Dienstag, 16. April 2024

Farewell, Toni.


Die Gewissheit kann eine schillernde Sache sein.

Seit ein paar Tagen habe ich es jetzt schwarz auf weiß, dass eine Rückkehr an die Toni-Jensen-Gemeinschaftsschule aussichtslos ist, Gründe unterliegen natürlich der Verschwiegenheit. Diese Nachricht hat mich richtig fertig gemacht. Depressiver Schub, Angst, angewiesen auf ein Anxiolytikum. Über die vergangenen neun Monate habe ich mich quasi an diesen letzten Strohhalm geklammert, dass ich wieder an die Schule zurück kann.

Ich wollte das unbedingt, auch wenn ich von manchen KollegInnen passive-aggressively angefeindet worden bin - das ist an jeder Schule so, und sobald ich erstmal weiß, welche KollegInnen mir wohlgesonnen sind, kann ich den Rest gut ausblenden. Ich wollte unbedingt meine SchülerInnen wiedersehen und sie zu ihren Schulabschlüssen bringen. Ich wollte unbedingt das Schularchiv weiterführen, und ich wollte unbedingt den Gesprächskreis für autistische SchülerInnen einrichten.

All' diese Pläne sind jetzt endgültig hinfällig.

Aber, wie gesagt, diese Gewissheit schillert, und auch in optimistischen Farben. Ich kann jetzt endlich von den Toni-Plänen loslassen und mich darauf vorbereiten, dass ich an eine neue Schule kommen werde. Ich kann das Dreieinhalb-Jahre-Paket von meinen Schultern loswerden, ich habe den Kopf etwas freier für wichtige Dinge, die anliegen. 

Es hat einige Tage gebraucht, in denen es mir mies ging und ich eigentlich mit niemandem reden wollte. Stattdessen nutze ich, wie so oft, jetzt den Blog als Output für meine Seelenwelt. Ich wollte ursprünglich ein paar KollegInnen namentlich verändert erwähnen, die mir besonders am Herzen lagen und die ich wirklich sehr vermissen werde - aber ich bin sicher, dass diese Menschen wissen, dass sie gemeint sind, und ich danke ihnen für ihren Rückhalt und ihre Bereitschaft, sich mit einer autistischen Lehrkraft, die nicht immer ganz einfach ist, auseinanderzusetzen. Und ich möchte meinen ehemaligen SchülerInnen danken für alles, was sie für mich getan haben, und für ihre Bereitschaft, diverse Unterrichtsversuche auszuprobieren, ohne zu meckern.

Ich werde Euch alle vermissen, eine Zeit lang. In meinem Herzen bleibt Ihr für immer.

Und ich wollte auch eigentlich eine Art "Urteil" abgeben über meine Zeit an der Schule, so wie ich das bei anderen Schulen auch ab und an getan habe - aber ich lasse es diesmal. Ich möchte nur auf eine Sache hinweisen: Das Kollegiumsklima, bzw. dessen Wandel, gibt es auch an vielen anderen Schulen, for better or worse

Farewell, Toni.

Donnerstag, 11. April 2024

Augen auf!


Ich gehe derzeit sehr gezielt einkaufen, wenn ich im Rewe Center bin. Pfefferminztee, grüner Tee, Nudeln, Suppengrün, probiotischer Joghurt, reicht. Das macht den Einkauf schnell und nicht unnötig teuer. Meine Augen fixieren sich direkt auf das Zielprodukt, denn es sind immer die gleichen Sachen - immer wieder zum Suppengrün im Bioregal, immer wieder zum Grüntee gegenüber dem Kaffeeregal.

Für Autisten ist so eine wiederkehrende Routine wunderbar, sie beruhigt, fühlt sich "logisch" an, das macht tatsächlich glücklich. Es ist grauenhaft, wenn ich in einem riesigen Supermarkt stehe und eigentlich gar nicht weiß, was ich so einkaufen will. Allerdings kann dieses zielgenaue Einkaufen auch Nachteile haben, und einen davon habe ich heute entdeckt.

