyes, so heißt ein relativ neues Testverfahren für Menschen mit dem Asperger-Syndrom. Tendenziell können Aspis Gesichtsausdrücke schlechter deuten als neurotypische Menschen. Das sagt mir das Lehrbuch, und heute habe ich es live erlebt. Ist also heute mal ein doppelter Asperger pur: Konzentration auf die Fehler, Emotionen nicht lesen können. Und für die Schüler ein Schlag vor's Gesicht: Dr Hilarius, der sonst eigentlich immer so gechillt und nett ist, gibt uns so eine Abrechnung.

Ich möchte keine Ausbildungslehrkraft werden.

Samstag, 26. Februar 2022

LGBTQ v1.2: "Es gibt doch bereits Angebote!"


vorweg: Jeglicher Zusammenhang mit dem gestrigen Beitrag über das Stillsein ist zufällig und nicht beabsichtigt. Ich kämpfe immer noch damit zu realisieren, dass solche Disclaimer nötig sind.

Die beiden Beiträge zum Thema eines LGBTQ-Angebots an Schulen haben Reaktionen hervorgebracht - ganz unterschiedlicher Art. Eine Reaktion auf den ersten Beitrag hat zu v1.1 geführt, und eine weitere Reaktion auf das Konzept des safe space bringt mich zu diesen Überlegungen.

Dass ein sicherer Raum an einer Schule fehlt, gilt nicht nur für trans-Jugendliche. Es gilt nicht nur für homosexuelle Jugendliche oder jegliche, die sich der LGBTQIA+-Community zugehörig fühlen. Es gilt für jeden Jugendlichen, der sich konkret anders fühlt. Der sein Anderssein auf bestimmte Faktoren zurückführen kann, und sei es nur ein ständig wiederkehrendes Gefühl.

So kann es zum Beispiel sein, dass der tägliche Gang in die Schule für jemanden jahrelang zur Hölle wird, weil er hochintelligent ist. Und er kann sich noch so viel Mühe geben, das herunterzuspielen. Bescheidenheit bei den vielen Einsen zeigen, die er erhält. Sich nicht im Unterricht melden, um bloß nicht aufzufallen. Es wird immer die Streberleiche sein und immer aus irgendwelchen Richtungen dafür Anfeindungen erhalten, und er wird immer das Gefühl haben, sich verstellen zu müssen, um nicht ausgegrenzt zu werden, und auch für ihn gibt es womöglich keinen safe space in der Schule.

Was mir dann auch häufiger geschrieben und gesagt wird ist, dass es doch bereits Angebote für diese Schüler gibt: Es gibt das Enrichment für die Hochbegabten. Es gibt die Vertrauenslehrer für jegliche Probleme von Jugendlichen. Und immer wieder in den letzten Jahren wurde mir bei konkreten Ideen gesagt, dass man dafür ja bereits die Schulsozialpädagogen hat, und dass das Angebot auch gut genutzt wird und erfolgreich ist. Dass man das schlicht nicht braucht.

Das sind valide Argumente. Aber was ist mit der Dunkelziffer?

Ich kann nur für mich sprechen. Wir hatten einen Vertrauenslehrer an unserer Schule, und ich bin während der neun Jahre Gymnasium nicht ein einziges Mal zu ihm gegangen. Nicht wegen des Drogenhandels um mich herum, nicht wegen des Mobbings in der Klasse, nicht wegen der seelischen Folter vor und nach den Sportstunden, nicht wegen des schlechten Gewissens, weil ich eine Mitschülerin in einen Fluss geworfen habe, nicht wegen meiner sexuellen Neigungen, nicht wegen des Gefühls, dass mit meinem Kopf etwas nicht stimmt. 

In der Oberstufe gab es für Schüler extra das Tutorensystem: Jeder Schüler hat sich aus dem Kollegium einen Tutor gesucht, als Ansprechpartner für jegliche Art von Problemen. Ich bin sehr froh, dass ich meine Tutorin hatte, denn sie hat mir ein Gefühl von "okay sein" gegeben, bei den Kurstreffen, die wir bei ihr hatten, ohne dass ich mich irgendwie erklären musste.

