Donnerstag, 27. Juli 2023

Eine Geschichte von Fairness


vorweg: Der Text ist authentisch, manche Namen sind geändert.

Lieber Herr Kanter,

Ihre Mail erreichte mich am Samstag wie eine Insel im Meer eines Ertrinkenden. Sie hat mir viel Kraft gegeben und die Möglichkeit, meine Gedanken wieder zu fokussieren – einen klaren Kopf zu bekommen. Das ist für Autisten nicht immer leicht, angesichts des Chaos, das in der Welt da draußen herrscht.

Ich möchte mich vorweg für eine möglicherweise lange Mail entschuldigen – aber Sie haben gefragt, ob Sie irgendetwas tun können, wenn ich es denn wollte. Ja, ich will, ich möchte nichts so sehr, wie an der Toni bleiben zu können. Ich habe bisher an sieben Schulen gearbeitet, und die Chemie – Sie nennen es Puzzle-Passung – war nur ein einziges Mal so gut wie an dieser Schule. Ich weiß nicht, was man tun kann. Ich bin geistig behindert und in dieser Situation vollkommen hilflos. Was ich aber machen kann, ist, Ihnen ein wenig Hintergrundwissen zu meiner Lage zu geben. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen – ich schreibe gern, deswegen führe ich einen Blog. Ich nenne sie „Eine Geschichte von Fairness“, und sie beginnt mit Ihrem Sohn Steffen.

Ich weiß nicht, ob er Ihnen das erzählt hat; relativ früh im Schuljahr hatte ich den SchülerInnen eine benotete Textproduktion aufgegeben, quasi als Lernstandserhebung. Steffens Text las sich richtig gut – fast, als wäre er aus dem Internet kopiert worden. Ich habe den Text mit einer Sechs bewertet und Steffen einen kleinen Einlauf dazugeschrieben. Es ging in die Richtung, dass er seinen ersten Eindruck bei mir damit versaut hat. Aber wir waren alle mal Jugendliche, und deswegen habe ich ihm dazugeschrieben, dass der Text zwar null Punkte bekommt, dass dann aber Schwamm drüber ist, wenn er die Chance nutzt und sich im Unterricht ehrlich anstrengt und mir zeigt, dass das ein Kavaliersdelikt war.

Ich habe in über zehn Jahren Tätigkeit keinen Schüler erlebt, der sich das so zu Herzen genommen hätte. Steffen hat sich im Unterricht aktiv beteiligt, gemeldet, wann immer möglich. Im Laufe des Schuljahres ist er er auch mal nach der Stunde zu mir gekommen und hat ein bisschen erzählt, auch auf Englisch, und ist richtig aus sich herausgekommen.

Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit, Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu verurteilen und jedem eine weitere Chance zu geben. Das bedeutet es für mich, fair zu sein. Das ist für mich normal. Ich lebe nach buddhistischen Denkweisen, und da sind Freundlichkeit und Mitgefühl nur zwei der Grundsätze, die das Denken und Handeln beeinflussen.

Ich habe mein Leben lang so gelebt – ich habe im Studium versucht, hilfsbereit zu sein, wann immer ich konnte. Ich habe Latein und Englisch studiert; damals vor zwanzig Jahren hieß es noch „Mit Latein kannst du dir nachher deine Schule aussuchen“. Ich bin Autist, ich nehme das wörtlich, was Menschen sagen, also war ich davon ausgegangen, dass das stimmt. Meine Vertrauenslehrerin in der Oberstufe hat mir erzählt, dass es sich auch gut im Lebenslauf macht, wenn man sich an der Uni einsetzt, über Nebenjobs oder Ehrenämter. Auch das habe ich wörtlich genommen. Ich dachte, ein guter Lebenslauf hat einen Wert.

Ich wurde wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Klassische Altertumskunde der CAU Kiel und hatte dort als Sekretariatsunterstützung viel mit anderen Studierenden zu tun. Jeder, der ein Latinum für sein Studium brauchte, musste irgendwann durch unser Büro und an meinem Schreibtisch vorbei.

Das, und die Leitung der Fachschaft Klassische Philologie scheinen meinen Namen bekannt gemacht zu haben. Zumindest so bekannt, dass ich dann drei Jahre nacheinander in das Studierendenparlament gewählt worden bin. Als einer von einundzwanzig, und das bei über zwanzigtausend Studierenden, das müsste doch etwas heißen. Und so finden sich zwei Ehrenämter in meinem Lebenslauf wieder, fünf Jahre Fachschaftsvorsitz und drei Jahre Abgeordneter, zwei davon als Vorsitzender des Haushaltsausschusses.

Mir ist erst im Referendariat bewusst geworden, dass ich polarisiere. Ich wusste bis vor gut vier Jahren nicht, dass ich geistig behindert bin, nur, dass ich scheinbar ein Freak war. Das hat sich auf mein Referendariat so intensiv ausgewirkt, dass Cai Christophel, damaliger Schulartvorsitzender für Gymnasien im IQSH, unerwartetes viertes Mitglied in meiner zweiten Staatsexamensprüfung war. Mein Name schien bekannt zu sein; Herr Christophel hat mich nach der Prüfung gefragt, ob das IQSH meine Examensarbeit in seiner Bibliothek ausstellen dürfe, weil sie „vorbildlich“ gewesen sei.

Und dann war ich arbeitslos. Jeweils 1,9 im ersten und zweiten Staatsexamen, ein hervorragender Lebenslauf, und ich – ohne Arbeit. Das lag nicht am Stellenmangel, ich habe mich auf viele ausgeschriebene Stellen beworben und war bisher in siebzehn Auswahlgesprächen. Keine einzige Zusage. Keine einzige Begründung. Inzwischen sechsmal arbeitslos.

Jetzt endlich weiß ich, dass das an meiner Behinderung lag – zum Beispiel sage ich in diesen Gesprächen immer die Wahrheit, die aber meistens von niemandem gehört werden will. Ich bin auch viel zu offen in Unterhaltungen, damit können viele nicht umgehen. Und so habe ich hervorragende Voraussetzungen, Noten, Ehrenämter, eine dienstliche Beurteilung mit Eins, und aufgrund eines dreißigminütigen Auswahlgesprächs kaum eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt (sagt die medizinische Fachliteratur).