Schnurstracks zum Teeregal und den grünen Tee von Meßmer einpacken, fünfundzwanzig Beutel für zwei Euro neununddreißig. Wie jedesmal, fast ganz rechts am Rand, die ganzen anderen Sorten nehme ich überhaupt nicht mehr wahr. Was ich auch bisher nicht wahrgenommen habe, ist, dass es noch ein wenig weiter nach rechts geht - direkt neben dem Tee steht grüner Tee derselben Marke, ganz rechts am Rand, fünfzig Beutel für zwei Euro neunundneunzig. What the...?!

Das ist runtergerechnet fast der halbe Preis! Und mir ist die Packung bisher nie aufgefallen, weil das Design gleich ist, sie ist nur etwas größer und steht wirklich ganz rechts am Rand, wo man nicht sofort hinschaut. Das Preisschild ist unauffällig. Naja, besser spät als nie - ab jetzt nehme ich nur noch die Fünfzigerpackungen, die reichen für knapp zwei Wochen, wunderbar.

Zeigt mir mal wieder, dass ich auch mit dem Blick flexibel bleiben muss, und dass die eingeübte Routine nicht zwangsläufig die beste ist, nur weil sie funktioniert.

Montag, 8. April 2024

Sein dürfen, wie ich bin

Die große Buba und Dr Hilarius

Was für ein holperiger Titel - aber passend zu diesem Thema, das eine Menge Schlaglöcher bietet. Die Leitfrage lautet:

Darf ich so sein, wie ich bin?

Das fragen sich viele Menschen, die von der "Norm" abweichen, neurodivergente Menschen, die LGBTQ-Community und viele mehr, und das Spannende ist die Antwort, die man auf diese Frage von Anderen bekommt. Meistens ist es etwas in der Richtung "Ja, natürlich darfst du hier du sein." Ernstgemeint ist das aber meistens nicht.

Ich habe mir die Frage auch ein Leben lang gestellt. Immer, wenn ich an eine neue Schule gekommen bin, habe ich gefragt, ob es in Ordnung ist, dass ich schwarze Outfits und Nagellack trage. Immer hieß es "Kein Problem!" - und später gesellte sich dann die Frage dazu, ob ich autistische Verhaltensweisen zeigen darf. Schulleitung: "Wenn wir schon Inklusion an der Schule leben sollen, dann gilt das selbstverständlich auch für das Kollegium."

Es galt vier Monate lang, dann kam das erste "Du musst dich anpassen". Fragt Euch mal ganz ehrlich, an welchem Ort, mit welchen Menschen Ihr genau so sein dürft, wie Ihr seid. Ich behaupte, dass es eine sehr geringe Menge ist. Ort: Meine Wohnung, aber nur, wenn niemand dabei ist. Ausnahme: Die große Buba. Wenn sie hier bei mir im dritten Stock auf der Couch neben mir sitzt, dann darf ich endlich so sein, wie ich bin. 

Ich darf Fingerstimming machen. Ich darf an meinen Füßen herumgrabschen, während sie erzählt. Ich darf über alles reden, Krankheit, Videospiele, Filme, Schule. Ich darf Tee trinken. Ich darf an jeder Stelle sagen: "Äh, moment, das verstehe ich nicht. Bitte umformulieren." Ich darf Wäsche aufhängen. Ich muss nicht meinen Mund halten, aus Angst, dass etwas falsch verstanden wird. Ich darf meine Zähne putzen.

Ich glaube, sie ist derzeit der einzige Mensch, bei dem ich mich in keiner Weise verstellen muss. Ich weiß aber, dass auch die Sannitanic so wäre, wenn wir so viel direkten Kontakt hätten. Und ich weiß, dass seit einiger Zeit meine Mutter dazugehört. Kennt Ihr ja vielleicht, dass man sich vor seinen Eltern verstellt, um sie glücklich zu machen oder wasweißich, und dass die Offenheit und Ehrlichkeit erst später im Leben kommt. Dennoch besser spät, als nie.

Ich wünschte, mehr Menschen meinten es ernst, wenn sie sagen: "Sei ganz du selbst."

Mittwoch, 3. April 2024

Yip yip yip!


