Mittwoch, 31. Juli 2019

Spaziergang im Regen

Geht scheinbar nicht ohne...

Da gibt es Tage, an denen ich meine Wohnung betrete, glücklich, den Einkauf erledigt zu haben, und Momente, in denen ich realisiere - scheiße, ich hab' die Nudeln vergessen! Ich muss nochmal los, das kann so nicht bleiben. Ich hätte auch tausend andere Sachen da, die ich essen könnte, aber nein. Nudeln waren mein Plan, und der wird durchgezogen. Und natürlich könnte ich einfach zum Supermarkt direkt vor meiner Haustür gehen, aber nein. Ich habe dort eben alles Andere eingekauft. Ich gehe da jetzt nicht schon wieder hinein, womöglich bei der gleichen Kassiererin, und die sagt dann einen witzigen Spruch, den ich wörtlich nehme und natürlich auch sehr persönlich, und dann bin ich beledigt und fühle mich inkompetent, unfähig, einen kleinen Einkauf zu schaffen.

Nix da. (Kennst Du das, die große Buba?)

Also gehe ich zum nächsten Supermarkt, etwa eine Viertelstunde zu Fuß. Der Himmel ist grau, und ab der Hälfte des Hinwegs grummelt es hier und da ein bisschen. Für einen Moment überlege ich, umzukehren, denn ich habe keinen Schirm da, trage nur Flip-Flops und ein sehr dünnes Shirt und Surfshorts. Aber dann hätte ich ja immer noch keine Nudeln, und ich kann mich ja auch im Laden eine Weile unterstellen, bis der Regen vorüber ist.

Gesagt, getan, im Geschäft höre ich, wie ein Platzregen auf die Deckenfenster niedergeht und bin ganz froh, dann ich stecke eh' noch in den Wochenangeboten fest (ja ja, wenn man keine Einkaufsliste mitnimmt...) und brauche noch eine Weile, um die Nudeln zu kaufen (und Pesto, und Handcreme, und Canneloni, und Milch, und Eier, und Zwiebelmett, und eine Backmischung, und noch zwei weitere Sorten Nudeln, und und und...) - ich bezahle an der Kasse, schaue nach draußen und sehe, dass der Regen noch nicht vorbei ist. Also gehe ich nach draußen und stelle mich neben dem Eingang unter. Wird bestimmt nicht so lange dauern.

Und dann schießt mir wieder der Dalai Lama durch den Kopf - nichts ist entspannender, als das anzunehmen, was kommt - und es ist ja eh' nur Wasser, und mache mich auf den Heimweg. Und während ich so ganz gemächlich bummele (zum einen wegen der nassen Flip-Flops, und zum anderen wegen des Dalai Lama), realisiere ich, wie recht der gute Mann hat, und wie entspannend es ist, nicht in Panik durch den Regen zu laufen, damit ich möglichst schnell wieder in's Trockene komme. Ein breites Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit, und ich gehe noch etwas langsamer, und schaue mir in aller Ruhe die Umgebung an.

Das hat richtig gut getan.

post scriptum: Eine neue Kurzgeschichte ist in Arbeit, ich freue mich schon drauf, sie hier zu posten, sobald ich fertig bin. Wie üblich: Im Kopf ist das alles fertig, aber das Abtippen ist so lästig ^^

Dienstag, 30. Juli 2019

Here we switch!

Na, was geht diesmal im Treppenhaus vor sich?

Endlich Regen. Gern noch etwas mehr, gern mit einem knalligen Gewitter, alles, was die Luft etwas abkühlt. Die letzten beiden Nächte in meiner Wohnung waren grauenhaft, weil im Gegensatz zur letzten Hitzewelle abends kein Luftzug aufgekommen ist, der die Wohnung durchpustet. Zwei schlaflose Nächte, nun reicht es.

Für manche Menschen kann das ein Grund sein, sich eine andere Wohnung zu suchen, und das habe ich hier im Blog auch schon mehrfach thematisiert. Irgendwie scheint unser Eckhaus nur für wenige Menschen eine ernsthafte Perspektive darzustellen, die meisten, die hier einziehen, machen das übergangsweise, als Studien-WG oder etwas in der Art, weil die Wohnungen nicht allzu teuer sind.

Und Gründe zum Auszug gibt es wirklich mehr als nur die Hitze im Sommer. Da wäre der Straßenlärm, der nur bei geschlossenem Fenster einigermaßen unterdrückt werden kann, und geschlossenes Fenster + Sommer = Backofen. Ich komme mit dem Hintergrundlärm aber sehr gut klar; nur bei Filmen oder Meditationen brauche ich Ruhe, genauer gesagt, keine Nebengeräusche, die mich ablenken. Und dann wäre da noch Vonovia, die immer ein Grund zum Auszug ist.

Und so heißt es auch heute wieder Here we switch!, denn ein Nachbar zieht aus, und ein neuer wird - vermutlich - einziehen. Eigentlich sollte ich so etwas sagen wie Here we go!, oder im richtigen Tonfall mit der großen Buba Here we gay! in Anspielung auf das überbritisierte Here we göi! in Ni No Kuni. Aber ich gehe ja nicht, sondern beobachte nur den nächsten Mieterwechsel. Lang' lebe der Bewusstseinsstrom!

Um so mehr wachsen einem die Menschen an's Herz, die bleiben, quasi als Fels in der Brandung für einen Menschen, der mit Veränderungen vermutlich weniger klarkommt, als er bisher dachte. So ist im Erdgeschoss immer noch das Beratungsbüro Görgner, Sozialberatung, in einem nicht gerade überdurchschnittlich starken Viertel wie Hassee eine echte Bereicherung. Und ebenfalls ebenerdig sind da Tina, Petra und Bine, die Friseurmädels von Hair & Body, die jetzt seit bald zwanzig Jahren hier im Kopf-Ab-Business arbeiten. Dann wären da noch zwei Nachbarn im zweiten Stock, die sich für den Ruhestand hier niedergelassen haben.

Solche Nachbarn ziehen in der Regel nicht aus, und wenn, dann ist das definitiv ein paar Gedanken wert, wie zum Beispiel damals bei Frau Kuntzmann, oder aber der Nachbar fand seine Wohnung einfach nur noch todlangweilig - wörtlich. Ich glaube, ich gehöre zu letzterer Gruppe. Also, nicht zu denen, die in der Wohnung mal eben sterben, sondern die, die hier bleiben. Und ich bin gespannt auf das nächste neue Gesicht.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich irgendwann einmal froh wäre, den einen oder anderen meiner Nachbarn persönlich zu kennen - ich dachte immer, ich wünschte mir vollkommene Anonymität - aber so ist das eben mit den Linneas und Tures und Kellers und Tinas und Lukassen: Irgendwie tun nette Nachbarn gut.

post scriptum: Ich habe mir gestern den Netflix-Film "Bird Box" (2018) angesehen. Scheiße. Eine tolle Prämisse, und mit Sandra Bullock, John Malkovich und Trevante Rhodes gar nicht schlecht besetzt; Bullock spielt mal wieder eine spröde, emotional schwer zugängliche Frau, die man nicht sofort liebgewinnt - so wie damals bei "Murder by Numbers" (2002) - und das ist eine nette Abwechslung. Dazu eine schöne Science Fiction-Geschichte, mit ein wenig Horror dazu, Anleihen von Stephen Kings "The Mist" (2008) und von vielen faulen Kritikern als Abklatsch von "A Quiet Place" (2018) verschrien. Abklatsch, weil es diesmal um eine Welt geht, in der man seine Augen nicht öffnen darf (während man in letzterem Film keinen Laut von sich geben durfte); faule Kritiker, weil es kein Abklatsch von AQP sein kann, wenn "Bird Box" auf dem gleichnamigen Roman von 2014 basiert. Und scheiße, weil aus einer fantastischen, unheimlichen Prämisse letztlich ein Film gestrickt wurde, der nach der SciFi-Horror-Formelsammlung arbeitet und kaum Neues bietet. Ändert aber nichts daran, dass mich die erste Hälfte begeistert hat. Der Film ist bei Netflix verfügbar.

paulo post scriptum: Heute gab es "Unsane" (2018) - der Film hat mich gereizt, weil er von Steven Soderbergh gedreht wurde und ich muss zugeben, in finde seinen Stil faszinierend. Visuell reduziert, intelligent geschnitten, keine einzige unnötige Szene, das hat mir auch damals in seinem Remake von Tarkovskys "Solaris" (2002; das Original ist von 1972) gefallen. Auch interessant: Der Film wurde komplett auf dem iPhone 7 plus aufgenommen - das erzeugt einen klaustrophobischen Effekt, der zu dem Szenario in einer geschlossenen Psychiatrie gut passt.

Donnerstag, 25. Juli 2019

Sommer

Ich bin bei diesem Wetter lieber kopfüber als am Strand

Heiß. Es ist richtig heiß, und das nicht zum ersten Mal in diesem Jahr. Zwar nicht so ununterbrochen wie im letzten Jahr, aber trotzdem klagen viele Landwirte über die Trockenheit, und hier und da wird der Asphalt der Straßen mit Salzwasser eingesprüht, um abzukühlen. Ich kann auf meinem Vordach eine TK-Pizza innerhalb kürzester Zeit durchbraten, und es ist immer wieder drollig, wenn der "Erst mal 'n Hähnchen"-Imbisswagen Mittwochs draußen vor dem Supermarkt steht, denn für mich reicht es hier oben schon, wenn eine Taube auf dem Dach landet und direkt zu einem Brathuhn wird.

Wie seht Ihr das? Seit Ihr Sommerfans, Sonnenanbeter, die gar nicht genug von der Hitze bekommen können? Ich flüchte zwar immer vor der Sonne, und meine Fenster werden erst am Abend geöffnet, wenn es endlich etwas frischer über's Eck durch die Wohnung zieht. Aber, wenn es erstmal ein paar Tage heiß gewesen ist, dann geht es einigermaßen, alles Gewöhnungssache. Aber ich fühle mich unglaublich träge, selbst so ein Blogeintrag ist mir zu anstrengend.

Was ich aber bis heute nicht verstehen kann, ist, warum manche Menschen einfach nur stundenlang am Strand liegen können. Ich bin dabei in kurzer Zeit unterfordert, langweilig, ich habe das bei der Exkursion nach Griechenland vor einigen Jahren gemerkt - während andere am Abend noch die Strände heimgesucht haben, habe ich irgendwo im Schatten Rätsel gelöst.

Erinnert mich übrigens an den Film L'inconnu du lac (Der Fremde am See, 2013) - ein französischer Thriller der etwas unerwarteten Art: Es gibt nur einen Handlungsort, einen Szenestrand am See, an dem viele Männer sich dem gay cruising hingeben. Auf der Suche nach Sex. Oder aber... der Film thematisiert auf unaufgeregte Weise den Sinn des Lebens, Beziehungen, Liebe, und ist dabei überraschend freizügig, der Sex ist nicht simuliert, und eine Szene wirkt besonders intensiv, als zwei Männer von ihrem Strandtuch aufbrechen und Richtung Mitte des Sees schwimmen, ein bisschen herumplanschen... und nur einer kommt wieder an den Strand zurück. Führt zu einem unerwarteten Ende - war wirklich interessant, und erfrischend bei diesem Wetter.

Trotz allen Unwillens bei der Hitze genieße ich die Jahreszeit wie immer etwas mehr als den grauen Herbst und den dunklen Winter. Seid Ihr auch der Meinung, dass man bei diesem Wetter unbedingt raus in die Sonne soll?