Ist das fair?

Die Schulen, die mich genommen haben, haben das immer aus einer Vertretungsnotlage heraus gemacht. Ich erfuhr immer die gleichen Reaktionen von begeisterten SchülerInnen und Eltern. Dass die Schulleitungen mich zu anstrengend empfanden, erfuhr ich natürlich nicht, denn darüber wird nur hinter geschlossenen Türen und erst recht nicht mit dem Betroffenen gesprochen; so ist leider unser Schulsystem.

Es gab da eine Schule, die anders getickt hat. Die offen war für das Queere an mir. Die Nordseeschule in St.Peter-Ording hatte einen Regionalschulteil, pädagogischer Brennpunkt, und das war genau mein Arbeitsfeld. Hier konnte ich Menschen helfen. Es hat von beiden Seiten gepasst, und man hätte mich dort gern unbefristet eingestellt.

Ich will ehrlich sein: Ich habe das Arbeitsverhältnis beendet. Irgendwann ging es um die Frage einer Zukunftsperspektive, denn ich bin immer von Kiel an die Westküste gependelt. Das hängt damit zusammen, dass ich mir im Studium, wo zuletzt alles so wunderbar lief, ein Leben aufgebaut hatte mit FreundInnen, die mich so akzeptierten, wie ich bin. Ich war froh, in einer Stadt zu leben und nicht mehr auf dem Land. Das war meine Welt, hier fühlte ich mich sicher.

Für einen Autisten gibt es im Leben nichts Wichtigeres als Sicherheit. Die Welt ist chaotisch und unvorhersehbar, und das macht einem Autisten Angst. Er denkt immer logisch und kommt nicht mit dem emotionalen Chaos und der Dummheit vieler neurotypischer Menschen klar. Er eckt an, sie alle sind ihm dankbar, dass er weiterhilft und sich wirklich für sie interessiert, aber nur die wenigsten möchten mehr mit ihm zu tun haben.

Deswegen war mir mein Kieler Lebensumfeld so wichtig geworden und ein Grund, St.Peter-Ording zu beenden, mit weinenden Augen auf beiden Seiten. Ich musste etwas in Kielnähe finden, sonst würde mein Leben komplett auseinanderbrechen. Und dann begannen die vielen Schulwechsel. Jedesmal wieder, nachdem ich mich in einem Vertretungsjahr an Vieles gewöhnt hatte – die Gesichter, die Stimmen, die Gebäude, die Wege, die ich zu gehen hatte, den Stil der Schule – all' das ist dann wieder weggebrochen, nachdem die Schulleitung zu der Meinung gelangt war, ich sei zu kompliziert und man wolle lieber eine Fließbandlehrkraft haben.

Das wirkt sich auf mein Privatleben aus, in dem es seit sechs Jahren bergab geht. Meine Wohnung ist kaum noch bewohnbar, ich bekomme Krankheiten, von denen ich noch nie gehört hatte, weil ich es nicht mehr geschafft habe, die normalen Lebensabläufe auf die Kette zu kriegen. Wenn ein Autist unter Stress steht – zum Beispiel, wenn ihm sein Lebensumfeld weggerissen wird – dann funktioniert er nicht mehr. Ich bin wirklich am Ende mit den Nerven.

Natürlich will ich das Gute an dieser harten Zeit nicht herunterspielen – ich weiß jetzt endlich, dass ich geistig behindert bin, habe seit einigen Wochen mein fachärztliches Gutachten und der Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung läuft.

Aber die Toni-Jensen-Gemeinschaftsschule braucht kein Englisch.

Unser Schulleiter scheint sich nicht zu erinnern, dass ich mich bereits vor neun Jahren einmal an der Toni vorgestellt hatte – weil eine Kollegin überzeugt war (und immer noch ist), dass das die richtige Schule für mich ist, und dass ich der richtige Lehrer für diese Schule bin; da wären wir wieder bei der Chemie und dem Puzzle angekommen. Damals war kein Bedarf.

Als ich dann vor vier Jahren für eine Vertretung vorstellig wurde, durfte ich einen Satz hören, der ein direkter Schlag in die Magengrube war: „Wie kann es denn sein, dass jemand mit ihren Referenzen noch keine Stelle gefunden hat?“ Ich hätte fast an Ort und Stelle angefangen zu weinen, habe dann aber nur geantwortet „Fragen sie sich das noch einmal, wenn sie mich in ein paar Jahren von der Schule verabschieden.“ 

Das war vor vier Jahren. 

Als konnte man die Zukunft vorhersehen.


Samstag, 22. Juli 2023

Nicht schwerbehindert.


So, da hätten wir den Feststellungsbescheid. Es gab da mal eine Richtlinie, nach der man als Mensch mit einer Autismus-Spektrums-Störung Anspruch auf einen Grad der Behinderung (GdB) von mindestens fünfzig hatte, aber diese Richtlinie galt nur bis Zweitausendzehn. Mittlerweile ist alles von zehn bis hundert möglich, abhängig vom Grad der sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Dazu gehört zum Beispiel, ob die Diagnose bereits im Kindesalter gestellt wurde (wurde sie bei mir nicht) oder ob ein Integrationshelfer nötig ist (ist scheinbar nicht nötig).

Daraus ergibt sich für mich ein GdB von dreißig und somit kein Schwerbehindertenstatus. Ergo auch kein Schwerbehindertenausweis. Wie es unter anderem heißt: "Ihre speziellen beruflichen Nachteile können nicht berücksichtigt werden."

Das tut durchaus ein bisschen weh. Sehr.

Gleichzeitig regt es aber, genau wie dieses dämliche erste psychiatrische Gutachten von vor vier Jahren, eine Internetrecherche an, die mir zeigt, dass ich mit dem Arbeitsamt eine Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten beantragen kann. Das steht auch ganz unten im heutigen Schreiben:

"Behinderte, deren Grad 30 oder 40 beträgt, können den schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne diese Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können. Die Gleichstellung wäre bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu beantragen (siehe § 2 Abs. 3 in Verbindung mit § 151 Abs. 2 SGB IX)."