Ich habe zu Ostern ein Geschenk bekommen, das definitiv originell ist und das ich so noch nicht gesehen habe. Ich vermute mal, viele von Euch werden es schon auf dem Bild oben erkennen: Die große Buba hat mir einen der Außerirdischen aus der Sesamstraße gehäkelt. Sie liebt Häkeln und Stricken und kann das auch richtig gut, und als ich dann das Teil mit den Kulleraugen in der Hand hatte, war ich total begeistert.

Zunächst begeistert vom Nostalgie-Flash, der mich überkam, als ich vor meinem geistigen Auge wieder die beiden Außerirdischen sah, die sich gefragt haben, ob ein Telefon eine Kuh sei, und dann das Klingeln nachgeahmt haben, mit großartigen "Gesichts"ausdrücken. Und dann begeistert, weil der YipYip wie ein kleines Körbchen funktionieren kann, es passt genau ein Osterei rein - oder etwas, was einem wichtig und klein ist.

Ich realisiere außerdem gerade, dass es auf dem Foto so aussieht, als hätte der YipYip zwei Antennen, die ihm Licht spenden, so ähnlich wie der Tiefsee-Anglerfisch. Ganz großartig, ich bin begeistert, und so kann ich nachher mit der großen Buba wieder begeistert Monster verkloppen (oder Wände, wir nehmen das nicht so genau).



Samstag, 30. März 2024

Haustier: Hund. ...not.


Ich denke immer mal wieder darüber nach, dass ein Mitbewohner interessant sein könnte. Aber wen nehmen wir da? Sofort ausgeschlossen werden Menschen, besonders neurotypische. Quelle für Traurigkeit, muss nicht sein. Mit einem anderen Autisten könnte das vielleicht anders sein, aber ein menschlicher Mitbewohner kommt für mich nicht in Frage.

Was für ein Haustier also? Auch hier kann ich eines direkt ausschließen: Ich werde mir niemals einen Hund zulegen. Ich habe Angst vor Hunden, und das beruht auch auf dem Autismus. Hunde bellen. Laut. Ohne Vorwarnung. Ich erschrecke mich jedesmal wieder - und dann werde ich gegaslighted: "Der freut sich doch nur, du musst keine Angst haben!"

Ich weiß, dass Hunde auch bei großer Freude bellen können. Der Grund ist mit aber völlig egal. Es ist die Unberechenbarkeit; der Gedanke "jeden Moment könnte dieses Tier bellen". Angst. Natürlich könnte auch ein Kindheitstrauma da reinspielen, als mich kleinen Steppke auf dem Fahrrad ein Hund laut bellend in einem Mordstempo verfolgt hat. Da hatte ich auch Angst. Hauptsächlich ist es aber das Bellen, das ist mir im Laufe der Jahre klar geworden und eben wieder als Gedanke aufgeploppt, als während der Meditation eine Töle im Viertel angefangen hat, laut zu bellen. Und das nicht nur einmal, sondern über sieben Minuten einunddreißig Sekunden lang.

Ich bräuchte einen stummen Hund. Vielleicht hat das auch gar nichts mit Autismus zu tun, sondern mit Hochsensibilität; ein paar der Eigenschaften habe ich auch, das habe ich durch meine beiden besten Freundinnen realisiert. Aber selbst ein stummer Hund würde bei mir leiden, denn ich würde das Gassigehen vergessen, ich will ihm nicht meine gesamte Aufmerksamkeit schenken, immer und überall - ich bräuchte eher ein Tier, das eigenwillig und pflegeleicht ist und auch mit sporadischer Versorgung klarkommt. Ich lande da bei einem Terrarium mit ...? Vielleicht ein Reptil. 

Aber das ist Zukunftsmusik; erstmal muss ich mein Leben wieder in den Griff bekommen.

Kennt jemand von Euch das mit dem Bellen und Erschrecken?

post scriptum: Keine Sorge, Bruder, ich werde auf jeden Fall bei dem Ereignis im Herbst dabei sein! ;-)

Mittwoch, 27. März 2024

Das Gras ist angekommen

Damals in den Kronshagener Bergen....