Aber genau darin sehe ich die crux:

Es gab für mich kein Angebot, dass mir expressis verbis signalisiert hat, dass ich als schwuler Jugendlicher jemanden dort habe, an den ich mich wenden könnte. Keines der Angebote hatte das im Namen oder explizit in seinen agenda zu stehen. Ich habe mich meiner Tutorin in der Oberstufe nicht ein einziges Mal anvertraut, obwohl sie eine der tollsten Lehrerinnen war, die ich je hatte.

Ich kann nicht für den trans-Mann sprechen, der mir geschrieben hat. Ich kann nicht für die Hochbegabten sprechen, die mir geschrieben hatten. Vielleicht geht es ihnen ebenso, vielleicht stehe ich allein da. Aber mein Problem war, dass mir niemand gesagt hat "Wenn du schwul bist, dann ist das okay" oder "Wenn einer unserer Schüler über seine Sexualität sprechen möchte, dann haben wir ein Angebot, das genau für ihn gemacht ist". Enrichment ist schön und gut, aber es ist gemacht für "erkannte" Hochbegabte. Was ist mit hochbegabten Underachievern, die ihr Potential nicht nutzen können oder wollen, die aber tief im Inneren wissen, dass sie anders sind und gern mit jemandem drüber sprechen wollen, der sie versteht, und der vielleicht nicht nur den Unruhestifter in ihnen sieht? 

Es fehlt nicht an einem Angebot, das ruft: "Sag' uns, was Dein Problem ist, und wir helfen Dir." Die gibt es bereits reichlich, aber oft können Jugendliche ihre Probleme mit dem Anderssein noch nicht verbalisieren, noch nicht einmal bildlich konkretisieren.

Es fehlt an "Du bist schwul? Komm' zu unserem Gesprächskreis" oder "Du bist intelligent und fühlst Dich allein? Komm zur Mind Food-Gruppe" - und was es noch mehr gibt!

Wir müssen klarmachen, dass unsere helfende Hand speziell zu ihnen ausgestreckt ist.

post scriptum: Es tut mir WIRKLICH leid, wenn dieser Beitrag pathetisch klingt. Aber für zu viele Jugendliche ist die Schule eine jahrelange Folter, und jeder einzelne Teenager, der deswegen Suizid begeht, ist ein Zeugnis für unser kollektives Scheitern.

paulo post scriptum: Es war nicht geplant, dass aus diesem Thema eine Beitragsreihe wird - aber es kommt immer wieder ein Aspekt hinzu, der meiner Meinung nach hier Raum bekommen sollte. Bear with me. Cat, too.

Donnerstag, 27. Januar 2022

Schriftliche Missbilligung


Wenn ich einem Schüler eine schriftliche Missbilligung ausstellen muss, dann macht mich das fertig. Ich erlebe das als herbe Niederlage, als Bankrotterklärung für mein pädagogisches Talent: Ich habe es in einem halben Jahr nicht geschafft, zu diesem Schüler durchzudringen - so, dass er sich freiwillig in meinem Unterricht gut benimmt. Ich war immer ein bisschen stolz drauf, dass ich gerade Schüler in schwierigen Situationen gut "kriege", und so eine Sanktionsmaßnahme holt mich dann wieder schnell auf den Erdboden zurück.

Denn was auch immer ich an Vertrauensbasis oder Verständnisgrundlage zwischen mir und diesem Schüler aufgebaut habe, erlebt einen herben Dämpfer. Der Schüler macht wieder dicht, die Distanz wird wieder größer. Das hat mir Thekla damals in St.Peter-Ording beigebracht: Mit solchen Aktionen erreiche ich nichts. In der Konsequenz trainiere ich, keine Strafen mehr im Unterricht einzusetzen.

Immerhin hat mich das Meditationstraining dazu befähigt, mein Verhalten im Anschluss von allen Seiten auszuleuchten, und im Lojong gilt: Jede Schwäche bietet eine Möglichkeit, besser zu werden. 

Trotzdem ist das Gefühl erstmal shayze.

Mittwoch, 12. Januar 2022

Kopfnoten


Es wird langsam Zeit für Zeugnisse, und hin und wieder überlege ich mir, wie das Zeugnis eines Schülers wohl für einen potentiellen Arbeitgeber aussehen muss. Ob man sich angesichts der Noten einen Menschen dahinter vorstellt? Und wie authentisch ist dieses Bild dann? Zeugnisse können nicht die charakterliche Dreidimensionalität eines Menschen abbilden - aber sie können es zumindest versuchen.