Montag, 22. Juli 2019

Der Schwur des Kärnan: Eine Analyse

Damals noch recht kahl, aber bereits voller Action

"Sie strahlen mich so fröhlich an, und jetzt funktioniert die blöde Kamera nicht."

Teil A: Zur Geschichte

Vor zehn Jahren hat Christoph Leicht auf den Tisch gehauen. Also, nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinne - Zweitausendneun eröffnete die Achterbahn Der Fluch von Novgorod im Hansa-Park. Das war aus mehreren Gründen ein Schlag auf den Tisch; FvN wurde damit zur ersten Katapultachterbahn Deutschlands. Sowas hatten wir vorher nicht wirklich, wobei es die LSM/LIM-Launches schon seit Neunzehnsechsundneunzig gibt. Damals haben zwei amerikanische Freizeitparks mit der Achterbahn Flight of Fear neue Maßstäbe gesetzt, und ich bin sehr glücklich, dass ich damit bereits fahren durfte.

Also hingen wir in Deutschland ein bisschen hinterher - und dann gab es nicht nur eine, sondern gleich drei Achterbahnen mit Abschuss; Desert Race im Heide-Park und, ein klein wenig familienfreundlicher, Blue Fire im Europa-Park. Drei Katapultstarts von drei unterschiedlichen Achterbahnherstellern, Mack, das Schweizer Unternehmen Intamin und bei uns im Norden der Hersteller aus dem Süden Gerstlauer. Und das kam gut an; so hat sich der HaPa ein bisschen zu einem Gerstlauer-Showcase entwickelt. Drei Achterbahnen, dazu flat rides, ich denke, die Romanze zwischen diesen beiden Parteien könnte noch weitere Früchte tragen.

Der erste Schlag auf den Tisch war also einer der ersten launch coasters in Deutschland, und der zweite Schlag, der noch viel wichtiger war - und immer noch ist - ist die thematische Neuorientierung des HaPa. Bis dahin war es ein recht normaler Park, in viele kleine Themenbereiche unterteilt, die nicht unbedingt in direkter Beziehung zueinander standen. Christoph Leicht hat sich angeschaut, wie die "Großen" das machen, und so wurde beschlossen, den HaPa endlich zu einem richtigen Themenpark zur Hanse in Europa zu machen. Einige Attraktionen sind seitdem verschwunden, wie zum Beispiel der Sturmvogel oder der Hai, dafür sind andere hinzugekommen.

Eigentlich gab es damals auch noch einen dritten Schlag auf den Tisch, aber der wurde als Geheimnis gut gehütet; von dem Plan, einen Hypercoaster zu bauen (Achterbahnen mit einer Höhe zwischen zweihundert und dreihundert Fuß, also in etwa sechsundsechzig Meter Mindesthöhe - Silver Star im EP ist so ein Hypercoaster), bekam die Öffentlichkeit erst fünf Jahre später etwas mit. In dieser Zeit wurde fleißig gerechnet, und zwar von Profis; das Ingenieurbüro Stengel führt die Arbeit des mittlerweile seinen Ruhestand genießenden Achterbahn-Gurus Werner Stengel weiter. Viele der besten Achterbahnen auf der ganzen Welt sind von Stengel gerechnet worden. Es musste immer etwas Besonderes sein, Achterbahnen von der Stange holte man sich lieber woanders, zum Beispiel bei den Holländern von Vekoma (mittlerweile aber auch kreativer geworden). Fünf Jahre lang wurde gerechnet, um eine Achterbahn zu kreieren, die in ihrer Art bisher weltweit einmalig ist.

Dieses Layout ist, gelinde gesagt, polarisierend

Der Schwur des Kärnan ist Gerstlauers erster Hypercoaster, außerdem der bisher einzige Hypercoater weltweit mit einer Inversion (a.k.a. kopfüber) und Rückwärts-Freifall. Jetzt darf ich das schreiben, jetzt ist das kein Spoiler mehr. Jetzt dürfen wir einen Hypercoaster mit terrain layout genießen, der also abgesehen vom first drop und der ersten Hochfahrfigur nah am Erdboden entlang fährt - auf diese Weise wird das Gefühl von Geschwindigkeit noch verstärkt, und terrain coaster gehören zu meinen absoluten Favoriten, weil man vor der ersten Fahrt nie genau weiß, wie sich die Geschwindigkeit über die Strecke verteilt und wo man mit airtime rechnen darf - dem Gefühl, aus dem Sitz gehoben zu werden.

Okay, man merkt, hier schreibt ein Nerd. Aber das gönne ich mir jetzt einfach, denn ich wollte diesen Beitrag schon seit Jahren verfassen, aber erst jetzt habe ich das vollständige Kärnan-Erlebnis gehabt. Das hat einen guten Grund: Wie auch schon bei FvN wurde eine immersive Thematisierung für die Achterbahn erstellt, eine Geschichte, die in Helsingborg gespielt hat und auch heute noch spielt. Für diese Bahn wurde eine komplette Reportage gedreht, vor Ort in Dänemark, die spielerisch zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselt. Ich liebe so etwas ja, das hatten sie damals in den USA auch für Flight of Fear gemacht, sowas zieht mich noch stärker in die Welt der Achterbahn hinein. Einfach mal die Realität loslassen, einfach eintauchen in's Mittelalter. Dank der Neuorientierung des HaPa vor zehn Jahren gelingt das immer besser; Barcelona und Lissabon sollen in naher Zukunft erschaffen werden.

Und so steht seit ein paar Jahren ein achtzig Meter hoher Burgturm mitsamt Festung im Hansa-Park, von der Ostsee gut sichtbar als neues Wahrzeichen des Parks. Dieser Turm macht Kärnan ebenfalls einzigartig: Weltweit gibt es bisher keine Achterbahn, die einen siebzig Meter hohen lifthill inklusive der ersten Abfahrt vollständig eingehaust hat; das ist finanzieller Selbstmord, theoretisch (man könnte hier Cannibal im amerikanischen Park Lagoon nennen, aber das ist quasi die Aldi-Variante eines eingehausten Lifthills - trotzdem eine verdammt geile Achterbahn, nach allem, was ich so sehe und lese). In diesem Fall ist es ein Erlebnis, das mit mehreren Sinnen genossen werden kann. Durch die Dunkelheit im Turm kann mittlerweile eine Videoprojektion abgespielt werden, und als sound tube verstärkt der Turm die Schreie der Fahrgäste bei der Abfahrt um ein Vielfaches. Eine geniale Idee. Und ich kann den HaPa seither nicht verlassen, ohne mindestens einmal auf dem Schwur des Kärnan gewesen zu sein. Zu ungewöhnlich, zu speziell ist das Teil, das sich eine große Freizeitparkkette niemals in den Park gestellt hätte; der Rückwärts-Freifall auf dem Lift verwandelt die Bahn in einen capacity nightmare, was aber nicht schlimm ist, denn die Besucherzahlen des Parks sind stabil auf einem niedrigen Niveau im Vergleich zu den ganz Großen, und so musste ich auch heute, an einem sehr vollen Tag im Park nur eine gute Dreiviertelstunde warten (wesentlich schneller ging es am Service-Point, wo die nette Dame mir meine neue Saisonkarte nach etwas Kameraterror ausgedruckt hat, nach vier Jahren war mal eine Aktualisierung fällig). Nur? Naja, die Thematisierung führt bei mir dazu, dass meine Gedanken schon vor dem Erlebnis Achterbahn fahren. Details gefällig?

Hinab in die Finsternis

Teil B: Das Erlebnis

Spoilerwarnung! Ab hier folgt eine (fast) lückenlose Beschreibung des gesamten Erlebnisses!

Naja, dabei beginnt das Erlebnis ja nicht erst in dem Moment, an dem man die Warteschlange betritt. Es beginnt schon bei der Anfahrt zum Park, denn bereits in etwa zwei Kilometern Entfernung ist der Turm über den Baumwipfeln zu erkennen. Und dieser Blick löst etwas im Gehirn aus. Wenn ich noch nie auf dieser Achterbahn war, dann erstmal etwas Erleichterung oder Ernüchterung, je nachdem; es sind nämlich, da man sich im Auto in dieser Entfernung auf einer Anhöhe befindet, nur etwa die obersten zehn Meter des Turmes zu sehen, und dadurch wirkt er sehr klein. Der Effekt gewinnt dann durch die Abfahrt von der Anhöhe und die Annäherung an den Park, denn der Turm scheint nach und nach größer zu werden, quasi in den Himmel zu wachsen. Wenn man schließlich an seinem Fuße steht, dann kommt ein wenig Ehrfurcht auf, vielleicht etwas angenehme Panik, möglicherweise viel Vorfreude und Spannung. Diese Ehrfurcht wird noch weiter verstärkt durch den Beginn des Wartebereichs, der etwa zwanzig Meter vor dem Turm liegt und dann direkt unter dem First Drop hindurch führt. Ich gehe durch den hölzernen Torbogen, der mir die ungefähre Wartezeit anzeigt, sowie die Mindestgröße für Fahrgäste. Familie Leicht orientiert sich in vielerlei Hinsicht an den richtig großen Freizeitparks - erkennbar zum Beispiel daran, dass ein Testsitz bereits am Eingang der Warteschlang genutzt werden kann, um zu sehen, ob man gut in der Achterbahn Platz nehmen kann. Das geschieht nicht ohne Grund - vor einigen Jahren gab es in einem amerikanischen Freizeitpark einen Zwischenfall, als eine zu dicke Frau in einer neueren Achterbahn mitgefahren ist; diese tendieren dahin, eng am Körper anzuliegen, damit man sicher und ohne blaue Flecken das Erlebnis genießen kann. Jedenfalls ist diese Frau während der Fahrt aus der Achterbahn gefallen und um's Leben gekommen. Deswegen gehören Achterbahnen mittlerweile zu den sichersten Freizeitparkattraktionen, das muss so sein. In Deutschland sorgt der TÜV dafür. In manchen Ländern niemand - so hatte China eine nicht unbedingt angenehme Bilanz von Unfällen in Freizeitparks. All' solche Bedenken wische ich zur Seite und gehe den schmalen Pfad neben dem Hüpfberg entlang, direkt auf den riesigen Turm zu.

Ich stehe also zehn bis fünfzehn Meter unterhalb der Achterbahnschienen, verfolge, wie sie nach oben im Turm verschwinden, in die Dunkelheit. Ich kann nur ahnen, was an der Spitze dieses Turms sein mag, und ich rechne mir aus, dass die Abfahrt sehr, sehr steil werden dürfte. Und da die Ausfahrt zur Richtung des Lifts um neunzig Grad gedreht liegt, muss ich annehmen, dass der Drop mit einer Drehung ausgestattet ist. Sehen kann ich davon nichts; dafür kann ich, während ich unter der Ausfahrt stehe, Geräusche hören. Im Abstand von etwa zwei bis drei Minuten höre ich ein lautes Donnern, dann leicht gedämpfte Schreie - aber nichts passiert. Stattdessen wird es wieder still, für ungefähr zwanzig Sekunden, und dann dröhnen die Schreie der Fahrgäste, durch die Turmarchitektur um ein Vielfaches verstärkt, aus der Öffnung und der Achterbahnzug rast über mich hinweg, ganz knapp über den Erdboden und dann wieder sechzig Meter hinauf in eine Figur, die ebenso ungewöhnlich ist wie die gesamte Bahn selbst.