Nun sind wir also endlich so weit, die Cannabis-Freigabe ist unterzeichnet. Wobei, so weit sind wir auch wieder nicht, denn jetzt steht eine Menge Bürokratie an. Strafen aus der Vergangenheit müssen überprüft werden. Cannabisclubs müssen gegründet bzw. zertifiziert werden. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich einfach losgehen und mir einen Joint besorgen kann.

Nicht, dass ich das unbedingt tun würde: Ich schreibe es hier immer wieder, die Wirkung von THC sagt mir nicht besonders zu. Außerdem bin ich kein Raucher; wenn, dann würde ich einen Vaporizer nutzen, denke ich. Oder eine Glasbong, kurz und fast schmerzlos. Was ich aber tun werde: Ich werde mir, wenn ich meine anderen Angelegenheiten im Griff habe, einen kleinen Vorrat an Gras hier zulegen. Als Notfallmedikation für was auch immer eintreten mag. Gibt mir dann ein Gefühl von Sicherheit. Ich muss es nur irgendwo vergraben oder so, ich mag den Geruch absolut nicht. Vielleicht kommt es, wie all' meine Notfallmedikamente, in den Keller.

Ich bin ja gespannt, ob sich jetzt die ganze Panikmache der CDU und der CSU bewahrheitet. Ob jetzt hunderttausende Menschen in die Abhängigkeit rutschen, der Straßenverkehr viel gefährlicher wird als vorher, die Drogenkriminalität noch mehr zunimmt. Bin wirklich gespannt - Modellversuche anderer Länder zeigen das Gegenteil. 

Allerdings frage ich mich auch, wie sich die neue gesetzliche Regelung auf unsere SchülerInnen auswirken wird, und da mache ich mir tatsächlich etwas Sorgen. Für sie wird es leichter werden, an das Gras zu kommen, und die Entwicklung des Gehirns kann tatsächlich beeinträchtigt werden, von der schulischen Performance mal ganz zu schweigen. Und allen Jugendlichen einen verantwortungsbewussten Umgang mit Gras zuzutrauen wäre doch extrem naiv. Ich war auch mal jung und weiß, was Grenzüberschreitungen bedeuten, und das Gefühl von Unsterblichkeit.

Also, liebe KollegInnen: Starten wir in die Ferien mit dem Vorhaben, unsere Schulkiddies im Blick zu behalten. Ob sie kiffen, was das mit ihnen anstellt, ob die Situation sich in irgendeiner Art und Weise ändert - all' das. 

Bleiben wir achtsam!

Montag, 25. März 2024

Besuch bei'm Psychiater und das Stigma


Freitag

Ich nehme so gut wie nie Filmempfehlungen von anderen Menschen an - und davon bekomme ich als Lehrer reichlich von meinen SchülerInnen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich gute Filme liebe. Die meisten Jugendlichen haben in dem Alter noch kein Gespür dafür, was ein "guter" Film ist, weil ihnen die Vergleichswerte fehlen. Also empfehlen sie mir, was sie selbst toll finden. Und das höre ich mir dann höflich an, setze es aber nicht um.

Anders ist es, wenn die große Buba mir einen Film empfiehlt, denn ich glaube, sie gibt sich sehr viel Mühe, mich als Autisten wirklich zu verstehen, und auch zu verstehen, was mir echte Freude bereitet - dafür liebe ich sie, denn das ist ein hartes Stück Arbeit, was auch immer wieder Enttäuschungen mit sich bringt. Und selbst bei der großen Buba brauche ich manchmal sehr lange, bis ich einem Filmtipp auch wirklich nachgehe.

Dass jemand mir einen Film vorschlägt und ich direkt bei'm Nachhausekommen das Teil auf Netflix suche, finde und mir direkt anschaue, sowas gab es bis heute nie. Aber... vielleicht sollte ich am Anfang anfangen, am Beginn eines sehr erleuchtenden, aufregenden Tages, der in mir eine tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit hervorgerufen hat.

Definitiv nicht Zufriedenheit mit der Deutschen Bahn. Denn ich hatte heute um halb zehn morgens meinen Termin bei'm Psychiater, und ich bin auf den ÖPNV angewiesen, und das Deutschlandticket als Chipkarte works like a charm. Also gehe ich heute um viertel nach acht zu Gleis fünf, auf dem der Regionalexpress nach Pinneberg bereit steht.

