Mittwoch, 31. August 2016

Vorbereitungen (a.k.a. procrastinatio delectat)





Dr Hilarius beim Vorbereiten einer Lehrprobe


Wir schreiben die letzte Ferienwoche, viele Lehrerkollegen stellen sich jetzt auf das neue Schuljahr ein. Manche werden kotzen, wenn sie realisieren, dass sie absolute Horrorklassen bekommen haben (Definition bleibt jedem selbst überlassen), andere freuen sich über einen straffen Stundenplan mit wenig Rumgammelzeit. Ehrlich gesagt hoffe ich ein bisschen darauf, dass irgendein Kollege sich so sehr über seine Lerngruppen aufregt, dass er sich die Halsschlagader bricht: So könnte meine Freundin noch ein bisschen Vertretungsunterricht geben.

Es gibt sehr vorbildliche Lehrer. Jene haben zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich schon die Stoffverteilung für ihre Klassen geregelt, die Schultasche auf- und den neuen Lehrerkalender eingeräumt. Sie können den Schulbeginn kaum abwarten, damit sie gleich am Montag all ihre Klassenarbeitstermine für das Schuljahr reservieren können.

Ich habe noch nicht einmal meinen Lehrerbedarf-Bestellzettel wiedergefunden. Ich mache in den Ferien tatsächlich Ferien. Aber nun habe ich meinen Stundenplan, als hätte ich es geahnt. Ich seh' das positiv, neue Herausforderungen! Aber noch nicht; ich habe den Plan zur Seite gelegt, morgen muss ich erstmal in der Wohnung ein bisschen was schaffen, es geht wieder einmal ins Badreich. Und vielleicht gibt es morgen ja schon Neuigkeiten zum Kühlschrank - denn wie mir seltsame Geräusche und ein sehr fauliger Geruch klargemacht haben: Der tut's nicht mehr. Vielleicht ist aber auch nur ein Teil kaputt. Nun ja, das sorgt momentan dafür, dass ich nach Ewigkeiten wieder Fertiggerichte esse - und ich muss ganz ehrlich sagen, vermisst habe ich sie nicht. Es gibt ein paar Sachen, die sind gut (frisch Zubereitetes), aber das soll kein Dauerzustand sein.

Ich prokrastiniere also wieder einmal, ich schiebe meine Schularbeiten noch ein Stückchen auf und versuche, die letzten sonnigen Ferientage zu genießen. Und das solltet Ihr auch tun!

post scriptum: Hin und wieder muss auch mal ein langweiliger Käsebeitrag sein, verleiht dem ganzen Geschreibsel etwas Authentizität.

Montag, 29. August 2016

Adler Töwe Muschi Hirsch


Es gibt Wochenenden, nach denen man aufwacht und...

...und das Chaos regiert in der Wohnung - denn man hat das Wochenende zum Ferienabschlusswochenende in Sachen Meditation erklärt und sich nichts Anderem gewidmet außer einer wunderbaren Freizeitgestaltung und der Ordnung der eigenen Gedanken für das anstehende Schuljahr. Ergo begrüßt einen dann am Montagmorgen, pardon -nachmittag ein kaputter Kühlschrank, Wäsche in der ganzen Wohnung verteilt, Husten mit Auswurf, Essensreste, ein Wrack beim Blick in den Spiegel und ein Zettel mit der Aufschrift "Adler Töwe Muschi Hirsch", und das Einzige, was mein Gehirn in dem Moment zu denken in der Lage ist - wie inkonsequent! Es müsste doch eigentlich "Adwer" heißen! Da hilft erstmal nur hochkonzentriertes Koffein, kombiniert mit inspirierendem Goa zum Aufwachen - danke Moe, Du Spacken, Du hast mich grad wieder auf den Geschmack gebracht.

...und beschließt, okay, alles, was gerade nicht die Dringlichkeit einer brennenden Wohnung besitzt, wird nach hinten geschoben, bis der Kopf wacher, klarer, fitter ist. Essensreste werden beseitigt, bevor sich ein dokumentationswürdiges Biotop ausbreitet. Alles, was ein "maschine" im Namen trägt, wird eingeschaltet und auf Reinigung programmiert. Hauptsache, das läuft von selbst. Und dann werden erstmal die Fenster aufgerissen, und mir wabern Erinnerungsfetzen von letzter Nacht durch den Kopf, als die verrückte Buba und ich hier am weit geöffneten Küchenfenster über die nächtliche Hamburger Chaussee herausgestarrt haben und uns königlich amüsiert haben über nen augenscheinlich noch etwas jüngeren männlichen Vertreter der Spezies homo minime sapiens, der lautstark brüllend seinen offenbar nicht nur betrunkenen Weg Richtung Baustellenloch beschritten hat. Da waren definitiv noch andere Substanzen im Spiel - sollten es Opiate gewesen sein, hoffe ich, dass er die Nacht gut überstanden hat, sollten es Psychedelika gewesen sein, hoffe ich, dass er wenigstens seinen Spaß gehabt hat - während er in seiner kleinen Welt alle anderen Menschen zusammengeschlagen hat, weil er ja der Größte und Beste war. Süß. Dem möchte man einen Pudding kochen. Haben wir aber nicht gemacht, weil die GDB die ganze Zeit Schatzkisten auf Wolken gesucht hat und die verrückte Buba Blumen gepflückt hat und dabei unentwegt "Deidäh!" gerufen hat. So ein Wochenende war das.

...und überall liegen Rechnungen herum, was man allerdings erst bemerkt, als man sich an den Schreibtisch setzt, um den ersten Kontakt mit der Zivilisation da draußen zu schließen, Rücksturz in die Realität, sozusagen, nachdem man das Wochenende mit Anime-Mädchen, Achterbahnjunkies und alliterierenden Alter Egos verbracht hat (der war spontan, geil oder?). Der nächste Blick geht auf das Windows 10-Datum und man stellt erleichtert (erweichtert) fest, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis das Gehalt auf dem Konto ist und man jene Rechnungen wegarbeiten kann. Da aber im Moment noch die Hände gebunden sind, werden die Rechnungen aus meinem Tunnelblick verbannt und ich lasse das Koffein langsam wirken und setze meine alternden Kochen in Bewegung.

...und dann komme ich doch nicht dazu, weil mich auf den blauen Seiten jemand mit meinen Neigungen festhält - während die Musik im Hintergrund weiterwummert und ich beschließe, okay, nachdem es ein "damage"-Wochenende war, wird das heute ein "repair"-Tag und morgen gehe ich zur Tagesordnung über. Nicht heute, nicht jetzt, jetzt lasse ich mich erstmal auf einen netten Chat mit dem Gegenüber ein, hey, es sind noch Ferien, und ich bin unglaublich gut darin, das Chaos zu ignorieren. Und ich bin ein Mann - da setzt das Denken sowieso gern mal aus.

...und ich gehe ins Bad, um Mensch zu werden, und denke schockiert, dass ich wieder Eintritt nehmen könnte für extrem erhellende Expeditionen ins Badreich. Flora und Fauna begrüßen mich lautstark, so dass ich nur schnell das Nötigste erledige, die Tür zudonnere und das Reich dahinter zur Jumanji-Zone erkläre - Eintritt nur mit Machete und Granatwerfer, sollte mich nicht wundern, wenn neben den obligatorischen Staubmäusen auch Killerkrokodile und muhende Zombies auf mich warten. Da gehe ich nur schwerst bewaffnet mit hochreinigungsaktiven Tensiden wieder rein!