Das Stützengewirr, das erbaut wurde, um die Schienen zu führen und zu stabilisieren - bei knapp hundertdreißig km/h braucht man da etwas mehr - sorgt seit der Eröffnung in der Regel für Verwirrung und besonders bei Coasterfans für etwas Gespött, denn die Ästhetik ist tatsächlich fragwürdig. Hinzu kommt, dass man theoretisch das klassische Element der Sea Serpent Roll (SSR) hätte bauen können: Halber Loop nach oben, kleiner Korkenzieher in die Gerade und wieder kopfüber, zweiter Halblooping zurück auf den Erdboden. Das Element kann man zum Beispiel bei Gerstlauers The Smiler finden, im englischen Alton Towers. Leicht, Stengel und Gerstlauer haben sich aber entschieden, die beiden Inversionen zu streichen und mittels einiger scharfer Windungen ein nicht-invertierendes Element zu erstellen, das aus der Ferne im richtigen Winkel an eine Herzfigur erinnert. Keine Ahnung, wie sich das anfühlen muss, vermutlich deutlich intensiver als eine ziemlich angenehme SSR.

Okay, die Aufregung steigt also bereits, während ich noch an der Burgmauer stehe und ein Fußweg mit drei Spuren langsam nach oben führt. Zwei sind eindeutig - links die Warteschlange, rechts daneben der Notausweg - die dritte Spur ganz rechts war ursprünglich für die single rider line gedacht. Da aber viele deutsche Parkbesucher keine Ahnung haben, dass man sich dort in der Regel allein hinstellt, um bei einem nicht voll ausgelasteten Zug auf leere Plätze verteilt zu werden, haben sich viele bei der offensichtlich kürzeren Schlange angestellt und dann lauthals beschwert, wenn ihre Gruppen geteilt wurden. Diese Form des Wartebereichs muss sich in Deutschland erst noch etablieren, so langsam nach und nach. Auch das haben die Leichts aus Amerika importiert, dem Geburtsland der damals ursprünglich als trolley parks bekannten Erholungsgebiete an den Endstationen der Straßenbahnlinien.

Okay, das hat nicht funktioniert, also stellen wir uns alle an der linken Schlange an und treten unter einem Burgtor mit Fallgitter hindurch auf den Weg, der innerhalb der Außenwand der Festung langsam zwei Etagen nach oben führt. Von hier aus kann ich noch immer die aus dem Turm jagenden Züge beobachten, oder aber die umliegenden Fahrgeschäfte, besonders Die Glocke oder das Kärnapulten und die Familienachterbahn Die Schlange von Midgard (ebenfalls aus dem Hause Gerstlauer).

Kärnan Museum TV: Der junge Erik wird zum König Dänemarks gekrönt

Schließlich oben angekommen wandern wir um ein kleines Gebäude herum, über einen Weg, der von Flachbildschirmen gesäumt ist, die alle Episoden des Kärnan Museum TV in Schleife abspielen. Wenn ich die Geschichte um einen mittelalterlichen König noch nicht kenne, der eine uneinnehmbare Festung mit einem mächtigen Bannzauber angeblich mit seinem Leben bezahlt haben soll, dann werden die nächsten Minuten Wartezeit sehr kurzweilig, die mich in das Gebäude hinein und eine breite Treppe hinunter in's Dunkel führen, in das Museum des Kärnan. Spätestens hier verliere ich jeglichen Bezug zur Realität, höre immer weiter die Dokumentation mit den Figuren Christian Schröder und Jenny Fridh und lese, dass das Pergament mit dem Bannzauber gefunden worden sein soll. Ich biege um eine scharfe Kurve nach rechts in einen neuen Raum ab und verabschiede mich von dem letzten bisschen Tageslicht.

Der nächste Saal, nur mit wenigen wohl platzierten Spots beleuchtet und im Hintergrund von der extra für die Attraktion komponierten und mit einem Sinfonieorchester eingespielten Musik begleitet, ist eine Exponatausstellung des Museums im Thronsaal der Festung. Wir sehen die Reichsinsignien, den Thron und das Pergament, als plötzlich die Lichter nach und nach ausgehen. Die Schrift des Pergaments fängt langsam an, zu wabern, eine unheimliche Musik setzt ein - und langsam realisieren wir, dass Videoprojektionen in Freizeitparks Tolles bewirken können: Die Schriftzeichen des Zaubers leuchten in grün auf und verlassen das Pergament, sie wabern über die Wände durch ein Gemälde des Königs Erik Menved hindurch zu dem Hauptsymbol der gesamten Anlage, einem Unendlichkeitszeichen auf dem Thron. Die Musik steigert sich immer weiter, ein Donnern ertönt, bis... ach schade. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was dann passiert. Nur, dass wir den Saal durch einen sehr engen Gang verlassen, durch nur schwach beleuchtete Gewölbe.

Der Thron mit dem Symbol des Kärnan

Der nächste Raum ist eine Burgküche, angemessen verstaubt, mit Knacken und Krachen, das aus den Mauern zu kommen scheint, und einen oder zwei Räume vor uns scheint eine Stimme zu ertönen - aber davon sehen wir nichts; nach der kleinen Waffenkammer kommen wir in einen Teil des Ganges, der so verschlungen ist, dass wir nicht mehr als drei oder vier Personen vor uns sehen können. Hier sind mehrere Bildschirme aufgestellt, die von den Ausgrabungen des Kärnan stammen, auf denen einer der Vorarbeiter mit jemandem zu telefonieren scheint und berichtet von ungewöhnlichen Vorkommnissen... an die ich mich auch nicht mehr erinnern kann, Mist. Das macht aber nichts, der Hauptzweck dieser Videos ist neben der Steigerung der Atmosphäre der Hinweis darauf, dass die Fahrgäste alle Gegenstände, die sie mit sich führen, in der Kammer des Architekten werden abgeben müssen. Wirklich alles, auch Tascheninhalte, und wir werden noch erfahren, wieso das so ist.

Dann geht es erstmal nicht weiter. Ein Wächter kontrolliert die kleine Treppe, die in besagte Kammer führt. Schubweise werden immer sechzehn Personen hineingelassen. Dort hören wir noch einmal von der Abgabepflicht aller irgendwie losen Gegenstände, erst aus dem Bildschirm, dann von einem weiteren Mitarbeiter, bis sich im Dunkel ein geheimes Wandregal öffnet, das viel Platz für alle Gegenstände zur Aufbewahrung bietet - großartig. Das Fach wird wieder verschlossen, Verwechslungsgefahr mit anderen Reisegruppen ausgeschlossen. Wenn alles verstaut ist, verlassen wir die Kammer, um durch noch düsterere, engere, verworrenere Gänge in eine runde Kammer mit Kuppeldach zu kommen. Es ist stockfinster, nur das Kärnansymbol leuchtet als Quasi-Bordüre unter der Kuppeldecke.

Hier befinden sich vier Warteschlangen, die offensichtlich für die vier Sitzreihen je Zug gedacht sind. Vielleicht möchte man gern in die erste Reihe, und stellt sich dort an, doch hat man die Rechnung ohne die kreativen Köpfe hinter der Bahn gemacht. Die Lichter gehen aus, ein einziges der Symbole leuchtet noch, unheimlichere Musik wird immer lauter, dann vollkommene Finsternis und... Blackout. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich in meinem Sitz Platz nehme. Ich bin nicht in der ersten Reihe, sondern in der dritten. What the...? Ein so einfaches und gleichzeitig geniales Feature, das gern jeder für sich selbst erleben darf.

Für Erstfahrer sehr verwirrend, besonders wenn man so gern hinten sitzen wollte und plötzlich in der ersten Reihe gelandet ist - der Puls schnellt in die Höhe und es wird immer aufregender. Der Bahnhof ist sehr geräumig und ebenfalls natürlich sehr duster, nur von schwachem blauen Licht erleuchtet. Die Sitze sind eine Weiterentwicklung aus Gerstlauers Eurofighter-Achterbahnen mit den Schulterbügeln: Im Stil der B&M-Hypercoaster sitzt man hier sehr bequem, einzig ein Hüftbügel hält mich im Sitz. Komplette Freiheit für den Oberkörper, seither auch neuer Gerstlauer-Standard, gerade auf ihren neuen Infinity Coasters, wie es auch Kärnan ist. Die Bügel werden kontrolliert, die Mitarbeiter wünschen uns viel Spaß und der Zug fährt ab in's Dunkel.

Eine scharfe Kurve nach links, und das einzige Licht dringt weit über unseren Köpfen in das Gemäuer - dort befindet sich die Wiedereinfahrt der Schienen in das Gebäude am Ende der Fahrt. Ich kann mich nicht gegen den Impuls wehren, nach oben zu schauen, und sehe dort die leere Schiene - kopfüber verdreht, und mir schwant, dass wir da durchfahren werden. Es wird noch aufregender, der Puls steigt weiter, doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, folgt ein kleiner bunny hill in die Finsternis. Es ist nur eine kleine Abfahrt von ein paar Metern, aber sie ist unvorhersehbar und erstaunlich erfrischend, sie zieht mich geradezu aus meinen Gedanken hinein in die Finsternis und um eine sehr scharfe Kurve auf eine Blockbremse. Es wird lauter, und einige Meter vor uns wandern die Schienen senkrecht nach oben.

Ein großartiger Moment, den wir schon im FvN genießen durften - der Zug steht still, es klappert hier und dort, es rumpelt, und wir wissen, dass es gleich in Rückenlage nach oben geht, nur diesmal sind es gut siebzig Meter, beim FvN ist es deutlich weniger. Langsam wird der Zug hinaufgezogen und die Fahrgäste in die Rückenlage gekippt, der Blick nach oben Richtung Turmspitze. Ich bin fasziniert: Dadurch, dass alles so dunkel ist und wir keine Vergleichswerte mehr in der Realität haben, wirkt es, als sei der Anstieg gar nicht so hoch. Hinzu kommt, dass der Lift uns zügig nach oben zieht, dabei aber langsamer wirkt - eigentlich vom Umfang her genau wie im Fluch. Allerdings ist der Hall sämtlicher Liftgeräusche deutlich intensiver, während wir uns der Kuppe nähern, und dann einige Mete unterhalb der Kuppe zum Stillstand kommen.

Stille. Ich habe das Gefühl, ich würde langsam nach hinten aus meinem Sitz rutschen, gehört das so? Ich bin sowieso schon tierisch aufgeregt und die Ungewissheit treibt mich noch weiter. Das muss ich dem HaPa lassen: Sie wissen, dass spannende Momente gern langsam ausgekostet werden dürfen - das ist auch ein Grund, warum die Fahrt an die Spitze des Gyro-Drop-Towers "Highlander" etwa zwei Minuten dauert. Ganz langsam, in aller Ruhe das Schauern und das Kribbeln genießen. Okay, im Falle des Kärnan hat das auch noch betriebsbedingte Gründe, aber darüber denke ich bei meiner ersten Fahrt nicht nach.

In dem Moment, als ich dann doch ernsthaft nachdenken möchte, flammt eine große Videoprojektion donnernd über der Turmkuppe auf, und ich sehe ein altbekanntes Gesicht wieder... glaube ich zumindest, denn auch hier setzt wieder der durchaus praktische Gedächtnisverlust ein. Wir werden jetzt bis ganz zur Kuppe hinauf gezogen, und während in diesem Moment bei FvN die Fahrt langsamer wird, um die Spannung zu steigern, ist Kärnan da rücksichtsloser und zieht den Zug mit seinen sechzehn Fahrgästen schwungvoll über die Turmspitze. Erst jetzt scheint uns wieder etwas Tageslicht entgegen, von unten. Weit unten.