Da denke ich doch einfach mal an Schüler Klaus, der vielleicht sogar Klaus heißt. Hat eine Menge im Kopf, ist fachlich absolut top, bekommt eine Zwei. Das klingt gut! Was diese Note nicht sagt: Klaus hat nie seine Sachen dabei. Er kann nicht eigenständig arbeiten und sich im Unterricht kaum konzentrieren. Seine Hausaufgaben macht er selten, und wenn, dann eher schlampig, genau wie seine Heftführung. Er ist absolut nicht konfliktfähig und kann nicht mit anderen Schülern in einer Gruppe arbeiten.

Um solche Umstände auszudrücken bzw. sichtbar zu machen, gibt es die Kopfnoten. Die gibt es nicht überall, und an meiner Schule heißen sie LeSos. Das sind Anmerkungen, die jeder Lehrer für seine Schüler macht und die das Lern- und Sozialverhalten in vier Stufen beschreiben. Ich dachte anfangs, dass das nur unnötig viel Arbeit für die Lehrkräfte ist - aber ich finde sie mittlerweile richtig gut, um eventuelle Probleme bei'm Verhalten den Erziehungsbereichtigten noch deutlicher zu machen. Dieser alternative Notenspiegel lässt auch Rückschlüsse zu, ob Klaus sich nur in einem Fach so auffällig verhält, oder ob es sich durch seinen gesamten Schulalltag zieht.

Habt Ihr Kopfnoten oder ähnliche Zeugnisvermerke? Wie steht Ihr dazu?

Mittwoch, 24. November 2021

Videospiele im Unterricht - Kapitel 4


Kapitel 4 - Das richtige Spiel

Eigentlich ist der Titel irreführend, weil er suggeriert, es gäbe das richtige Spiel für so ein Projekt. Ich habe sieben Jahre lang überlegt, was sich anbieten könnte, und bei vielen Spielen, die ich in dieser Zeit gespielt habe, überlegt, ob das etwas für eine Lerngruppe sein könnte. In der Zeit habe ich mir eine Art Checkliste zurechtgelegt, mit Kriterien, die das Spiel erfüllen sollte.

Mir ist wichtig, dass (möglichst) niemand das Spiel schon kennt. Das Kriterium gilt auch bei allen Filmen oder Serien, die ich meinen Schülern zeige. Meine Überlegung dabei ist, dass die Schüler sich eher zurücklehnen und "berieseln" lassen, wenn sie den Inhalt des Gezeigten schon kennen, und das wäre fatal: Ich brauche ihre Aufmerksamkeit, sie müssen mit ihren Gedanken vorne auf der Leinwand sein und wirklich das verstehen wollen, was da auf Englisch gesagt wird. Auf diese Weise ist es für das Gehirn leichter, sich neue englische Wörter und Phrasen einzuprägen. Außerdem besteht immer die Gefahr, dass jemand wichtige Entwicklungen der Geschichte schon vorher verrät, wenn er die Story schon kennt. Natürlich besteht immer die Gefahr, dass die Schüler sich selbst "spoilern", wenn sie im Internet nachschauen, was passiert - aber dann läge das in der Verantwortung jedes Schülers selbst, wohingegen sie keine Wahl haben, wenn ein Mitschüler ihnen alles verrät.

Wenn ich ein Videospiel wähle, das möglichst vielen der Gamer in der Klasse gefällt, gibt es ein Problem: Die Mehrheit favorisiert First Person Shooter. Kommt für mich nicht in Frage, mit Schülern ein Spiel zu spielen, in dem man - egal aus welchen Motiven! - herumläuft und andere Menschen tötet. Da diskutiere ich gar nicht erst, ebensowenig bei Fifa oder anderen Sportspielen, Autorennen und so weiter, denn:

Das Spiel muss einen einigermaßen komplexen Plot haben. Ich brauche etwas, was die Aufmerksamkeit der Schüler nach den fünfundvierzig Minuten Unterricht eine Woche lang gespannt hält bis zur nächsten Stunde. Da muss etwas passieren auf dem Bildschirm, und nicht sauer sein: Bei Resident Evil passiert nicht viel (und trotzdem liebe ich die chronologisch ersten beiden Teile, und Autorennen und so weiter). 