...und das Loch in meinem Magen erklärt sich zur hochgravitativen Zone mit eigenem Schwarzschildradius - sobald ich nur in die Nähe von etwas Essbarem komme, wird es selbsttätig eingeatmet ohne Chance auf ein Wiedersehen (zum Glück). Die Frage, was alles die Definition von "essbar" erfüllt, stellen wir in einem solchen Moment lieber nicht. Es wird alles eingesaugt, und nichts kehrt hinter dem Ereignishorizont jemals zurück, um zu berichten, was es einst war. In diesem Zustand durch einen Supermarkt zu gehen, wird zu einer Übung in Sachen Katastrophenschutz: Wie verteidigt man Nahrungsmittelregale und Geldbeutel gegen die enorme Anziehungskraft des Schwarzen Lochs, das sich Magen schimpft? Somit wird der "Tag danach" auch zu einer Übung in Survival und physikalischen Theorien. Die philosophische Komponente schließt sich unerbttlich an, wenn ich den Blick auf den Kassenbon werfe - zum Glück wird der in der Wohnung direkt mit dem umherliegenden Müll assimiliert und verschwindet auf Nimmerwiedersehen aus dem Survival-Tunnelblick.

...und plötzlich ist der halbe Nachmittag um und man hat nichts geschafft!

Sonntag, 28. August 2016

Es geht um Sex (Petron, Du Sau!)



Der Warren-Becher
1          Einleitung
  
Ob nun russischer Formalismus, Poststrukturalismus oder Dekonstruktion: Die modernen Literaturtheorien erhalten das Attribut der Moderne aus ihrer eigenen Entstehungszeit, nicht aus der Zeit, in der die von ihnen besprochenen Texte entstanden sind. Einige Theorien geben sogar spezielle Anleitung zum neuen Lesen und Verstehen alter Texte. Eine davon ist der New Historicism, dessen führender Kopf, Stephen Greenblatt, ein Experte für die Werke Shakespeares ist. Vor dem Hintergrund des New Historicism sollen nun die Satyrica des Petron betrachtet werden. Diese Arbeit stellt sich nicht eine der klassischen Fragen der Altphilologen nach Textüberlieferung, Konjekturen oder Korrekturen. Sie fragt nach Kultur und Diskurs.
Was ist Kultur? Kultur ist das Geflecht aus Zusammenhängen, welches zu jedem gegebenen Zeitpunkt die Menschheit ausmacht. Sie lässt sich vergleichen mit einem großen Teppich mit verschiedensten Mustern. Die einzelnen Muster stehen hierbei für die Medien, die dem Menschen zur Verfügung stehen, Film, Literatur, Kunst, Sprache und weitere. Die einzelnen Fäden des Stoffes symbolisieren die verschiedenen Diskurse, die unsere Gesellschaft im jeweiligen zeitlichen Paradigma beherrschen. Sie können nur eines der Muster des Gewebes durchwandern, ziehen sich aber in der Regel durch viele Medien zugleich.
Kultur wird zu keinem Zeitpunkt, sei es für eine noch so kurze Zeitspanne, vollständig beschrieben werden können. Diese Tatsache ist zwei Umständen geschuldet: Das kulturelle „Gewebe“ ist endlos, keiner der Fäden hat einen Anfang oder ein Ende, mal sind Fäden miteinander verschlungen, mal aneinandergeknüpft, ein Diskurs wird nur schwerlich ohne Einbeziehung eines weiteren Diskurses erläutert werden können. Kultur befindet sich außerdem im stetigen Wandel. Sie unterliegt den Prinzipien von Mobilität und Restriktion. Wann immer es heißen mag, ein optimaler Zustand sei erreicht und solle gehalten werden, folgt unweigerlich ein Niedergang, egal in welchem Ausmaß. Gleichzeitig ist der Kulturwandel aber auch der Restriktion unterworfen, wenn man einen besonders schnellen Wandel herbeiführen will, die Menschen dazu aber noch nicht vorbereitet bzw. bereit sind.
Der New Historicism sieht ein literarisches Werk als ein Medium des großen kulturellen Gewebes. Angesichts der geschilderten Problematik von Unendlichkeit der Diskurse und Vielzahl verschiedener Diskurse in einem Werk stellt diese Literaturtheorie sich gar nicht erst dem Anspruch, eine Kultur oder auch nur ein Werk erschöpfend abhandeln zu können. Es wird stattdessen versucht, einen Diskurs zu einer gegebenen Periode zu sehen und zu verstehen, aus Quellen aller Art. Dabei muss es sich nicht nur um „hohe Literatur“ handeln; es können Gebrauchstexte, Bilder, archäologische Bestände, Filme, Hinweise aller Art genutzt werden. Das zu untersuchende Werk ist also nur ein Mittel in einem umfangreichen Instrumentarium zur Diskursanalyse, wie sie vorher schon Michel Foucault vertreten hat.
Zu lange und leider auch heute noch zu oft in bildenden Institutionen werden Geschichts- und Literaturwissenschaft getrennt, ohne Bezüge zueinander gelehrt. Auch steht noch zu sehr die werkimmanente Interpretation des New Criticism und seines „close reading“ im Vordergrund, selbst im vom Marxismus und der Rezeptionstheorie beeinflussten Deutschland. Erst langsam kommt eine neue Disziplin mit der Bezeichnung „Kulturwissenschaft“ auf, eine neue, treffendere Übersetzung der „Cultural Studies“, die früher noch als Landeskunde übersetzt und unterrichtet wurden. Schlagwort ist die Reziprozität von Geschichtlichkeit der Texte und Textualität der Geschichte. Der New Historicism verweigert sich einer ausschließlich literaturwissenschaftlichen Arbeit mit einem literarischen Werk; ebenso soll diese Arbeit von mehreren Seiten zugleich auf den Seidenfaden, den sexuellen Diskurs in den Satyrica des Petron zugehen.