Das ist der Moment, an dem ich beschließe, die Arme in die Luft zu strecken. Ich werde schon nicht aus der Bahn fallen, und ich liebe es, ohne Barrieren durch die Luft zu rauschen. Und trotzdem gibt es jedesmal wieder diesen Reflex, nur für ein paar Millisekunden, mich doch noch festzuhalten, als mir bewusst wird, dass es senkrecht bergab geht - neunzig Grad Gefälle, inklusive einer neunzig-Grad-Drehung nach rechts. Das ist der Moment, der von draußen her gut zu hören ist: Ich habe bisher keine Fahrt ohne mindestens eine Person erlebt, die in diesem Moment schreit, der Klang, durch das Echo von den Turmwänden um ein Vielfaches verstärkt, den die Wartenden hören können.

Der Drop ist ein Erlebnis. Drops mit einer Drehung haben wir in Deutschland noch nicht so oft - das wohl weltweit bekannteste Beispiel dafür ist die Expedition GeForce im Holiday Park in Haßloch. Nun, hier ist nun also eine Konkurrenz entstanden. Es ist schwer zu beschreiben, wie sich der Absturz anfühlt. Er ist lang, und selbst als ich glaube, bereits im Tageslicht angekommen zu sein, geht es noch weiter hinunter. Nach der langen Wartezeit im Dunklen der Festung müssen sich die Augen erstmal an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen, und bevor sie das können, befinden wir uns schon wieder auf dem Flug nach oben in die Herzfigur.

Jetzt machen sich die Folgen bemerkbar, dieser ungewöhnlichen Entscheidung der Designer, nicht in eine SSR zu gehen: An den beiden Spitzen der Herzfigur sitzen wir aufrecht, mit einem kilometerweiten Ausblick am Turm vorbei über den Strand hinweg Richtung Ostsee. Damit können nicht viele Parks mithalten (aber es gibt sie, zum Beispiel Cedar Point in den USA mit der Millennium Force), aber ich habe nicht viel Zeit, den Blick zu genießen, denn nach etwas Herumschleuderei geht es schon wieder fast kopfüber in den zweiten Absturz Richtung Erdboden. Danach geht es mit vollem Tempo in eine überneigte Kurve (die es in mein Profilbild bei Facebook geschafft hat), und was danach kommt, war lange Zeit eine Seltenheit auf dem weltweiten Achterbahn-Kompass.

Hypercoaster werden klassifiziert nach ihrer Höhe, und in den meisten Fällen haben sie zumindest in der ersten Hälfte der Fahrt das immer gleiche Layout: Von ganz oben der main drop bis auf den Erdboden, dann wieder fast ganz nach oben auf den ersten Hügel, auf dem man je nach Sitzplatz ejector oder floater airtime genießen kann (ich bevorzuge Letzteres, gibt aber auch Ausnahmen). Das wiederholt sich noch mehrfach: runter, rauf, runter, rauf, Kurve und dann das Gleiche wieder zurück Richtung Station. Gibt unzähle Bahnen mit diesem Layout (Colossos, Silver Star, Diamondback, Apollo's Chariot, Magnum XL-200, Steel Eel, um nur ein paar zu nennen), und sie sind ja auch nicht schlecht, im Gegenteil. Allerdings findet gegenwärtig eine Neuorientierung statt in Richtung der bereits erwähnten terrain coasters, die über einen Großteil ihrer Strecke nahe am Erdboden bleiben (zum Beispiel Fury 325 in Carowinds, die mittlerweile zu den besten Stahlachterbahnen der Welt gezählt wird; kein Hyper, sondern ein Gigacoaster, aber lassen wir die Haarspaltereien). Der Effekt ist sagenhaft - ein Geschwindigkeitsrausch, wie im Porsche über die Autobahn zu fahren, nur mit mehr Action. Es fühlt sich an wie eine Jagd, wobei nicht klar wird, ob wir die Jäger sind oder die Gejagten. So hat Kärnan kleinere Hügel, schnelle Umschwünge, viele Kurven, alles, um ein Maximum aus der Maximalgeschwindigkeit von hundertdreißig km/h herauszuholen. Keine Zeit zum Durchatmen - bis zum final brake run, der Passage kurz vor Wiedereintritt in die Burg, in der der Zug bis fast zum Stillstand heruntergebremst wird.

Viele Fahrgäste nutzen diesen Moment, um einmal durchzuatmen. Einmal durch die Haare fahren. Einmal gröhlen, einmal klatschen, endlich die Anspannung aus dem Körper zu entlassen (die bei'm Herumschleudern während der Fahrt nötig ist). Vor uns das Holztor, das zurück in die Dunkelheit führt. Es öffnet sich und die Bremsen entlassen uns in die letzten Meter der Bahn, direkt hinein in die zero g roll, die wir ganz zu Beginn der Fahrt aus der unteren Etage beobachten konnten. Ganz langsam werden wir kopfüber gedreht, einige Sekunden totale hangtime, ein irres Gefühl, wesentlich intensiver als im Fluch von Novgorod. Während wir einmal um die eigene Achse gedreht werden, schließt sich das Tor hinter uns, und noch bevor wieder aufrecht sitzen, ist es stockfinster. Wir gleiten durch eine scharfe Rechtskurve und das Schlussthema des Kärnan-Soundtracks dröhnt durch die Finsternis. Eine weitere Rechtskurve und wir fahren wieder in den Bahnhof ein. Durchgeschüttelt, herumgeschleudert, außer Atem, aufgeregt, geschafft - aber glücklich. Ich steige aus dem Zug und vor uns öffnet sich unser Gepäckfach. Schließlich geht es noch durch einen dunklen Gang, diesmal nicht als Labyrinth gestaltet, ein paar Meter in die Realität zurück.

Wir gelangen in die Kärnan Butiken, wo es Fotos und diverses Merchandise zu erwerben gibt. Ja richtig, auch während dieser Fahrt werden Fotos geschossen, aber ich kann mich um nichts in der Welt erinnern, wo das war... ich weiß noch, dass es eine unerwartete Stelle war, die für weitere Polarisierungen in der Coaster-Gemeinde sorgt. Und dann trete ich hinaus in die strahlende Sonne auf dem Kungstorget, und mein Erlebnis mit dem Schwur des Kärnan ist vorbei.

Nein, ist es natürlich nicht, das ist ein Erlebnis, was man einige Zeit mit sich im Kopf herumträgt, aber für den Moment war es das erstmal, und ich fühle mich mutig und stolz, diese Reise angetreten zu sein. Und nun wird es Zeit für ein wenig Objektivität nach dieser sehr subjektiven Beschreibung. Das hier soll schließlich eine Analyse sein, und es gibt tatsächlich eine ganze Menge Stimmen gegen diese Achterbahn.

Teil C: Ein Urteil?

Der Schwur des Kärnan polarisiert, und seine Einzigartigkeit findet große Fans und überzeugte Hasser. Es wäre ziemlich unsinnig, wenn ich hier eine Wertung abgeben würde, denn dazu fehlt mir die Expertise, ganz klar. Dafür möchte ich im Folgenden die Argumente gegen und für die Bahn nennen und kurz kommentieren, denn überall ist ein Fünkchen Wahrheit enthalten.

Weiter oben hatte ich bereits erwähnt, dass Kärnan ein capacity nightmare ist. Große Achterbahnen dieses Formats haben normalerweise den Anspruch, möglichst viele Fahrgäste in möglichst kurzer Zeit durchzuschleusen. Der Durchschnitt liegt, um endlich ein paar Zahlen zu nennen, bei 1600 bis 1800 Fahrgästen pro Stunde. Kärnan ist davon meilenweit entfernt, und das ist vollkommen verständlich, weil ein Rückwärtsfreifall auf einem full circuit coaster zur Konsequenz hat, dass ein folgender Achterbahnzug den Lifthill erst erklimmen kann, wenn der vorherige einmal hochgefahren ist und dann, yeah, was auch immer da genau passiert, und dann den Turm verlässt. Das passiert in etwa alle zwei Minuten. Das führt zu einer ungefähren Fahrgastkapazität von 480 pro Stunde; dazu sollte man erwähnen, dass das in dieser Saison der Fall ist - jetzt funktionieren alle Abläufe der Bahn reibungslos, aber am Anfang war das alles neu und musste erstmal eingeübt werden. So musste man in der ersten Saison noch viel länger warten, bis man endlich im Zug sitzen durfte. Die Kritik ist also vollkommen berechtigt, die Frage ist nur, ob das in's Gewicht fallen dürfte - ich habe an einem vollen Tag in dieser Saison knapp eine Stunde gewartet, und das ist vollkommen in Ordnung - erst recht, wenn man bedenkt, wie immersiv der Wartebereich thematisiert wurde.

Viele Stimmen ärgern sich darüber, dass in der Herzfigur keine Inversionen verarbeitet wurden. Wie oben beschrieben, wäre das wohl der "Normalfall" gewesen. Kärnan hat ein anderes Layout, nicht nur, um einzigartig zu sein, sondern um an der Stelle eine möglichst starke ejector airtime zu erzeugen, die den Fahrgast aus dem Sitz hebt, während man gleichzeitig den flüchtigen Blick über die Ostsee genießen kann. Man weiß das wertzuschätzen - oder eben nicht.

Die Tatsache, dass man sich seine Sitzreihe nicht aussuchen kann, spaltet die Community. Ich kann die Argumente verstehen - viele Fahrer denken sich "Die letzte Reihe ist mir zu intensiv" oder "Die erste Reihe ist mir nicht intensiv genug" oder "Ich möchte den freien Blick auf die Strecke haben" - und das ist vollkommen natürlich: Bei Nessie möchte ich gern immer in der letzten Reihe sitzen, um die floater airtime zu genießen, bei der mir der Sitz nach unten weggezogen wird. Ich gehöre zu den Fans dieser Zufallsverteilung, weil ich den Mechanismus toll finde, nach dem das läuft, völlig ohne Worte oder Erklärungen, dazu spannend mit Musik und Licht unterlegt. Muss jeder für sich entscheiden.

Der Rückwärtsfreifall hat besonders in der ersten Saison viel Kritik geerntet: Nicht intensiv genug, zu langsam, nicht lang genug, dauert viel zu lange, bis er ausgelöst wird, dauert viel zu lange, danach wieder auf die Spitze zu kommen. Damals wussten die meisten Besucher noch nicht, dass das Turmelement erst zwei Jahre später würde komplettiert werden. Jetzt ist dieser Teil der Bahn komplett mit Soundtrack und... naja, halt irgendwas, auf jeden Fall geht es jetzt schneller, tiefer hinab und flüssiger. Ich finde es toll, dass dieses Element immerhin weltweit in die Diskussion gekommen ist.

"Das ist keine Bahn für die ganze Familie!" - so kamen einige erschrockene Stimmen im Lauf der ersten Saison, weil Familie Leicht auch diesmal Wert darauf gelegt hat, die Familientauglichkeit herauszustreichen, für die der HaPa schon mehrfach ausgezeichnet worden ist; "familientauglich" heißt hier wohl, dass jeder ab 1,40m Körpergröße mitfahren kann - denn die Intensität der Bahn ist Geschmackssache. Ich persönlich finde es toll, dass man endlich mal den Mut zeigt, es mit amerikanischen Verhältnissen aufzunehmen (es heißt nicht ohne Grund höher, schneller, weiter). Bei Eröffnung konnte Kärnan mit gutem Gewissen als eine der intensivsten Achterbahnen Deutschlands bezeichnet werden, und das ist sie auch heute noch. Ich persönlich mag das, ich finde es etwas schade, wenn Coaster wie zum Beispiel im Europa-Park künstlich "abgemildert" werden. Das macht sie nicht schlecht, aber eine der Faszinationen von Achterbahnen liegt für mich in dem Gefühl von "Entfesselung" der potentiellen Energie, die durch einen Lifthill aufgeladen wird. Geschmackssache.