Ich muss das jetzt erstmal einwirken lassen. Ich weiß, meine Mutter würde an dieser Stelle sofort Einspruch eingelegt haben. Ich muss erstmal mit den Menschen sprechen, die sich auskennen - mit meinem Psychiater (das ist noch ein Weilchen hin - muss per Mail passieren, denn ich kann nur innerhalb eines Monats Widerspruch gegen diesen Bescheid einlegen) und mit irgendjemandem im Arbeitsamt. Und ich muss erstmal akzeptieren, nachdem mir über ein Jahr lang diverse Menschen etwas Anderes vorausgesagt haben, um mich zu beruhigen und damit ich über meinen siebten Jobverlust hinwegkomme:

Schwerbehindert bin ich nicht.

post scriptum: Ist das nicht drollig? Für einen GdB 50+ - um also als schwerbehindert zu gelten - bräuchte ich (in den meisten Fällen) einen Integrationshelfer. Mit einem Integrationshelfer hätte ich aber keinen Anspruch mehr auf eine Verbeamtung, im Gegenteil, es gibt einen Präzedenzfall, in dem eine Verbeamtung wegen des Asperger-Syndroms abgelehnt wurde. Ist das ernsthaft unser sogenanntes soziales "Netz"?

Mittwoch, 19. Juli 2023

Helgoland geht unter

Jetzt gibt's kein Zurück mehr!

Es wird Zeit, nach vorne zu schauen. Die ganze Verbitterung und den Zynismus abzuwerfen - das dauert eine Weile. Lojong hilft. 

Auf dieses Schreiben habe ich schon lange gewartet: Vor einer ganzen Weile habe ich von den Friseur-Ladies erfahren, dass in unserem Viertel straßenbaulich etwas getan werden soll. Ich wusste aber nicht, was und wie lange das dauern würde, mir fehlten die Details, die nun in einem vierseitigen Schreiben allen Anwohnern zugegangen sind.

"Helgoland geht unter" ist gar nicht mal so übertrieben - die Helgolandstraße, an der ich wohne, soll komplett herausgerissen werden. Die Abwassersysteme sind marode und müssen erneuert werden. In dem Zuge muss sich das Kopfsteinpflaster verabschieden, die Straße wird komplett asphaltiert. Was ich richtig gut finde: Es sollen ausreichend Fahrradbügel installiert werden. Unser Viertel hat viele Fahrradfahrer, die Mieten sind relativ günstig, das zieht Menschen an, die sich ohne Auto auf Fahrrad und ÖPNV verlassen.

Ich bin aufgeregt! Jetzt geht es also endlich los; in den letzten Monaten waren immer mal wieder Landvermesser zu sehen, das hat ein bisschen Vorfreude geschürt. Wobei "Freude" vielleicht nicht der passende Ausdruck ist; die Bauarbeiten werden laut, Verkehr wird eingeschränkt - aber ich werde arbeitslos sein, mir kann das alles einigermaßen egal sein. Die Bauarbeiten sollen etwas über ein Jahr andauern. Werden also wahrscheinlich drei Jahre. 

Ganz so lang werde ich dann wohl hoffentlich nicht arbeitslos sein.

post scriptum: Es ist kaum zu glauben, aber die "Final Fantasy"-Reihe hat endlich - ENDLICH! - ihren ersten schwulen Kuss vor die Kamera gebracht. Nachdem Teil fünfzehn extrem männerzentriert war und vom "male gaze" beherrscht wurde, ist man jetzt einen Schritt weiter. Aber nicht zu früh freuen: Teil sechzehn ist "male gaze" pur! Das merkt man in der Kameraarbeit: Solange die beiden jungen Männer sich nur unterhalten, gibt es close-ups, aber genau für die Dauer des Kusses geht die Kamera so weit auf Distanz, dass man nichts erkennen kann. Wir wollen doch schließlich die homophoben Gamer nicht zu sehr verstören. Ich könnte... whatever. Wer es sehen möchte, möge einmal hier klicken, zu die große Bubas und meinem Twitteraccount, auf dem wir Screenshots und kurze Videos der Spiele posten, die wir gerade spielen. 

paulo post scriptum: "Rising action" ist nicht nur für die Bauvorhaben da unten angesagt: Ich habe heute mit dem "Landesamt für soziale Dienste" telefoniert und man hat mir mitgeteilt, dass eine Entscheidung gefällt wurde und sie mir Ende dieser Woche, spätestens nächste Woche postalisch zukommen sollte. I'll keep you posted!

Montag, 17. Juli 2023

Schulleiter


Das ist Fiktion. Ich glaube, das sind Sätze, die ich in einen Roman über unser Schulsystem schreiben würde. Das wäre dann natürlich eine Satire, denn solche Sätze fallen ja nicht im richtigen Leben.

"Sie sind ein Einser-Lehrer, aber nicht an dieser Schule. Das Gutachten ist eine Zwei, ich kann ihnen nicht erklären, warum, aber das ist meine Meinung und die werde ich nicht ändern."

"Ja, wir hatten das Vorstellungsgespräch mit ihrer Mitbewerberin, wir haben das nicht mit ihnen gemacht, denn wir kennen sie ja. Wir haben uns nicht für sie entschieden. ... Sie sind recht gelassen?" - "Man gewöhnt sich daran." - "Tschüß, Herr Ro, äh, Ho, äh, ja..."

"Ja ich weiß, sie haben das alles kommen sehen, aber trotzdem muss ich ihnen jetzt diese Dienstanweisung schreiben."

"Sie verstoßen damit gegen die Verschwiegenheitspflicht." - "Um welche sensiblen Informationen, die nicht unter die Ausnahmen fallen, geht es denn?" - "Das weiß ich jetzt auch nicht, ich habe die Blogs nicht vor mir."