2          Der seidene Faden

Welch ein Medieninteresse geweckt wurde, als Berlins Oberbürgermeister Klaus Wowereit sich 2001 als homosexuell outete! „Ich bin schwul – und das ist auch gut so.“ Endlich ein Politiker, der sich traut, seine Neigungen offen zuzugeben. Es wird gar von einem Befreiungsschlag gesprochen, es folgt eine Welle von Prominenten-Outings. Umgeben von Sicherheitsleuten kann einem Politiker jener Satz nicht allzu schwer fallen. Es geht ganz sicherlich nicht jedes Mal ein erfreutes Raunen durch die Bevölkerung, wenn ein Mensch sich outet. Damit auf Akzeptanz zu stoßen, stellt nicht den Regelfall dar. „Und das ist auch gut so“? Es ist also weniger gut, heterosexuell zu sein? Ist das der Grund, warum kein Mensch sich vorstellt mit Namen und dem Zusatz, man sei übrigens heterosexuell? Gerne wird in den Medien für Toleranz geworben, eine Farce angesichts des momentanen Zustands. Wowereit muss sich gedanklich in einem anderen Paradigma befunden haben, als er den Zusatz „Und das ist auch gut so“ aussprach. Nicht in der Gegenwart. Bei den Römern war es vielleicht gut so – und die hatten auch noch mächtig Spaß dabei!
Was war es denn nun? Ein Schwert, eine Wurzel, oder doch eher eine Gurke? Die letzten Szenen der Casina des Plautus stellen den Gutsverwalter Olympio als übertölpelten Dummkopf dar. Er hat die vorhergehende Nacht mit dem Sklaven Chalinus verbracht, der wiederum als Casina, seine zukünftige Ehefrau und somit (durch einen perfiden Plan) das neue Mädchen des Hausherrn Lysidamus verkleidet war. Die Liebesnacht wird nicht dargestellt, allerdings das Nachspiel: Am Morgen darauf schämt Olympio sich und bezeichnet als flagitium, was vorgefallen ist. Dementsprechend fällt es ihm auch schwer, dem Publikum und der Frau des Lysidamus, Cleostrata, einen Bericht der Ereignisse abzuliefern (Plaut. Cas. 875-933).
Olympio hat nicht gemerkt, dass die ihm untergeschobene Casina ein Mann ist? Er fühlt ihren stacheligen Bart, als er sie küsst, er fühlt ihr Geschlechtsteil, sucht scheinheilige Erklärungen, ob es sich vielleicht um ein Schwert handele, oder um ein Gemüse, was auch immer es gewesen sein mag, so war es doch unglaublich groß. Wenngleich dem Olympio im Verlauf der Komödie die Rolle des Tölpels zugeschrieben wurde, so wird er nicht so dumm gewesen sein, diesen Fehler nicht zu bemerken. Auch stellt er die Nacht so dar, dass er selbst nach gründlichem Ertasten des Körpers der „Casina“ (später pfiffig als „Casinus“ enttarnt) einen Kuss austauscht.
Gehen wir also davon aus, dass ihm die Nacht durchaus gefallen hat – schließlich war es sein Liebespartner, der ihn daraufhin fortgestoßen hat, nicht umgekehrt – so bleibt noch die Frage, weshalb Olympio sich schämt, dies zuzugeben, wie er immer wieder betont. Bei den Griechen wurde Pädophilie, bei den Römern Homosexualität ohne Scham praktiziert, so die gegenwärtig weit verbreitete Meinung. Sollte Olympio die Geschichte also nur deshalb peinlich sein, weil er ausgetrickst wurde?
Welches Gedankengut bezüglich sexueller Neigung von den Griechen zu den Römern gelangt ist, finden wir in Platons Symposion wieder. Platon lässt Sokrates über die Urmenschen sprechen, die jeweils ein Körper mit vier Armen und Beinen sowie zwei Gesichtern und Geschlechtsteilen waren. Diese Körper hatten vom Ursprung her eines von drei möglichen Geschlechtern. Sie konnten urmännlich, urweiblich oder Mannweiber sein, die Merkmale beider anderen Geschlechter besaßen (Plat. symp. 16). Um die Menschen zu schwächen und ihrer Wildheit zu berauben, trennte Zeus diese Körper in der Mitte auseinander und ließ sie von Apoll zu den Menschen werden, die wir kennen. Dabei waren zunächst ihre Geschlechtsteile nach außen gekehrt, später dann auf der Seite des Gesichts beim Kontakt mit anderen Menschen einander zugewendet.
Jede Hälfte dieser zerteilten Wesen befand sich auf der Suche nach der anderen Hälfte. Die Mannweiber wurden in Mann und Frau getrennt, sind also auf der Suche nach heterosexueller Vereinigung. Da sie nach Platons Auffassung außer zur Fortpflanzung nur zum Ehebruch diene, kann es sich nur um ein Zweckbündnis, nicht aber um eine vollkommene Liebe handeln. Zur Verbindung von Frau und Frau lässt Platon Sokrates kaum Worte verlieren. Die urmännlichen Wesen, die jetzt als Männer auf der Suche nach einem Mann sind, stellen dagegen die vollkommene Liebe nach dem Wunsch der Aphrodite dar (Plat. symp. 9). Da die Göttin am weiblichen Wesen keinen Anteil hat, fließt die wahre Liebe nur dem Männlichen zu, welches selbst auf der Suche nach dem von der Natur Stärkeren und mit Vernunft Begabten, dem Männlichen, ist. Wenngleich Platon später beschreibt, dass der junge Mann einen älteren und umgekehrt lieben solle, so müsse die Liebe zu Knaben im Kindesalter, vor dem ersten Bartwuchs, verboten werden. Diese Kinder hätten selbst noch keinen Blick für das Gute oder Schlechte und es sei noch nicht gewiss, ob sie sich in Richtung eines guten oder eines schlechten Menschen entwickeln würden. Sobald der erste Bart gewachsen sei, sollen sie sich in die Arme eines älteren Mannes hingeben. Dies sei ein ganz natürlicher Vorgang, da das männliche Wesen stets auf der Suche nach dem ihm Wesensgleichen sei. So würden später große Staatsleute heranwachsen; die Liebe zur Frau sei ihnen zugänglich, diene aber wie bei den Mannweibern nur der Fortpflanzung und zur Zufriedenheit genüge ihnen eine ehelose Verbindung mit einem anderen Mann.
Im Rückschluss ergibt sich aus den Äußerungen des Sokrates ein durchweg negatives Bild der Frau. Sie diene nur der Fortpflanzung und da sie keinen Anteil am göttlichen Wesen der Aphrodite habe, könne sie auch keine wahre Liebe empfinden, nur eine triebgesteuerte, minderwertige Geilheit. Die Rangordnung der sexuellen Neigungen nach Platons Symposion sieht also die homosexuelle Liebe zwischen Männern als vollkommen an, die heterosexuelle Liebe zumindest als nützlich, die homosexuelle Liebe zwischen zwei Frauen dagegen als unechte Liebe, als Schauspiel niederer Instinkte.
Sicherlich können Platons Schriften und die Sprüche des Sokrates nicht als Gesetz für das Griechenland der frühen Antike gelten. Zu deutlich findet sich z.B. in den Wolken des Aristophanes die Veralberung der Logik des Sokrates wieder, die sogar den Darmtrakt einer Schnake durchdringt. So erklärt Sokrates dem neugierigen Strepsiades überzeugt, dass es korrekte weibliche Formen von weiblich verwendeten Substantiven geben müsse und dass der Vokativ einiger männlicher Vornamen auch wiederum eine weibliche Form sei (Aristoph. nub. 658-691). Man darf vermuten, dass es sich bei diesen Spitzfindigkeiten des Sokrates um eine Verballhornung der Geschlechterlehre des Platon durch Aristophanes handelt.
Es findet sich dennoch in medizinischen Traktaten der Antike eine Geschlechterlehre, die von Hippokrates über Galen und Andreas Vesalius bis hin zu Shakespeare reichte, das Modell eines einzigen Geschlechts. Galen prägte die Lehre der Humoralpathologie und schrieb den weiblichen Körpersäften die Qualitäten „feucht“ und „kalt“ zu. Im Körper der Frau überwiegt der Anteil des Schleims, sie ist vom Wesen her gefühllos, vom Körpersaft her ein „Phlegmatiker“. Ihre niedrigere innere Körpertemperatur bringt zwei wesentliche Folgen mit sich: Ihr Geschlechtsteil, ein genaues Abbild des männlichen Penis, verbleibt nach innen gewölbt im Körper und der Samen, den ihr Körper produziert, kann nicht aus dem Blut „herausgekocht“ werden.[1] Das soll natürlich nicht heißen, je höher die Körpertemperatur, desto männlicher und sexuell gesünder sei das Lebewesen. Hyperthermie im Körper, die gerade in den ersten Jahrhunderten nach Christus durch zu heiße Bäder in Thermen oder im eigenen Haus verursacht wurde, war sowohl für die männlichen als auch die potentiellen weiblichen Spermatozoen äußerst schädlich. Ferner sind auch die weiblichen Organe Abbild der männlichen, der Uterus ist dazu noch mit hornähnlichen Auswüchsen versehen.[2] Die Geschlechtsorgane der Frau werden als eine unvollendete Form der männlichen Geschlechtsorgane verstanden; damit ergibt sich auch seitens der Medizin ein Bild, welches die Frau nicht nur in der Liebe, sondern auch in der Entwicklung der Geschlechtsorgane unvollkommen zeigt. Platons Lehre der besten und der widernatürlichen Liebe aus dem Symposion findet sich hier bestätigt. So unvorstellbar die Ein-Geschlecht-Lehre für uns scheinen mag, so hat sie doch bis spät in die Renaissance das Denken und das Verständnis von Geschlechterrollen geprägt. In der Antike gab es wenig Anschauungsmaterial, was zu einer Aufklärung hätte dienen können. Körper wurden selten, wenn überhaupt, seziert und Abbildungen gab es nicht. Erst spät wurde Galens Topographie des menschlichen Körpers in wissenschaftliche Illustrationen umgesetzt. Umso erstaunlicher ist die Reichhaltigkeit freizügiger erotischer Darstellungen auf der Bühne und in den bildenden Künsten. Sie belegt, wie offen der sexuelle Diskurs im ersten Jahrhundert vor und nach Christus thematisiert wurde.