Es spricht also alles für ein Adventure, ein Abenteuer, das oftmals nach klassischer Drei- oder Fünf-Akt-Struktur aufgebaut ist. Jetzt wiederum besteht die Gefahr, dass das Ganze zu langweilig für die Schüler mit kürzerer Aufmerksamkeitsspanne wird, und davon haben wir heutzutage ziemlich viele. Da muss also etwas auf der Leinwand passieren, was idealerweise alle interessiert, und es müssen wichtige Dinge in nicht allzu großem Abstand voneinander passieren.

Dann bleibt noch die ewige Frage des unterschiedlichen Interesses bei Jungen und Mädchen, das übrigens kein Klischee ist, sondern empirisch belegt. Sicher gibt es immer Ausnahmen, aber Jungen und Mädchen tendieren generell zu unterschiedlichen Spieltypen.  Jetzt wird es wirklich eng mit der Spieleauswahl, denn wie soll ich die Schüler alle mitbekommen nach den oben genannten Kriterien? Die Schüler da abholen, wo sie stehen, das ist einfach gesagt. Ein Videospiel finden, mit dessen Inhalten sich eine ganze Lerngruppe identifizieren kann?

Vor einigen Jahren habe ich ein Spiel gespielt, bei dem mir relativ schnell klar war, dass das etwas für Jugendliche ist. Protagonistin ist eine achtzehnjährige Schülerin, Max, die Fotografie studiert. Der Prolog des Spiel sieht Max in einem schrecklichen Sturm, in dem sie von einem Gebäudeteil erschlagen wird - aber es stellt sich als Traum heraus, und sie wacht direkt in einer Unterrichtsstunde bei ihrem Lieblingsdozenten Mr Jefferson auf. Ein Blick durch die Klasse und wir erkennen sofort altbekannte Schülertypen: Das Mauerblümchen, das von den anderen gemobbt wird, die reiche, modebewusste Bitch, die den typischen Digitalsprech verwendet, das verwöhnte, arrogante Einzelkind mit psychischen Problemen, es wird noch einen witzigen, verpeilten besten Freund geben und ein Mädchen mit Punk-Attitüde, das gegen alles rebelliert.

Es dauert nur eine Viertelstunde, bis bereits ein dramatisches Ereignis eintritt, und damit verrate ich noch nicht zu viel: Auf der Schultoilette nach der Unterrichtsstunde zieht der verwöhnte Junge eine Waffe und erschießt das Punk-Mädchen, und Max muss das aus einem versteckten Winkel mitansehen. Und in diesem Moment entdeckt sie, dass sie die Fähigkeit hat, Dinge ungeschehen zu machen... 

Wir haben hier diverse Genres vermischt, Teenagerdrama, LGBTQ, Science Fiction, Thriller, Romanze. Es werden sehr harte Themen angepackt, und deswegen ist in den ersten Stunden umfangreiche Aufklärungsarbeit nötig: Kindesmissbrauch, Drogenkonsum, häusliche Gewalt, Suizid. 

Das ist der Punkt, der mir immer noch ein bisschen Sorge bereitet. Das Spiel bemüht sich um einen ordentlichen Entfremdungseffekt, aber es gibt einige Szenen mit Triggerfunktion für labile Schüler, und deswegen muss klar sein, dass die Schüler jederzeit ohne Angabe von Gründen den Hörsaal verlassen dürfen, dass ihnen jederzeit ein Gesprächspartner zur Verfügung steht, und als Spielleiter muss ich vor besonders intensiven Szenen vorwarnen, denn was nützt es, ein Spiel spoilerfree zu halten, wenn dafür ein jugendliches Trauma reaktiviert wird?

Es gibt nicht das richtige Spiel - aber ich denke schon seit längerer Zeit, mit Life Is Strange (2015) könnte dieses Experiment funktionieren; die erste Stunde hat gezeigt, dass sehr viele Schüler auf diese Reise mitgenommen werden. Jetzt musste ich mir nur noch die konkrete Durchführung zurechtlegen.

Fortsetzung folgt...

post scriptum: Ihr seid herzlich eingeladen, eine Diskussion in den Kommentaren zu starten, gerade zum "subject matter" des Spiels. Alle Leser der Kommentare seien an dieser Stelle gewarnt, dass es dort starke Spoiler geben kann (und wird).

paulo post scriptum: Wie aufregend, heute ist tatsächlich ein großer Brief von meinem Kurs in Neun angekommen! Gleich auspacken, lesen, verarbeiten. Freude, trotz krank!