"Ihre Aussage ist arrogant, überheblich und vermessen, und ich finde sie ehrlich gesagt ein bisschen unglaubwürdig."

"Und mit deiner Behinderung, das ist ja nochmal was Anderes, es ist ja jetzt nicht so, dass du eine Behinderung an deinem Fuß hättest."

"Wenn wir Inklusion leben sollen, dann gilt das selbstverständlich auch für das Kollegium." Drei Monate später: "Das geht so nicht, du musst dich eben besser anpassen."

"Sie schreiben hier, dass ich den Großteil meiner Lehrproben nicht mit meinen Mentoren abgesprochen hätte. M1 sitzt hier neben mir und wird ihnen gern bestätigen, dass alles durchgesprochen war, und hier habe ich den kompletten Mailverlauf zu jeder M2-Lehrprobe ausgedruckt. Wie kommen sie also zu dieser Aussage?" - "Naja, dann streichen wir das eben."

"In der Dienstanweisung steht, dass ich private Treffen mit Schülern unterlassen soll. Können sie mir sagen, welche Treffen sie damit meinen? Ich treffe mich nicht privat mit Schülern." - "Nein, ich muss ihnen das auch gar nicht erklären. Unterschreiben sie einfach, und dann ist die Sache gut. Das wird gar nicht in ihre Ministerialakte kommen, machen sie sich keine Sorgen."

"Sie werden da draußen sofort eine neue Schule finden."

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Warum wird man Schulleiter?

Ich würde niemals Schulleiter sein wollen. Man bekommt einfach alles ab. Es gibt da diesen Spruch Der Fisch stinkt vom Kopf. Wenn irgendwas in der Schule nicht läuft, fällt alles auf die Schulleitung zurück. Das würde ich nicht aushalten wollen. Oder ist da etwas dran?

Warum geht man auf Funktionsstellen? Als Autist fände ich es ganz interessant, Stundenplaner zu sein. Klassen, Kollegen, Fächer, Stunden hin- und herschieben, bis irgendwann alles passt. Aber an einer großen Schule passt nie alles. Und ich weiß, dass es immer KollegInnen gäbe, deren Wünsche ich nicht würde erfüllen können. Also doch kein Stundenplaner. 

Stufenleiter? Bloß nicht! Ich muss mich mit Elternhäusern auseinandersetzen, mit neurotypischen, manchmal dummen, aber Recht haben wollenden Menschen, die Geld und Einfluss haben, ich müsste die Zeugnisnoten eintreiben von KollegInnen, die es vielleicht nicht so sehr mit der Pünktlichkeit haben... nix da.

Was ist meine Aufgabe als Schulleiter? In Kontakt mit dem Schulträger zu treten. Kontakt mit dem Bildungsministerium. Dort sitzen... Menschen. Mit denen ich vielleicht nicht unbedingt kommunizieren möchte. Diese Aufgabe schieben wir mal beiseite; bliebe da noch die Fürsorgepflicht. Ich muss mich um meine Lehrkräfte kümmern. Falsch: Ich möchte mich um meine Lehrkräfte kümmern! Ich möchte, dass sie gern hier an dieser Schule arbeiten, ich möchte, dass sie sich wohlfühlen und das Beste aus sich herausholen können. Ich möchte, aber ich kann nicht, denn ich bin völlig empathielos.

Ich habe meine Sätze zurechtgelegt, die man eben so sagt, bei Einstellungen, Abmahnungen, Verabschiedungen, Konferenzen. Die gehen immer, da muss nix individualisiert werden, und damit könnte ich maskieren, dass Empathie meine große Schwäche ist. Das schadet mir auch schon als Lehrkraft, die SchülerInnen mögen mich nicht, und ich weiß nicht warum. Also ist es doch eigentlich eine gute Idee, Schulleiter zu werden, denn dann muss ich nicht mehr so viel unterrichten.

Aber auf der anderen Seite... als Schulleiter hätte ich eine Machtposition inne. Und ich bin für Personalangelegenheiten zuständig. Ich dürfte meinen Lehrkräften vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Ich dürfte sie in Vier-Augen-Gesprächen ermahnen, zumindest bis sie auf die Idee kommen, sich einen Beisitzer zu holen. Ich könnte all' ihre Akten durchsehen und sie angemessen einnorden. Ich könnte endlich Schule so gestalten, wie ich mir das vorstelle. Rote Einträge in meiner Dienstakte im Ministerium können mir egal sein, solange es nur zwei sind, und nach fünf Jahren werden sie getilgt. Und die meisten jungen Lehrkräfte haben ja noch gar kein Rückgrat, also kann ich mit ihnen umgehen, wie ich will. Sollen sie doch froh sein, dass sie überhaupt eine Stelle gefunden haben! Zur Not kann ich ihnen das auch nochmal direkt in's Gesicht sagen. Dass sie nur A Dreizehn sind und nicht A Fünfzehn. Ich kann mir unangekündigt ihren Unterricht anschauen, wenn ich sie loswerden möchte, denn irgendwas werde ich da schon finden, was mir nicht passt. Und für all' das ist es sogar ganz gut, dass ich keinerlei Empathie empfinde. Dann muss ich mir keine Gedanken darüber machen, dass ich mal wieder eine Lehrkraft in den Nervenzusammenbruch geschickt habe, denn ich habe schließlich Wichtigeres zu tun. Meine Lehrkräfte sind für mich nichts weiter als eine Fächerkombination.

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Natürlich gibt es solche Schulleitungen nicht (oft). Aber allein, dass ich das alles nachvollziehen kann, macht mir klar, dass ich niemals Schulleiter würde werden wollen.

post scriptum: Euch ist irgendwas davon schonmal passiert? Sorry, ich wollte niemanden verletzen, jegliche Ähnlichkeiten sind rein zufällig!

Freitag, 14. Juli 2023

Ab mit Schaden


Ich wünschte, ich würde diesen Beitrag nicht schreiben; ich wünschte, es gäbe keinen Anlass dafür.