Auf Trinkbechern, Vasen und weiteren Gefäßen werden hetero- wie homosexuelle Paare beim Geschlechtsakt dargestellt. Der Warren-Becher, anhand der dargestellten Frisuren in die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts nach Christus datierbar, zeigt auf beiden Seiten Szenen, in denen ein junger Mann von einem älteren penetriert wird; auf einer Seite spielt ein Junge Voyeur. Auch bei der Darstellung von Mann und Frau spielt der Analverkehr eine besondere Rolle. Darstellungen von Nacktheit finden sich zum Beispiel im in den Ausgrabungen vom Pompeji freigelegten Mysteriensaal und seinen Wandfresken, im Zentrum der Darstellungen Dionysos, nur teilweise mit einem Tuch bekleidet und den Thyrsosstab über den Schoß gelegt. Götter wie Sterbliche haben hier in gleichem Maße Teil an den ekstatischen Ausschweifungen. Eines der in Pompeji freigelegten Gebäude hat mittlerweile die Bezeichnung „Lupanar“ erhalten; die Aufteilung der Räumlichkeiten und die Darstellungen über den Türstürzen lassen vermuten, dass es sich hier um ein Bordell gehandelt hat. Prostitution wurde auch im Rom der Antike offen betrieben, wobei junge Knaben sich oft weit teurer verkaufen konnten als die Mädchen. Dennoch muss der Preis für Prostituierte verhältnismäßig niedrig gewesen sein, da sich die Bordelle an Bevölkerung aus den niederen Schichten richteten. Wer genügend Geld besaß, kaufte sich private Sklaven, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.[3]
Die Darstellung erotischer Szenen in Bildern war keineswegs auf Bordelle und Plätze beschränkt, die nur einem kleinen Publikum zugänglich waren. Auch in den in Pompeji geborgenen Tavernen finden sich Wandbilder von alltäglichen Szenen aus dem Kneipenleben. Sie zeigen würfelspielende Männer, Reisende, die am Gasttisch sitzen und, mittlerweile getilgt, aber zuvor vom französischen Zeichner César Famin kopiert, zwei Szenen sexueller Offensive eines Mannes gegen eine Frau. Dabei fällt bereits das große Geschlechtsteil des Mannes auf: Wenngleich besonders große mentulae von Dichtern wie Martial (9, 33) verspottet wurden, so gab es doch nie angewiderte Reaktionen darauf. Sie dienten zum Gelächter oder zur Bewunderung, in jedem Fall einer Form von Anerkennung. Aus diesem Grund wurden sie auch gerne und freizügig dargestellt. Was beim Nacktmimus zwangsläufig unverändert gezeigt wurde, wurde bei Komödien gerne mit Kunstgriffen übersteigert, das erotische Moment damit von den Wänden der Bordelle und Kneipen auf die Bühne gebracht und mit Beifall gefeiert. Angesichts der Fülle an erotischem Material mag nochmals unser modernistisches Bild der Antike mit ihrem ungestraften und zügellosen Spiel der Lust bestätigt scheinen. Wenn manche sogar so verblendet von den Darstellungen in Buch, Bild und Plastik sind, dass sie z.B. die Satyrica als „turbulenten Sexroman“[4] bezeichnen, kann dies nur von der Unkenntnis sowohl des Werkes als auch des sexuellen Diskurses zeugen. Hier liegt ein Irrtum vor, der aufgeklärt werden muss, denn nicht jede Spielart des Sex war erlaubt oder gleichermaßen geduldet.
Nachdem die Sittenstrenge unter Augustus und Tiberius etwas nachgelassen hatte, lebte man seine Neigungen und Lüste verhältnismäßig offen aus. Exhibitionismus wurde auf zwei Ebenen gerne betrieben, auf der optischen in Form der Zurschaustellung von Geschlechtsteilen oder sexuellen Akten auf Bildern, in den Thermen oder in Bühnendarstellungen sowie auf der akustischen in Form dessen, was wir heute als dirty talk kennen (Koprolalie). Diese Form des Exhibitionismus sollte dem Darstellenden zum Lustgewinn dienen; natürlich verlangt jeder Exhibitionismus ein Publikum, so z.B. den auf dem Warren-Becher dargestellten Jungen, der durch die einen Spalt weit geöffnete Tür den Analverkehr des Mannes mit seinem etwas jüngeren Partner beobachtet. Diese Arten des erotischen Vorspiels waren durchaus geduldet, wurden aber auch verachtet, wenn sie in übertriebenem Maße zu einer Besessenheit wurden. So berichtet Seneca in den naturales quaestiones (1,16) von einem gewissen Hostius Quadra, der sein Schlafzimmer mit Spiegeln versehen hatte, um sich selbst und seinen Partner aus jedem Blickwinkel in allen Stellungen beim Geschlechtsverkehr beobachten zu können. Darüber hinaus handelte es sich nicht um einfache Spiegel, sondern um Zerrspiegel, die sein eigenes Gemächt oder das des anderen übermäßig groß darstellen sollten. Die redundante Erzählung des Seneca spiegelt seine verächtliche Haltung gegenüber dieser Praxis wider. Eine weitere Form des Exhibitionismus finden wir in der Prahlerei, nicht nur bei der Plebs, sondern auch in der Dichtung bei Properz oder Ovid (am. 2,10).
Die Sexualpraktiken selbst waren vielfältig und nicht ohne Einschränkung anerkannt. Oralverkehr galt dann als anständig, wenn man sich danach den Mund spülte und nichts mehr auf den Kontakt schließen ließ; schlechter Mundgeruch war ein geeignetes Ziel für den Spott der Mitmenschen. Auch Analverkehr wurde zur späten Republik schon lange praktiziert. Pedicare hat eine Bedeutung über den bloßen sexuellen Kontakt hinaus erhalten, so lässt sich die Wendung pedicabo ego vos et irrumabo (Cat. 16,1) als antiker Ausdruck für „Fuck you“ verstehen. Dennoch gab es beim Analverkehr einige Regeln, die beachtet werden mussten: Wurde ein freigeborener Junge zum Analverkehr gezwungen, galt es als stuprum. Sex mit den eigens gekauften Sklaven oder Sklaven, die nur dafür als pueri meritiosi oder prostibula verkauft wurden, war akzeptiert. Prostitution, unter Caligula zur Institution geworden, wurde allerdings auch von Freigeborenen betrieben und in dieser Form geduldet. Als Faustregel kann gelten, dass der aktive Partner beim Analverkehr eine angesehenere Stellung hatte, während die Rolle des pathicus eher als flagitiosus betrachtet wurde.
Es spricht also der Gutsverwalter Olympio davon, dass ein flagitium in der Nacht mit der falschen Casina vorgefallen sei. Sein Gestotter entlarvt Olympio als unzuverlässigen Erzähler; wenn wir seinen Worten Glauben schenken, hat er seinen Partner gestreichelt und geküsst, ist danach aber von ihm verjagt worden. Unabhängig davon, ob mehr zwischen den beiden geschehen ist, fällt die eigentliche Schande auf seinen Herrn Lysidamus zurück, dessen Konkubine Casina hätte werden sollen. Am Morgen trifft Lysidamus auf seine Frau Cleostrata und es hat ganz den Anschein, als habe er die Nacht mit Casina/Chalinus verbracht und dabei die Rolle des pathicus übernommen – eine Schande in der antiken Tradition! Der Alte wird damit doppelt bloßgestellt: Er muss gegenüber seiner Frau (und dem Publikum) nicht nur seinen Plan zugeben, Casina als Konkubine für sich zu bekommen, sondern auch, dass er in unfreiwilligen Geschlechtsverkehr mit einem Mann geraten ist. Plautus nutzt in seinem Stück ganz bewusst den zu seiner Zeit gängigen sexuellen Diskurs, um daraus die Komik der Schlussszenen zu verstärken; daraus erkennen wir wiederum, dass trotz sexueller Freizügigkeit nicht alles, was praktiziert werden konnte, gleichzeitig anerkannt war und dass die Szene nicht nur deshalb besonders komisch ist, weil der Sexualpartner des Mannes sich plötzlich ebenfalls als Mann entpuppt hat.
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Die eingangs aufgestellte Behauptung, der sexuelle Diskurs jener Zeit (wie zu jeder Zeit) durchwebe verschiedenste Medien, so auch die Literatur und Petrons Satyrica, soll nun zumindest mit ein paar Hinweisen untermauert werden, denn der erste lateinische Roman der Antike ist aufgeladen mit sexueller Spannung.
Enkolpius ist der Protagonist der Satyrica, ein junger, gebildeter Mann, der durchaus beiden Geschlechtern zugeneigt ist. Dies tut seinem Ansehen keinen Abbruch. Er verliebt sich in den jungen Knaben Giton und zieht fortan mit ihm durch Mittelitalien. Man kann ihn als Feigling bezeichnen: Selten ergreift er die Initiative, gerade bei sexuellen Handlungen lässt er zumeist die anderen machen und erträgt eher, als dass er genießt. Dieser Umstand mag einem Fauxpas geschuldet sein: Seit er den Priapusdienst der Priesterin Quartilla unterbrochen hat, ist er mit Impotenz gestraft, sie lastet wie ein Fluch auf Enkolpius (eine der vielen Anspielungen auf die Odyssee, in der der Held ebenfall von einem Fluch vorangetrieben wird). In einer Zeit, in der sexuelle Ausschweifungen kaum geahndet wurden, wird die Schwere dieser Strafe erst deutlich. Dabei ist es nicht so, dass Enkolpius von sich aus enthaltsam gelebt hätte; nicht umsonst hat Petron ihm seinen Namen gegeben, der ihn im Schoße oder doch zumindest an der Brust liegen lässt. So hat er z.B. den Kapitän Lichas entehrt, indem er mit seiner Frau Hedyle geschlafen hat, eine Episode, die sich zwar vor dem erhaltenen Textteil befindet, die aber während der Schifffahrt mehrfach erwähnt wird (106,2; 113,2f.). Gerade diese „illegalen“ Liebschaften sind es, die für Abenteuer sorgen und die Gefährten immer wieder aufs Neue vorantreiben und in verzwickte Situationen bringen. Enkolpius verzweifelt immer mehr an seiner Impotenz, je mehr Männer und später vornehmlich Frauen versuchen, ihn für sich zu gewinnen – daraus lässt