Dienstag, 23. November 2021

Lieber Gott, mach' mich hetero!


Ich habe ab und an mit Lerngruppen den Film But I'm a Cheerleader! (1999) geschaut, eine Satire auf Sexualitäts-Konversions-Therapien in den USA. Großartiger Film, knallbunt, und ich frage die Schüler danach gern, ob das ein realistischer Film ist oder nicht. Nein, heißt es dann, natürlich ist das nicht realistisch, das ist doch Schwachsinn! Und dann mache ich den Schülern klar, dass da ein Korn Wahrheit drinsteckt, denn diese Therapien gibt es in Amerika (und anderswo) tatsächlich. Und ich erkläre ihnen, dass diese Satire das alles natürlich vollkommen übersteigert darstellt.

Offensichtlich ist das gar nicht so sehr übersteigert, wie ich heute gelernt habe. Auf Netflix ist eine Dokumentation zu dem Thema erschienen - Pray Away (2021), und ich realisiere, dass der Kinofilm schon sehr nah an der Realität war. Ein Beispiel:

Um die schwulen Jungen zu normalisieren, sollen sie einen heterosexuellen Lifestyle pflegen, dazu gehört natürlich, dass sie sich für Automechanik interessieren und American Football spielen. Bei den lesbischen Mädchen sieht der richtige Lifestyle so aus: Geschirr spülen, Teppich reinigen und so weiter. Diese Szenen habe ich immer als vollkommen übersteigert verstanden, heute habe ich gelernt, dass es solche Maßnahmen tatsächlich gab: Jungen sollten bei'm Football eine andere Art Freundschaft untereinander kennenlernen - und für die Mädchen gab es Make-Up-Sessions.

Das klingt gruselig - und ist es auch! Ich bin über diese neue Doku ziemlich froh, denn jetzt kann ich in einer Oberstufe in einer Unterrichtseinheit zuerst den Film schauen und bearbeiten und dann mit der Doku unterfüttern. Ich kann beides nur empfehlen, sowohl den Film als auch die Doku. Zwei schöne Blickwinkel auf die Ex-Gay-Bewegung in den USA (die es auch heute noch gibt, man sollte es nicht glauben).

Freitag, 19. November 2021

Videospiele im Unterricht - Kapitel 3


Kapitel 3 - Dafür

Trotz aller berechtigten Argumente gegen ein Videospiel im Unterricht glaube ich daran, dass es einen positiven Effekt haben wird. Das fängt an bei der Präsentation des Spiels in Englisch. Englische Sprachausgabe, englische Untertitel und englische Menütexte - soweit eigentlich genau wie jeder englische Film, den ich mit Schülern schaue. Videospiele gehen allerdings einen Schritt weiter.

Ich habe hier im Blog schon einmal darüber berichtet, als es um survival horror ging, konkret um Project Zero 2: Crimson Butterfly, eines der unheimlichsten Videospiele, die ich bisher spielen durfte. Dort hatte ich den Vergleich gezogen mit Horrorfilmen: Bei einem Film sitzt man als passiver Zuschauer vor der Leinwand, man wird beschallt, mit Effekten übergossen, mit unheimlichen Szenen überschüttet, man ist zwar wehrlos, aber zur Not kann man sich immer noch die Augen zuhalten und warten, bis die gruselige Szene vorbei ist.

Ein Videospiel ist da etwas anders, denn ich kontrolliere (in der Regel) den Protagonisten. Ich stehe vor einer knarzenden Tür, und dahinter ist es dunkel. Ich weiß, dass da gleich etwas Schlimmes passieren wird - aber ich kann nicht einfach stehen bleiben und die Augen zumachen und abwarten - denn von allein geht es nicht weiter. Ich selbst muss mich mit meiner Figur in die Gefahr wagen, um diese oder jene Ecke blicken, hier in den Schatten greifen, dort ein verfluchtes Objekt aufheben. Ich bin dadurch viel mehr eingebunden als bei einem Film. Ich werde nicht bespielt, sondern ich spiele selbst - Stichwort Immersion