Auch auf dieser Achterbahn gibt es einen Bereich für ein onride photo; die wenigsten Fahrgäste kaufen sich das Bild zur Erinnerung, aber es ist immer wieder ein Spaß zu sehen, wie man in dem Moment wohl geschaut hat. Die Positionierung des Elements ist bei Kärnan... ungewöhnlich. Ich kann verstehen, warum man sich dafür entschieden hat (Überraschungseffekt), aber ich weiß nicht, ob das die beste Option war.

Das müssten, wenn ich meinem Kopf vertrauen darf, die gängigsten Kritiken gewesen sein. Über viele der positiven Punkte habe ich oben schon geschrieben - Einzigartigkeit des Layouts, Rückwärtsfreifall, immersive Thematisierung, terrain coaster, Intensität, Soundtrack, first drop. Ich glaube, um ein Bild davon zu bekommen, ob Kärnan weltweit positiv aufgenommen wurde, sollte man den Blick Richtung Amerika lenken, dem Heimatland der großen Achterbahnen. Wenn ich in Coaster-Foren nachlese, finde ich hier und dort einige der negativen Kritikpunkte aufgegriffen, wobei das spätestens mit der Saison Zweitausendachtzehn nachgelassen hat. Stattdessen findet man mittlerweile sehr oft die überraschende Intensität erwähnt und die außergewöhnliche Thematisierung, denn beide Argumente zeigen nicht nur eine Annäherung an amerikanische Verhältnisse, sondern in der Ausgestaltung des Kärnan-Mythos ein weit überdurchschnittliches Ergebnis.

Bei den Golden Ticket Awards (GTA) der amerikanischen Zeitschrift Amusement TODAY findet sich Kärnan in den Top 50 Steel Roller Coasters nicht wieder - und falls man sagen möchte "Naja, kein Wunder, das ist eine amerikanische Zeitschrift, die sich auf amerikanische Coaster konzentriert", muss ich dagegen halten, dass in den Charts einige unserer Coaster vertreten sind: Expedition GeForce (Platz 4), Taron (Platz 15), Blue Fire (Platz 19), Black Mamba (Platz 34).

Das kann sich alles noch ändern in den nächsten Jahren, zeigt aber zumindest, dass der HaPa noch keiner der global players geworden ist, wie zum Beispiel der Europa-Park (Platz 1 der besten Parks weltweit bei den GTA) oder das Phantasialand. In anderen Coaster Rankings landet Der Schwur des Kärnan deutlich weiter oben (zum Beispiel Nr.62 in dieser Umfrage, die sich an der damaligen Mitch Hawker's coaster poll orientiert); an den Kritikpunkten ist jedenfalls Einiges dran, und jeder sollte für sich selbst herausfinden, ob ihm die Bahn gefällt oder nicht.

Es gibt wesentlich angenehmere Hypercoaster, ganz klar, aber wir haben hier eben keine Bahn von der Stange. Hier wurde der Mut bewiesen, etwas Ungewöhnliches zu machen, und dafür bin ich genau der richtige Mann. Abseits vom Mainstream.

Eine grandiose Achterbahn.

post scriptum: Wer jetzt aus der Ankündigung heraus gedacht hatte, hier würde ein hochphilosophischer oder psychologischer Beitrag kommen, um den tut es mir Leid; ist halt so, dass ich, wenn mich ein Thema wirklich interessiert, alle Bremsen bei'm Schreiben lösen kann, während ich bei Themen, die eher "nebensächlich" für mich sind, in der Regel nur recht knappe Beiträge verfasse. Kennen sicherlich einige von Euch auch von sich.

Sonntag, 21. Juli 2019

"Hallo, mein Großer!"

Dein Outfit bestimmt die Kommunikationsgrundlage.

In der Tat, der andere Beitrag braucht noch länger. Ich denke und schreibe und kapsele mich von der Außenwelt ab, die nichts von mir sieht und hört und sich vielleicht Sorgen macht. Deswegen gibt es jetzt zwischendurch eine kleine witzige Ankdote, quasi als Lebenszeichen, dass es mir gut geht.

Ich gehe hin und wieder am Samstag vormittags die Hamburger Chaussee hinunter, dann über die Gablenzbrücke (die neue Busansagestimme hat eine interessante Betonung: "Gablenz? Straße.") und hinein in's Getümmel nach Gaarden; ein Stadtteil Kiels, der mit vielen Vorurteilen belegt ist, die aber nicht ganz ohne Grund entstehen. Sehr hoher Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, die kein Deutsch sprechen können oder wollen, Treffpunkt der Drogenszene, der einzige Kieler Spritzenautomat (oder gibt es inzwischen mehrere?) für Abhängige, Alkoholiker, die an der Bushaltestelle Karlstal sitzen. In Heide war das früher eine ähnliche Situation an der Bushaltestelle vor Wandmaker, falls sich irgendjemand erinnert.

Das sind keine schlechten Menschen, sie haben nur in ungünstigen Momenten falsche Entscheidungen getroffen, und die Stadt Kiel versucht, ihnen zu helfen, zum Beispiel durch besagten Automat, die Drogengruppe Odyssee e.V. und mit einer ganzen Menge method acting. Sich verstellen, bzw. sich so zu verhalten, dass man mit seinem Gegenüber eine gute Kommunikationsbasis findet. Das ist vollkommen normal und richtig, war mir aber gestern in einem drolligen Moment nicht mehr bewusst.

Ich tingele also Richtung Karlstal, der Markt in der Elisabethstraße, viele Menschen sind auf der Straße, nicht so tot wie hier in Hassee, wobei Düsternbrook noch töter sein dürfte. Ich gehe in eine Apotheke, ich brauche Augentropfen (es gibt von Bepanthen Augentropfen, die wunderbar helfen, wenn die Augen trocken sind, deswegen jucken, man deswegen an ihnen herumreibt und sie deswegen gerötet sind - Panthenol und Hyaluron können da wahre Wunder bewirken, sehr angenehm, sehr sanft). Die Apotheke ist vollkommen überfüllt. Das ist kein Wunder. Hier lösen viele Abhängige, die sich in der Substi befinden, ihre Rezepte ein, um zum Beispiel an Buprenorphin zu kommen. Gute Sache, das.

Naja, und dann kommt ein etwas älterer Apotheker auf mich so, lächelt mich an, sagt mit lauter Stimme "Hallo, mein Großer!" und streckt mir seine Hand hin. Ich bin völlig überfordert. Kennt der mich? Naja, viele erkennen mich wieder wegen meines Outfits, aber müsste ich diesen Menschen kennen? What the...? Warum...? Was soll ich machen...rausgehen...Blick überallhin...Scheiß drauf. Ich gebe ihm die Hand, grüße ihn ebenfalls, und er realisiert, dass ich bereits bedient werde und geht zum nächsten Kunden.

Wow. Dieser Apotheker hat es drauf mit dem Method Acting. Er weiß, dass viele seiner Kunden einen Migrationshintergrund haben, der direkt mit "Du" arbeitet. Er weiß, dass man auf Abhängige freundlich und motivierend zugehen soll, persönlich und interessiert, um ihre Chancen einer Heilung zu erhöhen. Er sieht mich in meinem komplett schwarzen Outfit mit Totenköpfen und Metall und so, rechnet mich im Kopf sofort der Gruppe der Abhängigen hinzu und weiß, wie er mit mir umzugehen hat. Dass ich kein Bupre abholen will, weiß er nicht.

Er hat alles richtig gemacht, nur ich muss mich noch daran gewöhnen, dass das Soziale in Gaarden nach anderen Uhren tickt. (...und die große Buba spricht mit ihrer Amanda-Lear-Transenstimme: "Ich habe gute Uhren!")

War ein witziger Moment, wollte ich teilen. Geht bald weiter ;-)

Mittwoch, 17. Juli 2019

Überall Sprache

Neue Freunde

Wenn man in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebt, dann lernt man mit der Zeit, jegliche zur Verfügung stehenden Grund- und Oberflächen möglichst effizient zu nutzen. Aus diesem Grund habe ich meine Gedanken-Pinnwand direkt über meinem Arbeitsplatz an die Wand geklebt; das ist total klasse, wichtige Gedanken direkt auf einen Notizzettel und vor mir im Blickfeld anzupinnen.

Allerdings ist die Gedanken-Pinnwand immer recht voll - da hängt der nächste Zahnarzttermin, der nächste Einkauf in der Drogerie, Filme, die ich noch sehen möchte, der nächste wichtige Fridays for Future-Termin, die Adresse der großen Buba, und wie viel Uhr es bei ihr zurzeit ist, und noch so viel mehr. Pinnwand reicht nicht, und ich muss da irgendeine Ordnung schaffen.

Vor etwa zwei Jahren habe ich bei Timetex (Lehrer kennen das in der Regel) Tafelfolie bestellt. Das ist eine schwarze, selbstklebende Folie, die man direkt auf einen glatten Untergrund kleben kann, um daraus eine Tafel- und damit Schreibfläche zu machen. Ich finde das unglaublich praktisch, und mein jüngster Gang zu Aldi hat mir noch weitere Ideen gebracht, denn dort gab es Tafelfolie, die zusätzlich noch magnetisch ist. Direkt auf Schranktür-Größe zugeschnitten, inklusive Kreide und einiger Magneten, so dass ich separate Zettel anpappen kann, oder so eine geniale Postarte, die ich von der großen Buba bekommen habe: Gestern abgeschickt und heute da. Ja, das geht, wenn man in Kanada ist, weil es natürlich mittlerweile Online-Services gibt, auf die man aus aller Welt zugreifen kann. Man gestaltet seine Wunschkarte, und die wird dann in Deutschland ausgedruckt und innerhalb Deutschlands versendet, auch wenn man gerade in Toronto sein sollte. Großartig!

Und dank der zusätzlichen Tafelfolien kann ich nun auch thematische Gruppen bilden, zum Beispiel für Einkäufe und für Wartungsarbeiten, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden müssen - und die ich immer vergesse. Ich liebe Home Improvement!

post scriptum: Und ich liebe das Improvisationstheater immer noch, das habe ich gemerkt, als ich mir heute das Comedy/Drama "Don't Think Twice" (2016) angeschaut habe - wir folgen einer Improv-Truppe über den Lauf eines Jahres mit allen Höhen und Tiefen, und lernen dabei nicht nur, wie Impro wirklich funktioniert, sondern auch, ob das eine Lebensperspektive sein kann - oder eben nicht. Jedem, der Theater mag, sei wärmstens empfohlen, diesen Film zu schauen.

Dienstag, 16. Juli 2019

Ein feiner Unterschied


Sechs Jahre lang habe ich es geradezu professionell geschafft, nicht zu einem Intelligenztest zu gehen. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Szene, vor sechs Jahren, als Die Tante mich zu meinem dreißigsten Geburtstag damals in Husum besucht hat, und wir vor einem Café gesessen haben. Ich war damals ganz neu auf die Idee gekommen, dass ich hochbegabt sein könnte. Ausgelöst durch ein Modul - das einzige Modul bei Herrn Biethahn, aus dem ich etwas für mich mitnehmen konnte - in Pädagogik, nämlich Besondere Lernausgangslagen.