sich übrigens schließen, dass Enkolpius in besonderem Maße zwischen Liebe und Sex unterscheidet, da sein Herz nur Giton gehört. Mit Frauen teilt er nur seinen Körper. Die Zauberin Circe erkennt dies und denkt sich daher für ihre Verführung eine Taktik aus, die an Enkolpius’ größter Schwäche ansetzt: Sie verspricht ihm Heilung gegen seine Impotenz, wenn er dafür seinen Knaben Giton für drei Tage verlässt (129,8). Schließlich gelingt es Circe und ihren Mädchen sogar, die Manneskraft wiederherzustellen, allerdings nur durch einen vorübergehenden Zauber. Als zweiter Fluch verfolgt Enkolpius seine Eifersucht, zumal Giton von mehreren Personen begehrt wird, im erhaltenen Teil des Romans vornehmlich Tryphaena, Eumolpus und Askyltos. Jedes Mal, wenn eine andere Person in seinem Beisein Küsse mit Giton austauscht, versetzt es Enkolpius einen Stich im Herzen. Spätestens seitdem der Knabe ihn kurzzeitig für Askyltos verlassen hat, muss Enkolpius immer wieder befürchten, dass seine mangelnde Potenz den Einfluss auf seinen Geliebten untergräbt. Gerade auf dem Schiff des Lichas schmerzt es ihn sehr, zu sehen, wie Tryphaena sich mit Giton vergnügt, auch wenn es sich dabei nur um „Vertragsakte“ handelt (113,5-9). Enkolpius muss schon allein wegen seiner sexuellen Umstände als Antiheld betrachtet werden. Als Mann in den wilden Jahren kann er seinen sexuellen Wünschen durch seine Impotenz nicht nachgehen, verliert mehrmals vor Eifersucht den Blick für das Offensichtliche und verzweifelt trotz allen Spaßes, den er mit Giton anderweitig erlebt, mehrmals an seiner Lage.
Es sollte niemanden verwundern, dass die Beziehung zwischen Enkolpius und Askyltos auf einer Hassliebe beruht: Die beiden hatten mindestens ein sexuelles Verhältnis (9,9) und haben einige Zeit zusammen mit Giton die Lande durchwandert. Askyltos ist dabei mit einem außerordentlich großen Geschlechtsteil ausgestattet, welches Enkolpius zum einen mit Freude erfüllt haben dürfte, zum anderen aber auch zu seiner Eifersucht beiträgt, da es die sexuelle Potenz seines „Brüderchen“ betont: Sie stellt eine Gefahr für die Beziehung zwischen Enkolpius und Giton dar, nicht unberechtigt, da der Junge sich zwischendurch entschließt, mit Askyltos zu gehen (80). Askyltos mag einen großen Teil des erhaltenen Textstückes für sich in Anspruch nehmen, doch ist er vermutlich ebenso eine vorbeigehende Figur wie Tryphaena, Lichas, Eumolpus und Circe es sind. Er symbolisiert Manneskraft durch sein inguen grande, welches er auch zur Schau stellt und sich dafür bewundern lässt (92,8f.). Auch er ist von Petron mit einem sprechenden Namen versehen worden, „unermüdlich“ und voller Schwung. In sexueller Hinsicht ist er das Gegenstück zu Enkolpius. Dieser Umstand führt öfters zu Streitereien und sorgt dafür, dass die Beziehung zwischen Enkolpius und Askyltos auf einer freundschaftlichen Basis bleibt. Liebe kann es zwischen ihnen aufgrund der extrem unterschiedlichen sexuellen Ausstrahlung nicht geben, da Enkolpius auch hier immer wieder fürchten müsste, Askyltos werde mit seinen Möglichkeiten zahlreichen sexuellen Abenteuern nachgehen und ihm untreu werden. Der doppelte Fluch des Priapus verbietet somit eine feste Beziehung.
Der alternde Dichter Eumolpus, der zwischendurch ebenfalls ein Auge auf den jungen Giton wirft, erzählt angesichts Enkolpius’ Trennungsschmerz nach dessen vorläufigem Abschied von Giton eine Geschichte, die er seinerseits mit einem Knaben erlebt hat. Aus heutiger Sicht mag die Kühnheit dieser Szene darin bestehen, dass ein älterer Mann einen Knaben im Haus seines Vaters verführt hat und dass die beiden deswegen auf Heimlichtuerei bedacht waren. Wir müssen jedoch bedenken, dass das Alter ungeachtet Platons strenger Richtlinie des Bartwuchses kaum ein Problem darstellte, wohl aber die Tatsache, dass es sich bei dem Jungen um einen Freigeborenen handelte. Es war verboten, mit ihm in sexuelle Handlungen zu treten, ohne dass er sich deutlich wehrte oder auf irgendeine Art verkaufte. Insofern rechtfertigt Eumolpus seinen sexuellen Übergriff durch kleine Geschenke, die er dem Knaben im Austausch gibt, ein Taubenpärchen, zwei Hähne und schließlich ein Pferd, wobei ungeklärt bleibt, ob der Junge dieses Pferd am Ende tatsächlich erhält. Der Knabe verfällt hiermit in die Rolle eines Prostituierten, der sich für den Liebesdienst bezahlen lässt, was durchaus rechtens war. Im Fortlauf der Geschichte macht Eumolpus ihm keine Geschenke mehr, sondern bedrängt ihn ohne Gegenleistung, sodass Geheimhaltung unbedingt notwendig ist. Der Knabe hat mit der Aussage „aut dormi, aut ego iam dicam patri“ (87,2) ein Druckmittel gegen den alten Dichter in der Hand, gerät jedoch bald in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, als er selbst wiederholten Geschlechtsverkehr mit Eumolpus fordert und dieser in spitzfindiger Wendung ebenfalls droht, den Vater aufzuwecken.
Eumolpus ist es auch, der auf der Schiffsreise die Geschichte der Matrone von Ephesus erzählt. Sie trauert am Grab ihres verstorbenen Mannes, während ein Soldat die Leichen der Grabräuber, die draußen an Kreuze geschlagen wurden, bewacht. Der neugierige Soldat schaut in die Gruft, entdeckt die Matrone, ist betört von ihrer Schönheit und verführt sie schließlich zum Geschlechtsverkehr in der Gruft des verstorbenen Ehemannes. Vielleicht spielt Petron hier auf das Verkommen der Sitten an. Die Witwe, zunächst noch aufopfernd und treu dargestellt, heftet in einem perfiden Plan später sogar ihren Gatten an eines der Kreuze, von dem der Grabräuber entfernt worden war, um die Unachtsamkeit des Soldaten zu verdecken. Sie wird als durchtriebene und von ihren Leidenschaften gesteuerte Frau dargestellt; Eumolpus sorgt damit bei den zuhörenden Matrosen für lautes Gelächter, Kapitän Lichas sieht sich allerdings an den Ehebruch seiner Frau Hedyle mit Enkolpius erinnert. Lichas und Hedyle verkörpern damit Treue und Monogamie auf der einen, Ehebruch und Unzucht auf der anderen Seite, zumindest, wenn auch hier zwischen Liebe und Sex unterschieden wird. Eine kurze Partie, in der Lichas Enkolpius an dessen Geschlechtsteil erkennt, deutet auf früheren sexuellen Kontakt zwischen den beiden hin (105,9). Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Lichas, vom Namen her wohl einer, der gerne leckt, als Mann eher die treue, ehrenvolle Seite darstellt und Hedyle, vielleicht auf das griechische Wort für „süß“ zurückzuführen, als süße Verführung in weiblicher Gestalt den Ehebruch provoziert.
Giton schließlich verkörpert das Objekt sexueller Begierde. Er ist jung, bietet mit seinen Locken, seinen geröteten Wangen und seinem zerbrechlichen Körper das Ebenbild eines antiken Schönheitsideals, ein Junge mit weiblichem Antlitz, ein puer delicatus. Im Gegensatz zum Transvestiten bei Quartilla, der mit viel Schminke und unpassenden Kleidern versucht, seine Triefäugigkeit zu übertünchen und feminin zu wirken (was auf die Gefährten eher abstoßend als attraktiv wirkt), liegt bei Giton eine natürliche Weiblichkeit vor. Er kann kochen und haushalten und wird dadurch seiner Rolle gerecht. Wir müssen annehmen, dass er als jüngerer Knabe beim Sex die passive Rolle übernimmt, um das Bild zu komplettieren. Er legt generell ein passives Verhalten an den Tag und fühlt sich vielleicht auch deshalb vom offensiven Askyltos zeitweise mehr angesprochen. Giton lässt sich in jeder Hinsicht benutzen, wird aber nicht ausgenutzt: In sämtlichen erotischen Angelegenheiten wirkt er überlegen, räumt sich selbst die Rolle des begehrenswerten Knaben ein, nach unserem Verständnis ein boy toy oder twink, der gleichzeitig nur seinen eigenen Wünschen gehorcht. Ob er bereits in der Lage ist, zwischen Liebe und Sex zu unterscheiden, wird aus den erhaltenen Passagen nicht deutlich. Zu oft ist er der Spielball zweier Parteien, seien es nun Enkolpius und Askyltos oder Enkolpius und Eumolpus, für seine Entscheidungen gibt Giton nur wenige Argumente an. Da er von den Gefährten eher wie eine Handelsware hin- und hergegeben wird, ohne sich recht zu wehren, können wir ihm außer einer gesteigerten Libido kaum tiefere Gefühle einräumen. Selbst wenn er sich um das Wohlergehen seiner Gefährten sorgt und oft unter Tränen für friedliche Einigungen fleht, wirkt jenes Verhalten so dick aufgetragen wie die Schminke des Transvestiten.
In sexueller Hinsicht sind die Satyrica gespickt mit allerlei Spielarten, mit der Hand, mit dem Mund, von vorne, von hinten, in Bordellen, legal und illegal, jeder mit jedem. Genau wie die Mosaiken, Statuen, Becher, Vasen und Bühnendarstellungen aus jener Zeit ist Petrons Roman eine freizügige Darstellung von Abenteuern, die (zumindest zum Großteil) erlaubt waren und das Publikum unterhalten haben. Es ist das Leben im neronischen Italien, das hier geschildert wird, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, Missstände zu beschönigen oder Ausschweifungen unter den Tisch zu kehren. Wir haben einen Abenteuer- und Liebesroman, der gerade durch seine lückenhafte Überlieferung eine turbulente Reise schildert und zu eigenem Miterleben inspiriert.