Bezogen auf unser classroom experiment bedeutet das: Ich sitze als Lehrkraft vorn mit dem Controller in der Hand, aber ich mache nur das, was die Schüler mir sagen. Und wenn die Schüler mit einer Ansage zu lange brauchen, dann verpassen sie eben die Chance, einen Freund zu retten. Oder sie tragen mit ihrer Entscheidung dazu bei, dass eine Stadt zerstört wird. Indem die Schüler Verantwortung für ihre Aktionen und deren Konsequenzen nehmen, sind sie bei'm Videospiel viel involvierter, als sie es bei einem Film oder einer Serie je sein könnten. Auf diese Weise prägt sich das Erlebte viel stärker im Gehirn ein - und die erste Unterrichtserfahrung bestätigt mir das: Der Kurs ist viel grundaufmerksamer und aktiver am Geschehen beteiligt, und zwar eben nicht nur die "Jungs, die sich ja sowieso mit Videospielen auskennen."

Mal abgesehen von den heteronormativen Hintergründen einer solchen Aussage muss es das Ziel dieses Unterrichtsversuchs sein, alle Schüler einzubinden. Ich muss ein Spiel finden, dass gleichermaßen Jungs und Mädchen anspricht - und ich fand es bemerkenswert, dass in einer Lerngruppe alle Anweisungen und Kommentare in der ersten Stunde von den Mädchen kamen.

Womit wir wieder zurück bei'm Punkt der Spracharbeit wären; die rezeptiven Fähigkeiten sind oben schon erwähnt worden - es gibt viel zu lesen und viel zu hören. Als Spieler mit dem Controller in der Hand akzeptiere ich allerdings nur Handlungsanweisungen auf Englisch. Die dürfen gebrochen sein, grammatikalisch nicht perfekt, Vokabeln etwas verdreht, das ist mir alles egal, solange ich verstehe, was der Schüler mir mitteilen will. Und wenn es dazu führt, dass auch diejenigen etwas sagen, die sich sonst im Unterricht eher still verhalten, umso besser! 

Das ist anders als in einer normalen Unterrichtssituation - "Describe the picture." - "Comment on the statement." - blablabla. Hier entsteht der Sprechimpuls aus dem, was auf der Leinwand gezeigt wird, und dem Wunsch, die Situation der Spielfigur zu beeinflussen. Intrinsische Motivation als Sprechanreiz ist - zumindest meiner Meinung nach - wesentlich besser als die oft zu gestelzten Arbeitsaufträge des Englischunterrichts, wie wir sie im Referendariat mitunter gelernt haben.

Bleibt noch die produktive Schreibarbeit, und wenn man sich das richtige Videospiel ausgesucht hat, sollte es kein Problem sein, Schreibaufträge abzuleiten, die sich mit den Anforderungen des ESA oder MSA decken. Anfangs entlasse ich die Schüller aus der Stunde mit einem einfachen Auftrag: "Write a diary entry about today's English class." Hier gibt es kein inhaltliches Richtig oder Falsch, hier können sie einfach drauflos schreiben, und gleichzeitig sammle ich damit schon erste Eindrücke für eine spätere Evaluation des Unterrichtsversuchs. Wer möchte, kann mir die Texte dann im Unterricht abgeben oder per Mail zuschicken, und natürlich geht das in die Note der Unterrichtsbeiträge ein. Gleichzeitig kann ich bei von den Schülern wahrgenommenen Mängeln auf diese Weise frühzeitig entgegensteuern und das Unterrichtsformat abwandeln, falls nötig.

Eigentlich klingt das alles geil: Rezeptive und produktive Spracharbeit, mündlich und schriftlich, entstehend aus einer intrinsischen Motivation der Schüler. Allerdings muss für eine solche Situation das Medium stimmen: Ich brauche das passende Videospiel. Es muss Schüler und Schülerinnen ansprechen, intro- wie extrovertierte, verteilt über das ganze kognitive Spektrum. Es muss... ja, was eigentlich? Soll ich einfach mein Lieblingsspiel nehmen?

So einfach ist es mal wieder nicht.

Fortsetzung folgt...

post scriptum: Die große Buba, falls Du das liest und Du an der Geschichte der Videospiele interessiert bist, gibt es auf Netflix eine Dokuserie "High Score" (2020). Nerd-Heaven ;-)