Und so habe ich mit DT ein wenig philosophiert über das Dreißigsein und die Pläne, und zu diesen Plänen gehörte auch, endlich einen wissenschaftlichen Intelligenztest zu machen. Wie wir sehen, habe ich immer wieder erstaunliche Gründe gefunden, den Test noch zu verschieben, Lieblingsausrede: "Ich habe Angst vor einer schlechten Performance im Intelligenztest, weil meine Lebenssituation gerade so scheiße ist." Referendariat und so.

An dieser Situation hat sich, genau genommen, bis heute nicht viel geändert, und so habe ich immer wieder Kollegen davon erzählt, dass ich "bald" mal einen Test würde machen wollen. Häufigste Reaktion darauf: "Und was bringt dir das?" Und diese Frage war gar nicht so unberechtigt, was würde sich denn damit für mich ändern? Zumindest nichts an der Art, wie ich bin, aber es würde mir ganz viele "Warum verhalte ich mich so?"-Fragen beantworten.

Dieser Tage geht es mir nicht mehr um den Intelligenztest, sondern um ein psychiatrisches Gutachten. Und wenn mir das dann tatsächlich eine Form von Autismus bescheinigen sollte, was bringt mir das dann? Ein kleiner, aber feiner Unterschied zur damaligen Antwort, denn es geht nicht mehr nur darum, Antworten auf offene Fragen zu bekommen. Es geht mir darum, dass ich mir keine Vorwürfe mehr machen muss:

Irgendwie machst Du alles falsch.
Dass Du nicht normal bist, ist Deine eigene Entscheidung gewesen.
An jeder neuen Schule versaust Du es Dir mit der Schulleitung.
Du musst Dein Verhalten ändern!

Sind nur ein paar Gedanken, aber sie haben mich jetzt teilweise jahrzehntelang durch mein Leben begleitet. Ich könnte endlich die gedankliche Freiheit bekommen, zu wissen, dass ich so geboren bin - dass ich keine Schuld dafür trage.

Und das ist ein bisschen mehr als nur "Antworten bekommen".

Sonntag, 14. Juli 2019

Noch mehr Er-Klärungen


Wenn ich nun also tatsächlich ein Aspi sein sollte... dann würde es auch die Abwärtsspirale erklären, die Er und ich durchgemacht haben. Er hatte immer ein großes Harmoniebedürfnis, daran wird sich vielleicht nicht viel geändert haben. Er wollte mich auf keinen Fall enttäuschen, deswegen hat Er versucht, immer das zu sagen, was ich vielleicht habe hören wollen. Das konnten Unwahrheiten sein, oder Phrasendrescherei, aber Er hat es ja nie böse gemeint, im Gegenteil.

Da Asperger ihren Kommunikationspartner allerdings immer bei'm Wort nehmen, habe ich gedacht, Er meinte das alles wirklich so, wie Er es gesagt hatte. Ich hatte keine Idee davon, dass Er etwas, das ich ihm gezeigt habe, vielleicht nicht mochte, denn Er hat immer etwas Positives gesagt. Hauptsache, es kommt nicht zum Streit. Er meinte es gut, und ich dachte, Er meinte es wörtlich, und so kam es immer wieder zu Widersprüchen, die ich nicht nachvollziehen konnte.

Das Wörtlichnehmen kann ein echtes Problem für Asperger sein, denn Menschen neigen nun mal zu höflicher Phrasendrescherei - "Das Kleid sieht toll an dir aus!" - "Ach keine Sorge, wir sehen uns bestimmt bald wieder!" - "Alles wird gut." Ich habe mir in den I-Klassen immer wieder gesagt, dass ich deutliche und eindeutige Sprache benutzen muss, wenn ein Schüler mit dem Asperger-Syndrom in der Klasse sitzt. Wie kann man eigentlich so blind sein und dieses Verhalten bei sich selbst jehrzehntelang nicht entdecken?

Aber besser spät als nie, und das gilt auch für ihn: Sollte Er sich irgendwann durchringen können und sich wieder mit mir treffen, dann wissen wir jetzt immerhin, wie wir miteinander umgehen müssen.

Das wird schon alles wieder.

Samstag, 13. Juli 2019

Ein Spaziergang

Langsam kommt der Durchblick...

vorweg: Ich weiß, dass meine Eltern das hier lesen, und das ist auch gut so, und vielleicht kommt meine Mutter ja auf die Idee, diesen Beitrag einmal ihrer Schwester zu zeigen - denn heute sind wir alle involviert.

Ich gehe nicht gern zu Familienfesten. Das war schon immer so, aber erst seit wenigen Jahren sage ich das auch offen. Da sind zu viele Menschen, und wenn wir dann zum Essen alle an einem Tisch sitzen, und direkt links und rechts neben mir sitzt jemand und berührt mich, das mag ich nicht gern. Und alle reden durcheinander über alles Mögliche, ich habe also keinerlei Kontrolle über den Ablauf. Und eigentlich warte ich nur darauf, dass ich endlich wieder weg kann, und ich frage mich, warum ich eigentlich überhaupt gekommen bin.

Heute war das ein bisschen anders. Meine Oma ist fünfundneunzig geworden, und da ich keinen Job mehr habe, der mich kopftechnisch in Anspruch nimmt, habe ich die Gelegenheit genutzt und bin einmal Richtung Dithmarschen gefahren. Ich wollte unbedingt mit meiner Mutter über die Asperger-Thematik reden und hatte ein bisschen Angst, dass sie vielleicht nur "normale" Kinder haben wollte, und dass das ein wundes Thema sein könnte, oder dass sie enttäuscht ist - aber ich habe mich geirrt.

Unsere Familie hatte nie ein Talent für offene, aufgeschlossene Gespräche. Nie. Es musste immer alles normal sein, und über Abweichungen von der Norm sprach man nicht. Was sollen denn die Leute denken. Und nun endlich könnte ein Punkt erreicht sein, an dem wir dieses Verhalten in die Tonne treten, und deswegen bin ich heute sehr erleichtert nach Kiel zurückgefahren. Endlich kann meine Mutter problemlos erzählen, über jene lesbische entfernte Verwandte, oder über diesen latent schwulen Opa. Das sind keine Tabuthemen mehr, genausowenig wie Zigaretten, Tee und schwarze Outfits.

Ich bin gestern Abend ziemlich glücklich in's Bett gegangen, weil ich die Gewissheit hatte, dass meine Eltern immer hinter mir stehen, und wenn sie nach Kiel zu einem Elterngespräch mit dem Psychiater kommen sollen, dass sie das machen. Dieses Gefühl, dass ich nicht mehr normal sein muss. Denn unsere Familie hat einen Knall, von oben bis unten, und wenn man irgendwann erfährt, dass Dinge wie Autismus oder Hochbegabung vererbbar sind, dann fragt man sich natürlich: Woher kommt das? Ist meine Mutter auch so? War mein Opa auch so? Und auf einmal fühlt es sich etwas mehr OK an. Im Sinne der Transaktionsanalyse: Ich bin OK und du bist OK.

Das gestrige Gespräch mit meiner Mutter war also ein voller Erfolg. Und ein weiterer Grund, warum ich nun doch zu Omas Geburtstag gefahren bin, war Die Tante (DT). DT hat schon vor Jahrzehnten gemerkt, dass ich verhaltensauffällig bin. Und das wollte ich jetzt einmal mit ihr persönlich beprechen, und so meinte ich nach dem Essen zu DT "Hast du Lust, mal die Auffahrt rauf und runter zu geben?" und daraus wurde dann ein Spaziergang die Straße herunter.

Ich habe ganz direkt gefragt: "Seit wann war Dir bewusst, das ich verhaltensauffällig bin?" und dann hat sie mir meine Kindheit aufgedröselt in etwas, was wie das Asperger-Einmaleins klang. Vor der Waschmaschine sitzen, Menschen bei'm Wort nehmen, Wutausbrüche, wenn es nicht nach dem eigenen Kopf läuft und vieles mehr. Ich habe ihr dann von meinem Verdacht mit dem Asperger-Syndrom erzählt, und für sie war das völlig klar: Das würde passen. Sie hat in ihrer Zeit an der Gemeinschaftsschule viele Autisten und Aspis unterrichtet und dadurch einen Erfahrungsschatz, und so hat dieses Gespräch mir extrem gutgetan.

Das war ein wichtiger Spaziergang, denn endlich bricht langsam mal das Schweigen in der Familie auf, und am liebsten hätte ich noch angemerkt "Also, ich bin jetzt ein Fall für den Psychiater, und ich erwarte, dass ihr euren Freunden davon erzählt!" - Dinge offen auf den Tisch bringen, das ist nicht leicht, wenn man jahrzehntelang unter einem Mantel des Schweigens agiert hat. Wer den Film Hereditary (2018) gesehen hat, oder Caché (2005), der versteht das.

Wir machen kleine Schritte voran - aber wir machen sie. Ich bin ja fast froh, dass ich psychologisch etwas zu bieten habe, denn dann könnte meine Diagnostik-Zeit ein wunderbarer Stoff sein zum offenen Erzählen. Um das zu trainieren. Ich bin wirklich glücklich, dass ich das Bewusstsein habe, mich nicht mehr verstellen zu müssen, und dass ich OK bin und meine Eltern auch hinter einem autistischen Kind stehen werden.

post scriptum: Mama, ich habe die Zeit gestoppt - an diesem Beitrag habe ich exakt neunzehn Minuten und vierundzwanzig Sekunden gesessen. Das ging recht schnell, weil ich mir in der Meditation meinen Text vor dem geistigen Auge zurechtgelegt habe, Aufbau, Titel, Phrasen, die ich unterbringen wollte, und so konnte ich nach der Meditation diesen Text fix runterschreiben. So funktioniert das bei mir meistens ;-)

Donnerstag, 11. Juli 2019

Cutting Ties

Plön - für mich ab sofort wieder nur ein Durchfahrtsort

Verbindungen trennen

Langsam komme ich in eine Phase, in der Weggang von Schulen zur Routine wird. Man räumt sein Fach im Lehrerzimmer auf, man gibt seine Schlüssel ab, eventuelle Kopierkarten, Parkplatz-Chips, Schulbücher, alles, was einen mit dieser Schule verbindet. Danach fühlt sich das Leben etwas anders an, und die Schulzeit wirkt nur noch wie ein Schatten nach. Man muss nicht mehr an seine Schüler denken, nicht mehr an die Kollegen, keine Stoffverteilung mehr machen - man ist komplett ungebunden.

So dürfte es bei mir jetzt auch wieder werden, denn ich habe heute meine Sachen in der Schule abgeben. Ich wollte mein Fach noch leerräumen, aber das war gar nicht mehr möglich, denn jemand hatte das bereits übernommen und meine eigenen Unterrichtsmaterialien großzügig in andere Fächer verteilt. Ich habe mir meine Sachen dann einfach zurückgeklaut.