3          Schluss

Bei erster Betrachtung mögen die Satyrica wie ein munterer Sexroman erscheinen. Nicht jeder Sex in diesem Buch ist allerdings leicht und unbeschwert. Oft muss er, da er gegen die Regeln verstößt, geheim gehalten werden und stellt für die Protagonisten ein Abenteuer dar, ebenso aufregend wie die Abenteuer, die die Gefährten bei Agamemnon, Trimalchio oder zur See erleben. Sex stellt einen nicht unwesentlichen Teil nicht nur der cena Trimalchionis dar, wenngleich in dieser Partie andere Themen im Vordergrund stehen. Es wäre daher ein großer Fehler, die erhaltenen Passagen der Satyrica im Schulunterricht auf die cena zu beschränken und dort nur auf Neureiche, Fressgelage und Vulgärsprache einzugehen. Die Satyrica sind eine so bunte Mischung von Schelmenszenen mit verschiedensten Diskursen, die sich teilweise erheblich von den heutigen unterscheiden. Zumindest im Sinne des New Historicism ist es nicht vertretbar, den Schülern diese vorzuenthalten. Es geht um Geld, um Liebe, Gesetze, Reisen, Aberglauben, Fabelwesen. Es geht um Sex – und das ist auch gut so. Damals wie heute, nur eben anders.

 Sekundärliteratur:

Clarke, J.R.: Ars Erotica. Sexualität und ihre Bilder im antiken Rom, Darmstadt 2009.
Laqueur, T.: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/Main 1992. 
Maclean, I.: The Renaissance Notion of Woman. A study in the fortunes of scholasticism and medical structures in European intellectual life, Cambridge 1980.



post scriptum: Mir ging es im Studium darum, mich auszuprobieren - das betraf auch die Ausgestaltung einer Hausarbeit. So ein flapsiges Werk wie hier sollte allerdings niemand ernsthaft zur Bewertung einreichen, es sei denn, der Professor kennt Dich und Du hast bei ihm einen Stein im Brett.