Jedesmal, wenn ich eine Schule verlassen musste, habe ich mich entweder von der letzten Dienstversammlung freistellen lassen oder darum gebeten, mich nicht zu verabschieden. Der Hintergrund ist, dass das für mich kein schöner Anlass ist. Ich weiß nicht, ob es am Autismus liegt - ich nehme es nicht als nette Geste wahr, wenn ich eine Karte bekomme, auf der viele KollegInnen unterschrieben haben, und eine Blume, und die besten Wünsche für die berufliche Zukunft. Was ich wahrnehme ist:

Ja, dann hat es halt mal wieder nicht geklappt. Zum Glück sind wir Dich losgeworden, dann haben wir nicht mehr so viel Aufwand, Umstände und Stress. Manche Schulleitungen haben mir das sogar in's Gesicht gesagt. Viel Erfolg auf der Suche nach einer Schule, die dich aushält. Die dich wirklich haben will. Kann noch ein paar Versuche dauern. 

Kurz: Ich fühle mich gedemütigt.

Nach den ersten drei Schulverabschiedungen hatte ich jedesmal einen Nervenzusammenbruch, der mich mehrere Tage lang ausgeschaltet hat und mir jegliche Illusionen genommen hat, dass ich in diesem Beruf tätig sein könnte. Pattern recognition: Ich habe dieses immer wiederkehrende Muster erkannt und als reine Maßnahme zum Selbstschutz habe ich angefangen, meine Schulleitungen zu bitten, mich nicht zu verabschieden.

Darum habe ich auch meine jetzige Schulleitung gebeten. Bereits vor zwei Jahren, als der Vertrag zu enden drohte, und zur Sicherheit auch letztes Jahr noch einmal, als es wirklich so aussah, als würde es nicht klappen. 

Und so bin ich dann heute zur Dienstversammlung gegangen. In der Tasche zwei verschiedene Medikamente gegen Panikattacken für den Fall, dass mein Schulleiter mich doch aufrufen sollte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er es nicht tun wird, weil er genau wusste, wie viel Leid mir das zufügen würde. Genau über solch' ein Szenario habe ich am Dienstag extra noch einmal mit meinem Psychiater gesprochen und bin gut vorbereitet, guten Willens, aber mit einem kleinen bisschen Angst im Hinterkopf in den Bus gestiegen und zur Dienstversammlung gefahren.

Und so wurden heute im Schnelldurchlauf die Verabschiedungen abgefrühstückt; ich bin überrascht, wie unpersönlich das an so vielen Schulen abläuft. Wenn ich Schulleiter wäre, würde ich mich zumindest ein wenig über die Person informiert haben und einen individuellen Abschiedsgruß geben. Nils-Ole Hokamp, Schulleiter der Nordseeschule in St.Peter-Ording hat das so gemacht. Niemand sonst. Kostet wohl zuviel Zeit, und schließlich wollen die KollegInnen alle möglichst schnell in die Ferien; Letzteres wurde heute auch wieder explizit gesagt. Kann ich auch verstehen. Trotzdem finde ich es recht kühl.

"Tobias! Du warst ja bei uns..."

Und dann höre ich diesen Satz. Satzanfang. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was danach passiert ist, irgendjemand hat wohl "Nein" gesagt, ich weiß nur noch, dass ich meine Tasche genommen habe und rausgerannt bin, große, schnelle Schritte, nur weg von hier, schnell aus dem Portemonnaie eine Tablette holen, Wasser ist gerade nicht da, dann muss ich sie eben so schlucken. Schnell weg, nur noch weg. Weit weg. Hoffentlich wird die Ampel schnell grün, ich habe panische Angst, dass irgendjemand hinterherkommt und mich verfolgt, ich traue mich nicht einmal, mich an die Bushaltestelle Lüderitzstraße zu setzen, weil jemand mich erkennen könnte und ich möchte eigentlich nur noch, dass die Erde sich auftut und mich verschlingt. Zwei Schüler vor Aldi grüßen mich, ich weiß nicht, was ich sagen soll, also hebe ich nur kurz die Hand und marschiere stramm weiter. "Schöne Sommerferien!" rufen sie, und das Einzige, was mir einfällt ist, das Victory-Zeichen mit den Fingern zu zeigen. Also renne ich eine Bushaltestelle weiter, Tiefe Allee, und komme dort zur Ruhe. Zehn Minuten später kommt ein Bus, als stimming löse ich Logikrätsel, ich möchte nur noch nach Hause.

Zuhause angekommen, Telefon rausgezogen, keine Tränen. Die kommen erst jetzt, bei'm Schreiben.

How could you do that?

Eine lange Meditation steht an. Bitte nicht böse sein, wenn ich mich über das Wochenende nicht melde. Das war alles so absehbar, aber dass es dann so unvermeidbar dazu kommt, hätte ich nicht gedacht. 

Weg von der Schule. Ab mit Schaden. 

post scriptum: Meine SchülerInnen wussten das natürlich auch, und sie haben darauf voll Rücksicht genommen und wir hatten eine großartige letzte Stunde. Danke! Ihr seid echt toll!

Donnerstag, 13. Juli 2023

Zündende Idee


Die Meditation gestern hat mir richtig gut getan, denn irgendwann ist mir eine richtig gute Idee gekommen. Eine dieser Ideen, die mir im Studium ein paar der besten Beiträge (nach meinen Maßstäben) für die Saturnalien eingebracht haben. Es geht um den Abschiedsgruß für die Toni, wenn es denn beschlossene Sache ist. 

Das Problem ist: Dr Hilarius in diesem Zustand ist zynisch. Er würde einen Beitrag schreiben, der in alle Richtungen austeilt, egal ob "verdient" oder nicht. Der alles mit sich runterziehen würde. Und weil das schädlich für mich ist und unfair für alle Anderen, mache ich das nicht, sondern werde die Sommerferien zum Schreiben nutzen. Ich werde die Zeit brauchen, denn das Ding wird zwar nicht lang, ist aber recht komplex konzipiert. Außerdem weiß ich, dass meine Schulleitung mir morgen nicht den Platz einräumen würde, das live zu machen: es gibt bereits ein paar Kollegiums-Verabschiedungen und die KollegInnen haben sich ihre Sommerferien nach dieser für alle harten Phase redlich verdient.