Ist ja seltsam. Niemand sitzt drin, oder... doch, da hinten sitzt auch jemand. Aber warum stehen noch so viele Menschen auf dem Bahnsteig? Ich könnte natürlich einfach jemanden fragen, aber ich bin Autist und vermeide es, fremde Menschen anzusprechen. Also gehe ich noch einmal zur Tür, schaue draußen auf die Anzeigetafel - aber alles sollte eigenlich stimmen, und so suche ich mir einen Sitzplatz im Untergeschoss in Fahrtrichtung, links am Fenster natürlich. Ich hole meine Logikrätsel heraus und vertreibe mir die Zeit, bis ich sehe, dass die Menschen sich draußen in Bewegung setzen. Sie alle gehen zurück zum Eingang des Hauptbahnhofs, okay, what the ...? Ich bekomme Angst. Werde ich hier jetzt gleich auf ein Abstellgleis gefahren und komme nicht mehr aus dem Zug? Panisch renne ich zur Tür, zwar mit Rucksack, aber meinen schönen Regenschirm von Samsonite hat jetzt die DB. Und ja, ich weiß, es gibt da ein Fundbüro, aber das sind fremde Menschen, also kaufe ich mir lieber einen neuen. Von der gleichen Art natürlich.

Immerhin lande ich jetzt auf dem richtigen Bahnsteig, wo angezeigt wird, dass sich die Abfahrt um eine Viertelstunde verzögert. So what, ich habe einen kleinen Zeitpuffer, bevor ich im Krankenhaus sein muss. Und dann fängt auch endlich alles an, richtig zu funktionieren. Ich esse einen Schokoriegel - Zucker als Entzündungsförderer eigentlich nicht so gut, aber ich brauche etwas Energie für den Tag, die große Buba sagt Edhergighie.

Ich habe mich sehr auf diesen Termin gefreut, denn der letzte ist drei Monate her. Es hat einfach terminlich nicht besser gepasst; und während ich einmal bei einem monatlichen Besuch schon dachte, dass es eigentlich kaum Neues zu berichten gibt, waren drei Monate dann doch zuviel, vor allem, weil sich in meiner beruflichen, gesundheitlichen und familiären Situation viel getan hat in dieser Zeit, und nichts davon wirklich zum Positiven. Vielleicht sind anderthalb bis zwei Monate derzeit eine gute Frequenz für uns. Ich habe das aus verschiedenen Psychologieserien gelernt, dass man das je nach Bedarf umstellen kann und sollte, immer im Sinne des Patienten, und ich muss einfach mal konstatieren: Ohne den Rückhalt meines Psychiaters wäre ich in dieser Welt, an diesem Punkt angekommen, vollkommen aufgeschmissen. Meine lieben Eltern würden so gern helfen, aber ich brauche fachliche und rechtliche Hilfe, das heißt, es müssen Fachleute ran.

Ich möchte wirklich jedem, der ein starkes Gefühl davon hat, er könne auf dem Autismusspektrum sein, empfehlen, einen Platz bei einem guten, spezialisierten Psychiater zu bekommen. Auch wenn es eigentlich gerade nicht nötig scheint - irgendwann werden Probleme kommen, aus unterschiedlichsten Gründen (zum Beispiel, weil die Eltern sterben), und dann ist man hilflos und allein gelassen. Ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich mir im Kopf gerade ein paar wenige KandidatInnen vorstellen kann, denen das vielleicht helfen könnte. 

Bringt den Mut auf, sucht Euch einen Diagnoseplatz! Möglichst jetzt, denn die Vorlaufzeit ist unglaublich lang. Bei mir hat es - wenn mich die Erinnerung nicht trügt - anderthalb Jahre gedauert bis zum ersten Termin. Die PsychiaterInnen sind einfach komplett überlastet, und dabei können sie im Leben eines autistischen Menschen so viel Gutes bewirken, und das auch schon komplett ohne Medikamente, indem sie einen geschützten Raum zum Reden bieten. 