[1] Maclean 1980, 31.
[2] Laqueur 1992, 98.
[3] Clarke 2009, 63.
[4] Clarke 2009, 164.

Samstag, 27. August 2016

Fünf-Sinne-Entspannungsbad


In den unendlichen Jahren meines Studiums war das Bad nur eine Art Durchgangsstation, rein, Nötigstes erledigen, raus. Duschen dauert bitte nicht länger als fünf Minuten, denn ich habe ja mit meinem Kopf schon wieder Anderes zu tun (zum Beispiel das Essen zu vergessen). Ich bin auch nie auf die Idee gekommen, nicht einmal während meiner Husumer Zeit - denn da hatte ich eine (kleine) Badewanne - mich darin zwecks Entspannung aufzuhalten.

Wenn da nicht liebe Freunde wären, die mich sanft, aber unerbittlich zu meinem Glück antreiben. Zum Beispiel in Form einer Badetablette. Sprudelbad, kennt sicherlich der Eine oder die Andere. Das hatte ganz praktische Gründe: Ich war erkältet, also wurde eines meiner Geburtstagsgeschenke nebst Teeglas mit einem Eukalpytusbad garniert. Ich habe die Gelegenheit genutzt, meine Nase mit ätherischen Ölen ordentlich durchpusten zu lassen und habe dann erst erfahren, welch' nette Effekte ein schönes Bad haben kann.

Nun streben ja viele Menschen nach Perfektion. Genauer gesagt, nicht nach dem Zustand, der ja (hoffentlich) unerreichbar ist. Aber sie perfektionieren, sie verbessern Umstände. Und das tun sicherlich nicht nur Hochbegabte. Aus diesem Grund designe ich meine Wohnung immer weiter, aus diesem Grund modifiziere ich (ganz selten mal) meine Meditationen. Und nun also das Bad, das man mit ganz einfachen Tricks aufmotzen kann, um es mit allen Sinnen genießen zu können.

1. Der Sehsinn: Ich konzentriere mich hierbei nur auf die Badewanne und die unmittelbare Umgebung. Über Baddesign wurde ja gestern erst Geistiges erbrochen. Manch' ein Badezimmer tendiert dazu, wie eine Putzkammer auszusehen - so auch bei mir. Da steht nicht nur Badreiniger, sondern der Wäscheständer, diverse Waschmittel, Putzeimer und Besen und Vieles mehr. Nicht gerade romantisch/atmosphärisch. Also sollte man erstmal das Licht abdunkeln - daher lohnt es sich, das am späten Abend zu machen. Kleine Stimmungslichter oder Kerzen sollten die einzige Lichtquelle darstellen. Wenn der Badezusatz nette optische Effekte bietet, sollte man das ausnutzen: Die Sprudeltabletten, die ich derzeit verwende, färben das Wasser stark ein, je nach Bad rot, violett, grün usw.; außerdem produzieren sie einen äußerst feinen Schaum, der über die Wasseroberfläche gleitet; gleicher Effekt wie bei Rauch: Das langsame Wabern (ohne dieses Wort geht es einfach nicht) beruhigt.

2. Der Riechsinn: Eine Weile habe ich versucht, mit Räucherstäbchen im Bad zu arbeiten, bin davon aber abgekommen: Der Raum ist zu klein, der Geruch dafür zu intensiv und der Rauch verteilt sich nicht wirklich gut. Daher genieße ich es, wenn mein Badezusatz eine schöne Duftnote hat, Frangipaniblüten, karibische Früchte - findet man alles in der gut sortierten Drogerie, Schleichwerbung lasse ich hier einmal außen vor, die von den Dresdner Essenzen würden mich eh' nicht dafür bezahlen.

3. Der Geschmackssinn: Ein Teller mit Früchten, der Geruch und Optik des Bades komplimentiert, saftige Melone, Ananas, süße Mango, all das ist leicht zuzubereiten und passt perfekt. Wobei ich denke, es ist sinnvoller, auf leichte Früchte zurückzugreifen als z.B. auf Bananen. Kenne ich mich noch nicht so aus.

4. Der Hörsinn: Nun, wenn ich das Fenster geöffnet halte, ergötzt mich von draußen der liebliche Klang von Feuerwehrautos, Kranwagen und Handymusik. Alles eher suboptimal, daher sorge ich drinnen für meine eigene akustische Untermalung. Auch hier ist es besonders schön, wenn der Musikstil zu den anderen Faktoren, Farbe/Geruch/Obst etc. passt. Hier gebe ich allerdings gern eine konkrete Empfehlung, Musik von Vibrasphere, im Gegensatz zur ansonsten trancigen Musik des Duos bieten die beiden Selected Downbeats-Scheiben feinste Downtempo- und Ambientmusik.



5. Der Tastsinn: Man kommt vielleicht nicht sofort darauf, wie man den Tastsinn beim Bad anders beeinflussen sollte als mit der richtigen Badetemperatur oder Badeschaum. Tatsache ist, dass viele Substanzen, die der Entspannung dienen, auch das Empfinden der Haut verändern. Das kann ein Glas Rotwein sein, eine Zigarre, ein leckerer Tee, ein Joint, je nachdem, was man denn gern mag. Und bevor hier wieder die Moralapostel losträllern: Gegen das Feierabendbier sagt auch niemand etwas, also Backen halten und einfach mal das Leben genießen.

Man kann also aus einem einfachen Bad ein rundum entpannendes, inspirierendes Erlebnis machen. Ich denke, ich brauche nicht zu erwähnen, in welchem Ausmaß der Effekt verstärkt wird, wenn dem Ganzen ein anstrengender Arbeitstag vorweg gegangen ist und wenn man dem Bad eine ausgiebige Meditation folgen lässt. Meiner Meinung nach ein (fast) perfekter Wochenausklang!

Freitag, 26. August 2016

Passt zusammen! (Farbenspiele)


Witzig, so viel "passen" in den Überschriften zu haben. Ich zerfließe in der Wohnung - soll aber nicht heißen, dass es mir Unbehagen bereitet. Ich fühle mich wohl in diesen Temperaturen.

Eben bin ich in das Badezimmer gegangen und fühlte mich erfrischt, entspannt, passte alles. Woran liegt das? Ein Faktor ist das visuelle Konzept. Ich halte mein Bad in Blautönen (über kurz oder lang kommt auch eine blaue Waschmaschine her), mit ein wenig Grünstichen, Türkis, ein bisschen maritim eben. Der Effekt ist spürbar - sehr subtil, aber vorhanden. Wer sich das Bild genau anschaut, kann erraten, welche Gegenstände die "Farbharmonie" stören.














Ganz genau. Der Pömpel und der Spritzaufsatz der Badreinigerflasche. Passen nicht hinein. Man möge vielleicht noch das Buch erwähnen, aber das stört mich nicht so sehr, da das Violett ja eine Nuance von Blau darstellt (sehr unsauber ausgedrückt, Dr Hilarius, nachsitzen!).

Es sind die kleinen Dinge im Leben... die winzigen Stachel, die einfach nicht passen und das ganze Bild zerstören oder die winzigen Extras, die man kaum wahrnimmt, die aber das Opus zu einem Meisterwerk werden lassen.

Hoch sensibel oder hochbegabt? ;-)

Donnerstag, 25. August 2016

Event verpasst...