Das Schreiben wird anstrengend, weil dieser Abschiedsgruß zur Abwechslung mal auf meinem Mist wachsen wird. Es ist leicht, eine Nummer von zum Beispiel dem großartigen Georg Kreisler abzuwandeln, auswendig zu lernen und vorzutragen. Das hatten wir an der Toni schon; diesmal soll es etwas Eigenes sein. Ich werde nichts weiter zum Inhalt sagen, aber einen Tipp möchte ich geben, worum es gehen wird - die Freaks unter Euch bekommen vielleicht eine kleine Vorahnung:

Boldrini.

Das Schreiben hilft mir außerdem, meine Gedanken auf etwas Anderes zu fokussieren als auf die Art und Weise, wie seitens gewisser Personen in den letzten Jahren mit mir kommuniziert wurde. "Gewisse" heißt nicht alle, und ich hoffe sehr, dass eine ganz bestimmte Mutter aus der Elternschaft diesen Beitrag liest, denn sie hat mir in den vergangenen zwei Monaten sehr viel Kraft und Rückhalt gegeben, und das, obwohl sie keiner Fürsorgepflicht nachkommen müsste. Im Buddhismus wäre man von ihr begeistert.

Ich freue mich riesig darauf, diese zündende Idee umzusetzen und meinen Kopf auf andere Gedanken zu bringen. Am Ende werdet Ihr diesen Gruß natürlich hier im Blog zu sehen bekommen, wenn Ihr denn wollt, und er wird der gesamten Schulgemeinschaft zugehen. Und auch, wenn die Gefahr besteht, einen Ab-mit-Schaden-Text zu schreiben, wie es mir hier schon einmal passiert ist, und auch wenn sich für mich persönlich die letzten dreieinhalb Jahre wie pure, nervenaufreibende Zeitverschwendung anfühlen (es ist leider so, und die Schulleitung weiß auch, warum), und auch wenn sogar mein Psychiater mir sagt, dass ich bitte Lehrer bleiben soll (und mich das Nachdenken darüber und die Angst vor neuer Ablehnung in einem unbekannten Kollegium Einiges an Kraft kostet), wird es diesmal anders, mit ehrlichem Lächeln und Zwinkern. Und wenn sich dadurch dann jemand angegriffen fühlen wird, sollte dieser Jemand sich im Anschluss einmal fragen, warum das so ist.

Let's go, noch fast leeres Word-Dokument! Ba-DAMM-da. Da-Da-DAMM!

Mittwoch, 12. Juli 2023

Wie in der Twilight Zone


So ein durchgetakteter Tag kann nur schiefgehen. Dabei war der Plan eigentlich safe & sound. Morgens um halb sieben klingelt der Wecker. Ich nehme mein Tablettenfrühstück, lese kurz die Schlagzeilen bei Google News, dann setze ich mich in den Bus, fahre zu meinem Hausarzt und hole dort die Überweisung zum Psychiater für das dritte Quartal ab, fahre dann zurück zum Hauptbahnhof, um zwei Minuten nach neun fährt der Zug nach Neumünster ab und ich bin pünktlich um zehn Uhr im Friedrich-Ebert-Krankenhaus, nehme dort meinen Termin bei'm Psychiater wahr, eine Stunde, passt, danach mit Zug zurück nach Kiel (DE-Ticket ist schon echt cool), mit dem Bus Richtung Dietrichsdorf und rechtzeitig bei den Oberstufenkonferenzen antanzen, da sind ein, zwei interessante SchülerInnen dabei, zu denen es etwas zu sagen gibt.

Okay, den Hausarzt musste ich streichen, weil die leider nicht schon um acht öffnen, sondern erst um halb neun, und dann würde ich den Zug nicht mehr bekommen und der gesamte Tagesplan fällt um wie eine Reihe Dominosteine. Aber der Rest hat geklappt. Ich fahre viel zu früh ab Diesterwegstraße los, am Hauptbahnhof kaufe ich mir noch zwei Hefte mit Logikrätseln, ich brauche manchmal einfach brain food. Und da steht der Zug auch schon bereit, auf Gleis Vier, der Regionalexpress nach Hamburg, Abfahrt zwei Minuten nach neun, es ist zwanzig vor, passt. Der Zug wird recht voll, ich suche mir einen schönen Einzelplatz mit reichlich Ablagefläche, auf der ich Rätsel lösen kann, und vertreibe mir die Zeit. Neun Uhr zwei, ich höre durch das Fenster die altbekannte Lautsprecherdurchsage. "DING-DONG.. Abfahrt Regionalexpress nach Hamburg Hauptbahnhof. Bitte von den Türen fernbleiben." Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie der Zug abfährt.

Von außen. Zwei Gleise weiter.

Und ich bleibe in meinem Zug stehen. Nichts bewegt sich. Es dauert ein paar Momente, aber nach und nach recken sich die Köpfe der anderen Fahrgäste und jeder realisiert, dass er nicht im Regionalexpress RE Sieben nach Hamburg sitzt, Abfahrt neun Uhr zwei - sondern im RE Siebzig nach Hamburg, Abfahrt neun Uhr fünfundzwanzig. Die Anzeige am Bahnsteig war falsch. Es dauert ganze fünf Minuten, bis endlich eine Durchsage von der Zugführerin kommt, die uns erklärt, dass wir im falschen Zug sitzen und sie sich nur dafür entschuldigen kann und dann noch irgendwelches Anschlusszüge-Bürokratiergehege.

Eigentlich sollte ich gerade psychisch labil sein und unter Stress stehen. Aber ich entspanne mich. Nichts ist entspannender als das anzunehmen, was kommt. So langsam scheine ich den Satz des Dalai Lama zu verinnerlichen. Ich bleibe ruhig, ich kann nichts an der Situation ändern, und natürlich habe ich kein Smartphone bei mir, kann also auch nicht in der Klinik anrufen und Bescheid geben - dann kann ich die Zeit auch weiter genießen und habe schmunzelnd an meinen Rätseln weitergearbeitet.