Bitte geht diesen Schritt. Auch wenn der Gedanke nagt "Nö, betrifft mich ja nicht unbedingt, brauche ich gerade eigentlich nicht wirklich" - die Fachliteratur bestätigt: Irgendwann im Leben werden wir AutistInnen Hilfe brauchen, und wenn wir noch so sehr high-functioning (a.k.a. Asperger) sind.

Aber zurück zum heutigen Besuch, und ich merke gerade, ich muss den Artikel morgen weiterschreiben, denn es war ein sehr langer Tag und ich habe das alles immer noch nicht verarbeitet. Keine Sorge, das mit den Filmen kommt noch, ich schreibe morgen weiter!

(...)

Let's go. Natürlich werde ich hier nicht vom konkreten Inhalt des Gesprächs schreiben, sondern etwas abstrahieren und mich vor allem darauf konzentrieren, was das bei mir ausgelöst hat. Könnte auch für meinen Psychiater interessant sein, vielleicht liest er das jetzt gerade. Falls ja, hier nochmal: DANKE für Freitag!

Natürlich hat es gut getan, nochmal die Rückschläge aus dem Januar und Februar Revue passieren zu lassen, die Ablehnung des Schwerbehindertenstatus und das Verbot, eine Vertretung an einer Schule zu übernehmen (ich habe bis heute keinerlei Entschuldigung aus dem Ministerium bekommen). Es hat mir nämlich wieder etwas Mut gemacht zu wissen, dass ich eigentlich nichts falsch gemacht habe, sondern dass das Problem im System liegt.

Ebenso hat es sich gut angefühlt, über Themen zu sprechen, zu denen ich einen Bezug habe, und so sind wir zwischendurch auch wieder bei'm Thema Filme angekommen, genauer Filme über Autismus. Es gibt so viele Filme, die Autismus darstellen wollen - vielleicht nicht als Thema, aber in einem ihrer Charaktere - und sich dabei auf Klischees berufen, die mit der Breite des Spektrums überhaupt nichts zu tun haben, oder sie stellen Autismus als etwas Drolliges dar, über das man lachen kann. Davon gibt es eine ganze Menge. Seltener sind authentische Darstellungen von Autismus-Spektrums-Störungen. 

Eine dieser authentischen Behandlungen findet man im Film The Reason I Jump, der auf dem gleichnamigen Buch des nicht-sprechenden autistischen Jugendlichen Naoki Higashida basiert. Im Film werden die Leben verschiedener Familien rund um die Welt beleuchtet, in den USA, Afrika, Indien, Australien, um zu zeigen, dass es die mutistischen AutistInnen überall gibt, und dass sie überall dieselbe Zurückweisung von neurotypischen Menschen erfahren. Es kommen auch ihre Eltern zu Wort, die sehr eindringlich erzählen, wie sie unter den Anfeindungen ihrer Kinder zu leiden hatten und immer noch haben. Der Film bringt durch seine subjektive Kamera das Erleben eines Menschen auf dem Spektrum sehr eindrucksvoll rüber und ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Akzeptanz und Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Mein Psychiater hat sich den Titel notiert, und mir im Gegenzug ebenfalls einen Film genannt, der das Thema Autismus zwar nicht in den Mittelpunkt stellt, dessen Hauptfigur aber eindeutig als Autist codiert ist. Der norwegische Film Elling, damals oskarnominiert als bester ausländischer Film, zeigt die Situation zweier neurodiverser Freunde, die durch das norwegische Gesundheitssystem irgendwie in die Gesellschaft integriert werden (bei uns würden sie eher allein gelassen, um selbst klarzukommen), nachdem Ellings Mutter verstorben ist und er nicht mehr auf ihre Hilfe und Führung bauen kann.

Diese Situation ist leider nur allzu realistisch: Was ist, wenn Deine Eltern sich um Dich ein Leben lang gekümmert haben und Du plötzlich als autistischer Mensch auf Dich allein gestellt bist? Meine Eltern werden nicht ewig leben und ich habe einen Bruder, der noch weiter zurück liegt auf dem Weg, auf sich allein gestellt zu sein, als ich. Irgendwie müssen wir es schaffen, dass er nicht irgendwann plötzlich wie Elling vor dem Nichts steht und komplett verkümmert, wenn es keine Unterstützung mehr von Mama und Papa gibt.