Manchmal fühlt es sich so an, als wollte man mit seinen Schlüsseln auch noch ein paar Gedanken loswerden. Sechsmal bin ich jetzt von Schulen gegangen, und sechsmal sind Gedanken ungeäußert geblieben. Die Schlüsselabgabe geschieht meistens im Sekretariat, aber die Gedanken hätte ich gern der Schulleitung gegeben. Sie lassen sich in der Regel in eine von zwei Gruppen einsortieren, und irgendwie tauchen da auch immer wieder ähnliche Gedanken auf, wie zum Beispiel (gesammelt in den sechs vergangenen Schulen):

die positiven Gedanken

- ich werde euch vermissen
- ich bin ihnen so dankbar für die Möglichkeit, dass ich hier unterrichten durfte
- bleiben sie so, wie sie sind
- ich wünschte, mehr Schulen wären wie ihr
- alles Gute für das nächste Schuljahr
- vielleicht kann ich euch ja nochmal besuchen
- ihr wart ein tolles Kollegium und habt mich genommen, wie ich bin
- bei euch bekommt wirklich jeder Schüler eine echte Chance 

die negativen Gedanken 

- zum Glück bin ich hier endlich weg
- werden sie glücklich mit ihrer rücksichtslosen, unmenschlichen Art
- hoffentlich erhalten sie bald ihren dritten roten Akteneintrag im Ministerium
- ihr habt ein echtes Kommunikationsproblem
- mir tun nur eure Schüler leid
- kein Wunder, dass niemand bei euch den Personalrat stellen will
- wie könnt ihr es zulassen, dass eure Schüler vor versammelter Klasse gedemütigt werden
- vielleicht solltet ihr nicht ganz so offensichtlich zeigen, dass euch eure Schüler scheißegal sind

In ihrer Gesamtheit machen mich diese Gedanken immer wieder wütend, zumindest an vier von sechs Schulen, und das ist absolut nicht gut. Deswegen versuche ich immer, die negativen Gedanken nicht zu äußern, weder schriftlich noch im Gespräch. Der Buddhismus erwartet, dass man sich nicht der eigenen Wut hingibt, sondern innerlich runterkocht und einen Zustand des Gleichmutes erreicht. Das kann verdammt schwer sein, ich trainiere es immer wieder, und so habe ich auch diesmal versucht, die negativen Gedanken für mich zu behalten (naja, wenn man den Blog betrachtet, dann war ich damit nur mäßig erfolgreich).

Mittwoch, 10. Juli 2019

DrH im Gespräch

Manchmal einfach den Mund halten - gar nicht so einfach.

Auch wenn es lange gedauert hat - ich habe zumindest im Ansatz gelernt, im Gespräch mit Menschen den Mund zu halten. Ich höre sehr gut zu und mache mir dabei meine Gedanken, und das führt nur allzu oft dazu, dass ich meinen Senf dazugebe. Und das Problem ist noch nichtmal, dass ich mein Gegenüber unterbrechen würde, das versuche ich zu vermeiden. Kritischer ist, was ich sage. Ich habe vor ein paar Jahren diesen Spruch gelernt:

Wenn du nichts Gutes zu sagen hast, dann sag am besten gar nichts.

Und von Jahr zu Jahr merke ich immer mehr, wie sinnvoll das ist. Im Film Interstellar (2014) gibt es eine Szene, in der TARS, der mitreisende Roboter feststellt, dass hundertprozentige Ehrlichkeit der Kommunikation hinderlich ist. Und er hat Recht; ich dachte, ich mache mir das Leben einfacher, wenn ich keine Phrasendrescherei anbringe, keine Lügen aus Höflichkeit - nun ist es zwar für mich einfacher, Gespräche zu führen, aber ich stoße Menschen mit dieser Offenheit manchmal extrem vor den Kopf. Ohne, dass ich das merke, und ohne, dass ich das kontrollieren könnte.

Viele Menschen haben mir den Rat gegeben, mein Herz nicht auf der Zunge zu tragen - aber das ist keine Entscheidung, die ich treffe, da ist das Gehirn schneller. Damit verletze ich meinen Gesprächspartner immer wieder, und das tut mir unglaublich Leid, umso mehr, als dass viele getroffene Menschen mich nicht darauf hinweisen.

Ich dachte immer, liebe Leute, sagt mir das doch, wenn ich schon wieder Mist gebaut habe im Gespräch, damit ich daraus lernen kann - aber im Zuge der gegenwärtigen Überlegungen kommt mir der Verdacht, dass ich das nicht werde lernen können. Ist leider ein Symptom des Asperger-Syndroms, dass man diese Hemmschwelle im Gespräch nicht hat.

Deswegen versuche ich oft, Gespräche komplett zu vermeiden, gerade wenn es um persönliche Inhalte geht. Und ich frage mich immer wieder, wie die Sannitanic und die große Buba es mit mir aushalten. Aber sie kennen mich, sie sind echte Freundinnen und ertragen mich so, wie ich bin.

Montag, 8. Juli 2019

Die Leiden des jungen Irren


vorweg: Dieser Beitrag ist nicht fiktional, daher nenne ich zur Anonymität keine Lehrernamen (nur L1, L2 usw.) und auch keine Schulen. Die folgenden Situationen haben genau so stattgefunden.

Okay, dieser Titel ist unpassend gewählt, denn das hat diesmal nichts mit Hochbegabung oder Autismus zu tun. Es geht um unser Schulsystem, von dem Karin Prien und Anja Karliczek (Landes- und Bundesbildungsministerin) sagen, dass es hochwertig und erfolgreich ist, dass nur die besten Lehrer eingestellt werden, auch Quereinsteiger - jeder, der für diesen Beruf qualifiziert und unsere Schüler möglichst gut fördern kann und will, sei hier mit offenen Armen willkommen geheißen.

Wir leben Inklusion (so heißt es). Aber die Realität sieht an manchen Stellen etwas grausamer aus.

Lehrkraft Eins

Vorfall im Unterricht
L1: "Die Kinder haben mir erzählt, dass du das und das im Unterricht gesagt hast. Ich will auch gar nicht die Gründe dafür wissen - wir alle werden irgendwann ungeduldig und lassen dann unseren Frust an den Schülern aus. Ich möchte nur mit dir klären, wie wir weiter mit dieser Situation umgehen."
DrH: "Ich bin etwas überrascht."
L1: "Wieso, dachtest du, dass das nicht herauskommt?"
DrH: "Nein, ich bin überrascht, dass du mich gar nicht nach meiner Sichtweise gefragt hast, und dass du nicht hinterfragt hast, ob das überhaupt tatsächlich passiert ist."
L1: "Naja, ich bin davon ausgegangen, dass du mich eh' anlügen wirst."

Lehrkraft Zwei

L2: "Du, ich muss mal mit dir reden, du bist zu nett mit den Schülern, das geht so nicht."
DrH: "Wieso bin ich zu nett? Bzw. wo ist denn das Problem?"
L2: "Du musst strenger mit den Schülern umgehen, auch mal laut werden. Das ist wie wenn man Hunde trainiert - wenn Du pfeifst, haben sie alle still zu sein, und wer das nicht ist, wird bestraft."
DrH: "Ich glaube nicht, dass ich das mit meiner pädagogischen Grundhaltung vereinbaren kann."
L2: "Ich will aber, dass du das machst. Sei streng, gib ihnen jeden Tag möglichst viele Hausaufgaben auf..."
DrH: "Aber ich dachte, an unserer Schule gilt die Richtlinie, dass die Schüler unter der Woche keine Hausaufgaben..."
L2: "Das ist mir egal, das sind meine Schüler und ich entscheide das. Und entweder, du richtest dich danach, oder ich werde dich bei der Schulleitung melden."

Lehrkraft Drei

L3: "Wie steht der Schüler bei dir im Unterricht?"
DrH: "Leider nicht so gut, das droht eine Fünf zu werden."
L3 lacht: "Ja, das glaube ich sofort. Ich weiß gar nicht, warum der überhaupt hier ist, der ist viel zu dumm für diese Schule. Dem müssen wir einfach noch ein paar Fünfen und Sechsen reindrücken, dann ist der schnell hier weg."

Lehrkraft Vier

DrH: "Ich hätte mich gefreut, wenn ihr mir irgendwann einmal mitgeteilt hättet, dass mein Vertrag nicht verlängert werden kann." 
L4: "Wieso, ich dachte, das sei klar gewesen?"
DrH: "Nein. XY hat mich hier vor einem Jahr eingestellt  mit den Worten Erstmal für ein Jahr, und dann haben wir die Möglichkeit zur Verlängerung. Wenn diese Möglichkeit nicht bestanden hätte, dann hätte ich gar nicht bei Euch angefangen, denn ich möchte langsam eine Perspektive haben."
L4: "XY hat das gesagt? Moment, das muss ich mal klären."
ein Telefonat und Bestätigung später
L4: "Wow, also bei dir muss man ja richtig aufpassen, was man sagt."

Lehrkraft Fünf

L5: "Naja, du hattest doch keine Probleme mit dem Referendariat, oder?
DrH: "Doch, die hatte ich, es ging mir monatelang richtig mies."
L5: "Aha? Aber das kann doch nicht sein, du bist doch immer lächelnd durch die Schule gelaufen. Ich finde deine Darstellung reichlich unglaubwürdig."





Keine Ahnung, warum ich das hier mal posten musste.

Sonntag, 7. Juli 2019

Schluss machen?

Die Zeiten bleiben hilarius, immer auf der Suche nach Durchblick.

Ich sollte diesen Blog schließen und vom Netz nehmen.

In drei von vier Schulen hat der Blog mir Stress eingebracht. Dieser Stress war zwar häufig nicht berechtigt, aber es fühlt sich immer wieder komisch an, wegen des Blogs einen Termin bei der Schulleitung zu bekommen. Daran gewöhne ich mich nicht. Und da ich nun explizit wegen des Blogs keine Vertragsverlängerung bekommen habe, sollte ich mal daran denken, die Reißleine zu ziehen, denn wenn das meinen Beruf negativ beeinflusst, dann muss sich etwas ändern.

Es gibt Eltern, die sich bei einer Schulleitung darüber beklagen, dass ich rechtsnationalistisches Gedankengut an meine Schüler weitergeben könnte - weil ich einen Beitrag über Leni Riefenstahl geschrieben habe. Natürlich ist das Unsinn, aber diese besorgten Eltern lesen oft nicht die Beiträge, sondern nur die Überschriften und die Bilder dazu. Seit Jahren immer das gleiche Spiel; einzig an der Kieler Gelehrtenschule gab es desbezüglich keinen Vorfall. Sicher, auch dort war ich bei der Schulleitung, aber nur mit dem Ziel der Bewusstmachung, dass Eltern Anstoß an diesen Schriften nehmen könnten.

"Das ist ein novum, dass ein Lehrer auch Blogger ist", so hieß es. Und daran können sich viele nicht gewöhnen, bzw. es bräuchte mehr Zeit, um sich daran zu gewöhnen, aber wenn man immer nur für maximal ein Jahr an einer Schule eingestellt wird, dann gibt es gar keine Chance, das Schulleben an diesen Umstand zu gewöhnen. Und gerade weil der Blog dafür gesorgt hat, dass ich in gut drei Wochen wieder arbeitslos bin, sollte ich einen Schlusspunkt setzen.





Aber!

Der Blog bedeutet mir sehr viel, weil ich Feedback von Lesern bekomme, und manchmal wirklich richtig gute Ratschläge, wenn ich mal wieder ratlos bin. So ist es auch diesesmal: Als ich angefangen habe, über Autismus zu schreiben, und die recht reelle Chance, dass ich dazugehören konnte, hat mir jemand geschrieben und sich als Ansprechpartner angeboten. Das ist so toll! Denn von allein würde ich da kaum jemanden gefunden haben. Jetzt meldet sich ein ehemaliger Kommilitone und steht mir für das alles Frage und Antwort. Ärzte, Diagnose, Wartezeiten und was noch so dazugehört. Es ist ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass es noch mehr Menschen wie mich gibt. Das muss sich nicht auf Autismus beschränken, im Gegenteil, bei jeder Minderheit ist es toll, wenn man weiß, dass man mit seiner "Andersartigkeit" nicht allein ist.