Gut zwanzig Minuten später sind wir dann ja auch losgefahren, und mit strammem Fußmarsch in Neumünster diesmal direkt richtig, ohne mich zu verlaufen, bin ich gerade mal vier Minuten nach zehn in der PIA angekommen und kann in's Wartezimmer gehen, Termin klappt. 

Dass sich dann doch alles verspätet hat und ich die Konferenzen nicht mehr geschafft habe, war irgendwie sekundär, denn das Gespräch mit meinem Psychiater hat mir diesesmal richtig gut getan. Er hat mir geholfen, andere Blickweisen zu finden und das meiner Wahrnehmung nach grausige Gespräch mit meinem Schulleiter besser zu verstehen. Eine Menge gedankliche Klarheit am Ende eines solchen Termins ist viel wichtiger und mehr wert als jedes Medikament, das ich mitnehme (wird aber natürlich ausprobiert).

Das war ein irrer Dienstag; als ich im Zug aus dem Fenster geschaut habe und realisiert habe, wie mein Zug da vom anderen Gleis abfuhr - für einen Moment habe ich mich gefühlt wie in einer Folge der klassischen Twilight Zone (1959). Das musste hier festgehalten werden.

Montag, 10. Juli 2023

Kinder schlagen


Samstag nachmittag, ich sitze in der Vierzehn von Bettendorf zum Hauptbahnhof. Vorne links, hinter der Fahrerin, Einkaufstasche zwischen den Beinen, Logiktrainer auf dem Schoß. Auf den Platz vorne rechts setzt sich eine ältere Dame, Lehrerin im Ruhestand, wie ich erfahre. Sie fängt an, sich mit der Busfahrerin zu unterhalten, und ich kann ihr Gespräch nicht ausblenden. Ich habe mich ein bisschen wie die große Buba mit ihrer selektiven Schwerhörigkeit gefühlt; der Bus war voll, überall wurde geredet, aber dieses eine Gespräch hatte ich vollkommen im Fokus.

"Die Jugendlichen heute werden auch immer unhöflicher. Der junge Mann, der eben hinten eingestiegen ist. Sie haben extra für ihn nochmal gebremst, aber er hat sich nicht einmal bedankt. Frecher, und unerzogen! Die bräuchten mal einen ordentlichen Klaps. Ich habe das während meiner Lehrzeit gemacht, am Anfang, wenn ein Schüler zu ungehorsam war. Mittlerweile darf man das ja nicht mehr! Dann bekommt man eine Dienstaufsichtsbeschwerde!"

Ich bin nicht so gut darin, den Tonfall anderer Menschen richtig zu deuten, aber die Dame war definitiv etwas enttäuscht davon, dass man Kinder heute nicht mehr schlagen darf. Erstmal: Ich habe Verständnis dafür, dass Kinder einen triezen können, bis man explodiert. In der Orientierungsstufe fange ich dann an zu schreien, so laut, dass manche SchülerInnen tatsächlich Angst bekommen. Das ist psychische Gewalt, und es hat mir jedesmal Leid getan, wenn das passiert ist. Ich bin Autist - ich kann nicht anders. Wenn ich von Reizen überflutet und von frechen Kiddies bombardiert werde, dann staut sich Energie an und platzt dann heraus. Ich kann das nachvollziehen.

Aber handgreiflich zu werden - da wäre für mich eine Grenze überschritten. Ich habe noch nie jemanden geschlagen und werde es auch weiterhin nicht tun, nicht einmal "nur eine kleine Ohrfeige", so wie sie damals in meiner Schulzeit mein Biolehrer an einen Mitschüler ausgeteilt hat. Zum Glück haben wir mittlerweile ein Gesetz, dass es verbietet, Kinder zu schlagen. Zum Glück würde so etwas zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde führen! 

Die Kiddies sind, wie sie sind. Als Lehrer muss ich an mir arbeiten, um damit umzugehen. Meine Behinderung macht es mir etwas schwerer, aber das Lojong-Training hat schon sehr weit geholfen. Ich darf das nicht an den SchülerInnen auslassen. Sicher mögen manche von ihnen schlecht erzogen sein - aber das ist nicht ihre Schuld! Zu wenig Aufmerksamkeit zuhause, zu wenige Richtlinien, generell zu wenig Zuwendung seitens der Eltern - all' das kann dazu führen.

Lasst es nicht an dem Kind aus.

Freitag, 7. Juli 2023

Gerührt (nicht geschüttelt)


"Ähm, sie, also ich wollte sie mal was fragen, ich meine, äh, also weil sie weggehen, ich hab das unterschrieben, äh, weil ich das voll gemein finde, dass andere bevorzugt werden und sie nicht."

Manchen fällt es schwer, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Das gilt für einen Großteil der Menschen auf'm Spektrum, und das gilt auch für den Schüler, der mir das heute an der Bushaltestelle gesagt hat. 

Etwas hat sich in den letzten zwei Wochen verändert an der Schulatmosphäre. Ihr, die Ihr schon länger fest an einer Schule seid, kennt das vielleicht. Es fühlt sich anders an, durch die Schulflure zu gehen. Anders als sonst. Auf einmal grüßen mich viel mehr SchülerInnen, die ich noch nie unterrichtet habe. Das hat mich anfangs extrem verwirrt, natürlich grüße ich zurück, aber bei jedem "Guten Morgen!" oder "Hallo!" ist mein Gedankenzug wieder entgleist. Warum grüßen sie mich auf einmal? Und dann hört man aus der Entfernung sowas wie "Ach, das da ist Dr Hilarius".

Bis mir dann irgendwann ein Licht aufgeht. Ein paar meiner SchülerInnen haben eine Petition für mich gestartet. Sie sind durch die Klassen gegangen, ich habe diese Listen mit hunderten Unterschriften gesehen. Es fängt also an zu wirken, das, was ich bisher im Blog verschwiegen habe und worüber ich auch weiterhin nichts sagen werde. Im Kopf bin ich natürlich schon drei bis fünf Schritte weiter, das ist der Hochbegabung geschuldet, ich kann nicht anders. 