So habe ich mir also Elling notiert. Wie schon oben erwähnt: Normalerweise nehme ich keine Filmtips von anderen Menschen an. Aber zum einen ist mein Psychiater auf AutistInnen spezialisiert und kennt sich wirklich gut aus, und zum anderen trifft der Film leider gerade einen Nerv. So bin ich also nach unserem Termin nach Hause gefahren und habe den Film direkt auf Netflix gefunden und angeschaut, und war ziemlich begeistert.

Da wird mir bewusst, dass ich in der Linkliste links noch keinen Reiter mit der Designation Autismus im Film habe, das sollte ich bald mal ändern, um dort die Namen von Filmen einzustellen, in denen diverse Formen der Autismus-Spektrums-Störung authentisch und nicht klischeehaft dargestellt werden. Das könnte zur Aufklärung beitragen, und vielleicht glauben es mir die Leute ja irgendwann, dass ich geistig behindert bin, ohne mich erstmal zu gaslighten.

Das war ein toller Besuch bei'm Psychiater, in jeder Hinsicht, und drei Monate ohne waren definitiv zu viel. Ich wünsche jedem Menschen auf dem Spektrum so einen Ansprechpartner. Und zum Schluss noch ein Aspekt aus schulischer Seite (betrifft aber auch die Gesellschaft allgemein):

Ich finde es sehr bedauerlich, dass die Psychiatrie bei uns so stigmatisiert ist. Viele trauen sich nicht zuzugeben, dass sie regelmäßig zum Psychiater gehen - und wenn sie es tun, dann kommt die Häme aus dem Hinterhalt. An einer Schule meinte eine Kollegin zu mir: "Und das da vorne ist Frau XY, aber mit der solltest du lieber nicht reden, die nimmt Antidepressiva, das ist eine ganz arme Person." - und ja, das war der exakte Wortlaut; auch wenn es schon über zehn Jahre her ist, habe ich das nie vergessen. Es ist beschämend, wie Lehrkräfte hinter dem Rücken ihrer KollegInnen über ihre Mitmenschen reden. Kaum eine Schule ist frei davon; ich war bisher an sieben, und nur an der Nordseeschule in St.Peter-Ording war es anders - kein Wunder, dass sie zur Perspektivschule erklärt wurde, denn da ziehen alle Lehrkräfte zusammen an einem Strang, um SchülerInnen in schwierigsten Situationen eine Lebensperspektive aufzuzeigen. Ein völlig anderer spirit als an den meisten Gymnasien. 

Und ja, die "ganz arme Person" war an einem Gymnasium - aber hier kein Schulart-Bashing, denn es geht um den Segen, den ein geistig behinderter oder psychisch kranker Mensch erfahren kann, wenn er von der Psychiatrie betreut wird. In den Köpfen so vieler Menschen herrscht der Gedanke, dass es etwas Negatives ist, bzw. dass ein Mensch etwas Schlechtes getan haben muss, um eines Psychiaters zu bedürfen. Dass er ein schlechter Mensch sei. Es wird von oben herab über Menschen in psychiatrischer Betreuung gesprochen, auf eine Weise, die für Betroffene extrem schmerzlich sein kann. Ich weiß, wovon ich rede, denn es gibt garantiert einige ehemalige KollegInnen an verschiedenen Schulen, die das hier zu Gesicht bekommen und sich darüber aufregen, dass ich hier oversharing betreibe. Face facts: Es ist so, und es ist an fast jeder Schule so. Ich hoffe, niemand von Euch glaubt, in einem harmonischen Kollegium zu arbeiten - es sei denn, es ist tatsächlich harmonisch - zum Beispiel an kleineren Schulen, Grundschulen, Förderzentren oder Perspektivschulen.

Menschen können es einfach nicht lassen, schlecht über andere Menschen zu reden.

Elling ist auf Netflix verfügbar.

Weitere authentische Filme auf dem Spektrum: The Reason I Jump, The Imitation Game, The Speed Cubers, BenX, The Queen's Gambit - die Liste wird bald links auftauchen und noch mehr Titel beinhalten ;-)