Und genau das ist der Grund, warum ich den Blog weiterführe. Ich habe hier die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen von Menschen, die sich auskennen. Gleichzeitig kann ich meine Sicht der Welt für "normale" Menschen schildern (wer ist das schon?). Und das ist mir sehr wertvoll. In meiner Prioritätenliste stand schon immer Privatleben vor Beruf, und das bedeutet auch, Antworten auf offene Fragen zu finden

Also zwischendurch mal wieder ein Danke an Euch! Und es geht weiter...

Samstag, 6. Juli 2019

Auteur

Ich konnte explodieren, wenn etwas nicht so lief, wie ich mir das zurechtgelegt hatte...

Surreal, suspenseful, and visually stunning, this new "Twin Peaks" is an auteurist triumph for David Lynch.

So lautet der Kritikerkonsens bei rottentomatoes.com über die dritte Staffel der abgefahrenen Fernsehserie. Aber was heißt "auteurist" - was ist ein "auteur"?

Ich habe damals in Zweitausendachtzehn, als die Staffel veröffentlicht wurde, den Begriff zur Kenntnis genommen und dachte mir, naja, das wird wohl sowas wie "Autor" sein. Ist aber tatsächlich ein wenig spezieller: Ein Auteur ist jemand, der ein Werk erschafft, über das er volle Kontrolle hat ausüben wollen. Keine Kompromisse (zum Beispiel, um etwas massentauglicher zu machen). David Lynch ist so ein Regisseur, aber auch aus Deutschland kommen schräge Köpfe, zum Beispiel Werner Herzog oder Rainer Werner Fassbinder.

Der ist mein heutiger Anlass für diesen Beitrag, denn ich schaue mir gerade seinen Zweiteiler Welt am Draht (1973) an, ein Film, der seiner Zeit weit voraus war. Es geht um eine Lebenssimulation am Computer, so wie zum Beispiel Die Sims, das einige von Euch sicherlich schon einmal gespielt haben. Was an dem Film speziell ist? Er wird aus der Perspektive einer Figur innerhalb der Simulation erzählt, ein Mann, der langsam herausfindet, dass er programmiert wurde. Klasse. (Natürlich gibt es noch mehr Filme mit dieser Thematik, The Matrix, Dark City, The Signal, Inception, aber heute sehe ich mir eben Fassbinder an). Der Film ist nicht unbeingt masentauglich, denn die Personen dort handeln sehr... ungewöhnlich. Ohne Emotionen, sachlich, das sorgt für einen Entfremdungseffekt, und dazu war es wichtig, dass Fassbinder zu jeder Zeit die Kontrolle über seinen Film (nach einem Roman) hat.

Ich tendiere auch zu solchem Verhalten, und ich bringe immer wieder gern meine Zeit bei den Saturnalien an: Ich hatte damals immer ein ganz bestimmtes Bild im Kopf, wie ein Sketch aussehen sollte, und wollte das gern Eins zu Eins auf die Bühne bringen. Das hat Vor- und Nachteile: Mit etwas Glück kann etwas richtig Geniales dabei herauskommen, aber phasenweise (oder dauerhaft) war ich für meine Mitspieler nur schwer auszuhalten. Im Film-Kontext: Klaus Kinski, ein genialer Schauspieler, war ebenso schwer zu ertragen bei der Filmproduktion am Set.

Und dabei ist das doch nie böse gemeint.

Hat schon einen Grund, dass Auteur und Autismus gleich anfangen, denn das griechische Wort "autos" (Herr Leinhos hat die griechischen Schriftzeichen) bedeutet "selbst". Man bekommt sehr viel selbst hin, aber es muss bitte auch genau so sein wie in meinem Kopf. Erklärt sich von selbst, dass ich Gruppenreferate im Studium gehasst habe. Und weil ich meinen Mitmenschen nicht mehr so sehr auf die Nerven gehen möchte, habe ich nicht so viele Freunde und komme in meiner Wohnung einigermaßen allein zurecht.

Ich habe jetzt einfach mal ein neues tag gesetzt, weil ich nicht mehr "geisteskrank" genutzen möchte. Würde passen.

Donnerstag, 4. Juli 2019

Anders: Erste Eindrücke

Wer bin ich? Wie bin ich?

Ich fange heute mal mit einem Zitat von Klaus an; ich weiß, dass sie das hier liest, und sie weiß, dass ich ihr auch weiterhin wünsche, dass sie ihre mentalen Fesseln bald abschütteln kann. Sie schreibt: "Selbst wenn Du Autist bist, und davon bin ich teils schon ausgegangen, als Du am Pult saßt und in jeder Stunde wieder denselben Fineliner befummelt hast..." - und an dieser Stelle habe ich herrlich gelacht. Faszinierend, wenn Menschen, mit denen ich zu tun habe, sich denken, ich könnte Autist sein, aber niemand mir das mitteilt. Vielleicht auch aus Angst, ich könnte mich in Zukunft ausschließlich darüber definieren: "...bist Du nicht nur Autist." Und das ist natürlich vollkommen richtig. Ich finde es interessant, dass ich diesen Hinweis immer wieder bekomme, das ging damals los, als ich auf die Idee gekommen bin, ich könnte hochbegabt sein.

Liebe Leute, ich bin nach wie vor ich, und entweder, Ihr haltet das mit mir aus, oder Ihr lasst das. ;-)

Aber eine gesicherte Diagnose könnte mir nicht nur endlich Antworten geben, sondern würde mir auch neue Wege öffnen. Ich könnte endlich herausfinden, welche Hilfen ich in Anspruch nehmen kann - und ich wüsste auch endlich, welche Rechte ich damit habe. So haben Asperger zum Beispiel ein "Recht auf fernschriftliche Kommunikation" (dazu weiter unten), und auch arbeitsrechtlich könnte mir das ein wenig mehr Chancen geben.

Dazu brauche ich allerdings die Diagnose, und davon bin ich noch weit entfernt. Ein erster Schritt, den ich jetzt endlich gegangen bin, war ein Blick in die Wikipedia zu den Themen Autismus und Asperger-Syndrom. Erste Eindrücke möchte ich hier aufschreiben, indem ich einfach nur Passagen zitiere und meinen Kommentar dazu gebe. Sorry, spannender wird's heute nicht ;-)

Und, je mehr ich darüber nachdenke... eigentlich hätte ich schon an der Schule in Neumünster darauf kommen können. Am Ende des Schuljahres hatte ich bei der Schulleitung nachgefragt, wie es mit der festen Übernahme aussieht, da das zu Beginn des Schuljahres in Aussicht gestellt worden war. Daran konnte man sich nicht mehr erinnern, deswegen hatte ich aus dem Vorstellungsgespräch zitiert und bekam als Antwort: "Wow, bei dir muss man ja richtig aufpassen, was man sagt!"

Tja, das ist so eine Autismus/Asperger-Sache: Man nimmt seinen Gesprächspartner bei'm Wort. Und ich dachte immer, dass das ganz normal wäre und dass man das eben so macht. Ich habe auf etwas unangenehme Weise erleben dürfen, dass Menschen alles Mögliche sagen, um sich besser zu fühlen und für Harmonie in der Kommunikation zu sorgen. Wahrheitsgehalt egal. Finde ich unglaublich anstrengend.

Merkmale sind, neben Besonderheiten und Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation, Unterschiede bei der Wahrnehmung und Reizverarbeitung (dazu gehören v. a. sensorische Über- und Unterempfindlichkeiten und Schwierigkeiten bei der Reizfilterung) sowie häufig außergewöhnliche Interessen und Begabungen.

Ja, ich habe Probleme bei sozialer Interaktion, weil ich immer die Wahrheit sage und weil ich alles munter heraus sage, auch Dinge, die jemanden verletzen könnten. Frau Rösner hat damals an der Uni zu mir gesagt "Dr Hilarius, sie tragen ihr Herz auf der Zunge. Passen sie auf, das kommt nicht immer gut an!" Natürlich hatte sie Recht - aber so bin ich eben.

Das Asperger-Syndrom ist nicht nur mit Beeinträchtigungen, sondern auch mit Stärken verbunden (etwa in den Bereichen der Wahrnehmung, der Selbstbeobachtung, der Aufmerksamkeit oder der Gedächtnisleistung).

Selbstbeobachtung, oh ja, ich denke quasi ununterbrochen über mein eigenes Verhalten nach (was meine derzeitige Schulleitung mir niemals glauben würde). Und das mit der Aufmerksamkeit kann gefährlich sein; oft hat man mir gesagt, dass ich im Gespräch immer sehr genau zuhöre - so geht es mir mit allem, was mich wirklich interessiert, nur leider bekomme ich dann um mich herum kaum noch etwas mit.

Eine Studie der Autismus-Forschungs-Kooperation (AFK) mit 271 erwachsenen Probanden mit Autismus ergab, dass deren durchschnittliches Alter zum Zeitpunkt der Diagnosestellung 35 Jahre gewesen war und dass 87 % der Probanden ihre Diagnose erst nach dem 18. Lebensjahr erhalten hatten. Besonders Asperger-Autismus würde häufig erst sehr spät diagnostiziert, weil die Probleme der normal intelligenten Autisten weniger „offenkundig“ seien.

Okay, ich bin noch fünfunddreißig Jahre alt und passe da hinein, oder? Mir wird immer klarer, dass ich mich endlich mal auf das Asperger-Syndrom testen lassen sollte.

"Gerade bei den Autistischen sehen wir – mit weit größerer Deutlichkeit als bei den ‚Normalen‘ –, daß sie schon von frühester Jugend an für einen bestimmten Beruf prädestiniert erscheinen, daß dieser Beruf schicksalhaft aus ihren besonderen Anlagen herauswächst."

So sagt Hans Asperger; ich lasse das mal unkommentiert.

Danach wird der Autor aufgrund seines Asperger-Syndroms eher als Problemfall (der Widerstand hervorruft) und wegen seiner Stärken als Kapazität (Leistungsträger) wahrgenommen. Menschen mit Asperger-Syndrom, die anscheinend von Kindheit an für einen bestimmten Beruf vorherbestimmt (prädestiniert) zu sein scheinen, stoßen in der modernen Arbeitswelt, in der es immer mehr auf Mobilität, Flexibilität, Teamfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit ankommt, auf große Schwierigkeiten. Inwieweit es ihnen gelingt, eine ihren Eigenarten entsprechende Nische zu finden, hängt sowohl von den Menschen, mit denen der Autist zusammenarbeiten muss, besonders den Vorgesetzten, als auch von den bereitgestellten Arbeitsbedingungen ab.

Genau das sind die Probleme, mit denen ich in fast allen Schulen immer wieder zu tun hatte, und ich suche immer noch ein Kollegium, das mich akzeptiert.

Autisten haben in Deutschland das Recht auf barrierefreie fernschriftliche Kommunikation. Das kann beispielsweise einer Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 14. November 2013 entnommen werden, die von der Enthinderungsselbsthilfe von Autisten für Autisten erstritten wurde.

Ich hasse es, zu telefonieren - darüber habe ich auch hier schon oft geschrieben. Ich weiß nicht, wer mit mir sprechen will, ich weiß nicht, worum es geht, also gehe ich in der Regel nicht an's Telefon, wenn es klingelt.






Das reicht erstmal mit den Eindrücken. Der nächste Schritt besteht darin, herauszufinden, an wen ich mich für eine Testung wenden muss. Geht los.