Und deswegen hat mich das Erleben in der Schule so überrascht, und ich bin total gerührt von der ganzen Unterstützung, die mir entgegen gebracht wird. Ich weiß tatsächlich nicht, was ich sagen soll.

Ende des Beitrags.

post scriptum: Und es kommt noch etwas Freude hinzu - heute habe ich im Unterricht zum ersten Mal "Joan Is Awful" (eine Black Mirror-Episode) behandelt, klassisch mit Vorentlastung und Voreinstellung. Ich dachte mir bei'm ersten Ansehen schon, dass das etwas für den Unterricht sein könnte. Es hat meine SchülerInnen zum Reden gebracht, und das war großartig! Nächste Stunde ist noch die Nachbereitung dran, und ich freue mich, dass meine Vorbereitung aufgegangen ist. Wir schauen das auch irgendwann mal, die große Buba, ja?

paulo post scriptum: Und ein sehr intelligenter Kopf meinte dann heute "Schön, sie lassen uns Netflix schauen und mussten dafür keinen Unterricht vorbereiten." Und weil ich weiß, was Sachlichkeit ist, habe ich dann damit gekontert, wie viel Vorbereitung tatsächlich in dieser Stunde steckte. Das Ansehen der Episode für mögliche Vokabelprobleme, sehen, wo pausiert und welche Frageimpulse gesetzt werden können, SchülerInnenreaktionen antizipieren - das braucht alles seine Zeit, und Ihr lieben Lehrkräfte da draußen wisst das, Euch brauche ich das nicht zu sagen. Aber dieser intelligente Kopf heute brauchte eine Aufklärung. ;-) 

addendum: Gestern hatte ich darüber geschrieben, wie ich die Verabschiedung unserer AbsolventInnen verschlafen habe. Eben lese ich eine Mail, angehängt ist das Foto der Kiddies auf den Abitreppen. Da stehen sie alle, die ich verpasst habe. Strahlend (nicht alle, Fotomoment eben), das Zeugnis in der Hand, viele von ihnen haben sich für diesen Anlass schick angezogen, ich erkenne manche von ihnen kaum wieder. Kennt Ihr das Gefühl? Und während ich dann so einzeln nach und nach die Gesichter durchscanne und sie wiedererkenne, rollen die Tränen. Ich bin so stolz darauf, wie einige für ihren Abschluss gekämpft haben.

Heute also doppelt gerührt.

Donnerstag, 6. Juli 2023

Einstellen - Ausstellen. Und verschlafen.


"Und ich drücke dir die Daumen, dass dein Antrag bald durch ist und du offiziell schwerbehindert bist. Dann müssen sie dich nämlich einstellen, oder zumindest können sie dich dann nicht mehr einfach loswerden."

"Ja, und genau so ist es an einer meiner ehemaligen Schulen gewesen, da hat man mich ausgestellt, um eine normale und unkompliziertere Lehrkraft einzustellen."

Drollig, wie Autisten dazu neigen, neue Wörter zu erfinden. So kam es heute im Bus also zu diesem Dialog zwischen mir und einem meiner (ehemaligen) Schüler, jetzt in der achten Klasse. Dass der kleine Steppke nicht wie ein Achtklässler klingt, ist auch typisch Autist, da gibt es sowas wie Barrieren in der Kommunikation, dem Altersunterschied geschuldet, nicht.

Das Gespräch hat gut getan, im Rückblick auf einen Tag, an dem (fast) nichts so gelaufen ist wie gedacht. Unterrichtsschluss war heute etwas früher, weil die Verabschiedung der AbschlussschülerInnen anstand. Ich habe dieses Jahr einige von ihnen unterrichtet, deswegen ist es natürlich selbstverständlich, dass ich an der Feier teilnehme. Ein bisschen stolz auf die Kiddies, aufgeregt für sie und ihren ersten Schritt in die Realität. Und die machen sich so schick dafür, einen Punk/Goth-Schüler habe ich heute in Anzug und normalen Haaren kaum wiedererkannt. Ich hätte ihm sagen sollen, dass das eine gute Idee ist, denn die Vorurteile, die solche Outfits mit sich bringen, sind intensiv und überall.

Ich musste also nach der fünften Stunde nur kurz nach Hause, Notenlisten holen. Dann war aber noch eine halbe Stunde Zeit, und ich hab gedacht, eine Runde Dösen muss drin sein, der Verkehr draußen ist so laut, dass ich schon nicht einschlafen werde. Damit habe ich aber meinen Schlafmangel etwas unterschätzt - und bin vor knapp zwei Stunden wieder aufgewacht.

So ein Scheiß! Die Feier hat mir echt was bedeutet, und ich komme nicht umhin zu denken, dass mir sowas früher nie passiert wäre und dass es mir zeigt, wie scheiße die Situation gerade wirklich ist. Zum Glück lehrt uns der Buddhismus, in Krisen immer das Positive zu finden und sich darauf zu konzentrieren - und dazu gehörte dann zum Beispiel das Busgespräch und die Klausurrückgabe in Elf. Kaum zu glauben, aber nach Abstimmung haben sie sich einen Actionfilm gewünscht - und keiner von ihnen hat schon einmal Speed (1994) gesehen. Say what you want - in diesem Genre ist der Film eines der großen Meisterwerke. Wenn sogar das eher konservative Lexikon des internationalen Films das feststellt, will das was heißen, und von den Kritiken auf rottentomatoes.com fange ich gar nicht erst an.

Ich habe den Film selbst zuletzt vor über zehn Jahren gesehen - und es ist ein tolles Erlebnis. Wenn man hunderte Filme gesehen hat, sieht man irgendwann mit anderen Augen, und der Film ist heute wie damals ein anspruchsloser, aufregender Actionthriller. Und Sandra Bullock mag ich sowieso. Und das Eisessen mit dem Kurs in Neun heute war auch super.

Und ohne Gegenwehr lasse ich mich diesmal nicht so einfach ausstellen.