Das wird langsam zu einer nervigen Angewohnheit: Ich sehe eine Veranstaltung, die spannend klingt, sei sie nun von Facebook vorgeschlagen oder woher auch immer die Idee kommt. Ich notiere sie mir vielleicht sogar im Kalender. Und wenn es dann so weit ist: "Ach neee, soll ich da jetzt hin? Ich könnte auch so viel Anderes machen. Eigentlich hab ich keine Lust. Oder?" Und werd dann zum Stubenhocker. Und das Nervigste ist, wenn ich es danach auch noch bereue - was sehr oft der Fall ist. Jüngstes Beispiel möge für den heutigen Blog herhalten:

Im Frühling diesen Jahres ist im Carl-Zeiss-Planetarium der Stadt Bochum etwas los gewesen. Martin Nonstatic, Künstler aus der elektronischen Downtempo-Musikszene, hat dort aufgelegt. Woher wusste ich das? Also, mein Lieblings-Plattenlabel derzeit ist der französische Laden Ultimae Records, Garant für extrem hochwertige, anspruchsvolle, komplex abgemischte Entspannungsmusik - Downtempo eben. Die Seite ist bei mir gebookmarked, ich inhaliere jedes neue Release von denen geradezu. Sie haben einige Künstler (weltweit) unter Vertrag, darunter die von mir immer wieder gepriesenen Carbon Based Lifeforms, Aes Dana, Solar Fields, man findet dort die überragende Reihe Fahrenheit Project und eben auch Martin Nonstatic.

Sie notieren regelmäßige Updates auf ihrer Homepage und haben dort das beschriebene Event angekünfigt. Und ich hab überlegt, hmmm, mache ich das, extra dafür nach Bochum fahren, und das allein, ach neee, da bin ich lieber wieder Stubenhocker. Dieser Tage erscheint dann der musikalische Mitschnitt Nebulae - Live at the Planetarium als FLAC und auf CD, habe ich natürlich direkt geordert und gestern Abend schon mal die FLAC-Version bei einer Meditation gehört. Und mir ist ein Kronleuchter aufgegangen, was ich mir da habe entgehen lassen.

Man möge sich das einmal vorstellen: Ein Abend im Planetarium, in bequemer Rückenlage, die Augen geschlossen oder der Blick in den projizierten Sternenhimmel gerichtet, und dazu diese sehr wundervolle Musik:


Dafür würde ich definitiv nach Bochum fahren, und daher habe ich mir vorgenommen, mal etwas mehr aus dem Quark zu kommen. Arsch aufschwingen, alles "Nötige" zusammenpacken und hin! Ich bin von der Musik hellauf begeistert, sind viele bekannte Stücke in neuer Abmischung in der Setlist und ich habe mich gestern Abend dabei sehr wohlgefühlt.

Ich kann jedem, der die entspannteren Seiten des Lebens genießt, das Label und die gesamte Musikrichtung nur empfehlen. Nächstes Mal bin ich dabei, und bis dahin werde ich noch des Öfteren den Mitschnitt anhören. Samstag steht für mich ein Event an, und diesmal ziehe ich es durch (es sei denn, es regnet); das Schleswig-Holstein-Magazin veranstaltet im Rahmen seiner Sommertournee das Abschlussevent abends im Hansa-Park. Das bedeutet, dass ich am frühen Nachmittag losfahre, mir ein paar Runden in den Achterbahnen gönne (das ist in der Abenddämmerung besonders schön, gerade im Kärnan). Dann ab zur Bühne, Musik und die Atmosphäre genießen. Dann später abends nach Hause und eine komplette Wellness-Meditationsnacht anschließen. Besser geht es für mich nicht und ich freue mich sehr darauf!

post scriptum: "Alfi wollte wieder das Klo fressen." So ohne Zusammenhang klingt das seltsam... Juckt. Lecker.

Mittwoch, 24. August 2016

Essen vergessen





Plötzlich sieht die Welt aus wie durch einen Monochrom-Filter gesehen, kurz vor dem Umkippen


...und ich sitze auf dem Sofa und lasse mir von einem zickigen schwebenden Buch den Stinkefinger zeigen, es fliegt davon und davon fliegt auch meine Aufmerksamkeit, ich drehe den Kopf und merke, wie er sich erst Sekunden später mitdreht. Wie ein Effekt im Film, schwierig zu beschreiben. Weiße, graue Knisterlichter, ein Kribbeln in den Armen und Beinen, es ist mal wieder soweit.

Ich habe vergessen zu essen.

Ich weiß nicht, ob das ein hochbegabtes Ding ist oder ob das normalbegabten Menschen auch passiert. Da stecke ich mit meinen Gedanken sonstwo, ein stream of consciousness zieht sich durch die ersten Tage dieser Woche, der in etwa so klingt:

Ohh, der Sommer kommt zurück... endlich wieder etwas Sonne ins Herz lassen... Sommerferien sind etwas Tolles... denk dran, die Kaninchen zu füttern...  (NICHT zu futtern!)... schau mal, da läuft Flo, ich freu mich so, ihn zu sehen... wo ist der Postbote... ich brauche eine neue Melone... lohnt es sich für die restlichen Sommertage noch, die Fenster mit Spiegelfolie zu bekleben... Ja, Herr Wusterbarth, so eine Lebenseinstellung, wie ich sie hab, kennt man eher aus dem Film... nachher noch den Wellness-Blog schreiben... bisschen an der PS4 spielen...

Und dann sitze ich da und klicke mich gerade durch einen Videospiel-Dialog, als plötzlich oben beschriebenes Gefühl auftritt. Okay, der Kreislauf sackt ab. Ich kenne das. Ich habe nicht genug gegessen, daher ist instant-radikal-Zwangsernährung angesagt (Baguettebrötchen mit Leberkäse und dazu Schokodragees anyone?), um den Kreislaufkollaps zu verhindern.

Es ist mir schon öfters passiert, gerade wenn ich mich für eine Sache begeistere, dass mein Gehirn vollkommen auf dieser Schiene fährt und an nichts Anderes mehr denkt. In Freizeitparks zum Beispiel, oder wenn ich ein neues Videospiel starte. Meine ganze Aufmerksamkeit gehört dem Moment, alles Andere ist unwichtig. So auch Essen. Das wird dann zur Nebensache, Zeitverschwendung, wie auch immer.

Und manchmal provoziere ich das ja auch bewusst. In den Phasen, in denen ich asketisch lebe (@Holzdorf: Es fühlt sich *wirklich* erstaunlich an), gerät Essen in den Hintergrund. Glücklicherweise habe ich daraus gelernt, und somit stellen diese Kreislauftiraden keine Bedrohung mehr dar. Ich weiß, wenn die weißen Sternchen kommen, wenn der Kopf bei schnellen Drehungen langsam hinterherwabert, dann sollte ich sofort etwas essen. Auch wenn es dauert und wertvolle Zeit kostet. Schutzmechanismus.

Liebe Eltern, die Ihr das lest, Ihr kennt das ja und Ihr kennt mich ja. Es ist tatsächlich so, ich kann nichts dagegen machen. Aber keine Sorge, ich habe für solche Fälle immer etwas zu Essen und Trinken im Haus. Und keine Sorge, mir geht es gut. Ich hatte das Erlebnis heute mal wieder, aber seid versichert, ich kann damit gut umgehen. Ich kenne meinen Körper mittlerweile ein bisschen.

Ich könnte mir vorstellen, dass es tatsächlich mit der Hochbegabung zusammenhängt - Essen ist manchmal irrelevant, unwichtig, Nebensache. Das vergisst man man gern mal.

Natürlich könnte ich jetzt den ursprünglich geplanten Blogeintrag einfach hier dranhängen. Aber der läuft ja nicht weg, wir haben keine Eile, und ich möchte, dass der seine verdiente Bühne bekommt. So, und jetzt hab ich Schluckauf vom schnellen Reinstopfen.

post scriptum: MEDITATIONSKILLER!!! Ich liege wie gewohnt nackt und vollkommen regungslos auf meiner Liegewiese. Nach etwa zehn Minuten feinster Musik drifte ich in tiefere Gedankenreisen ab. Es wirkt, als würde ich meinen Körper verlassen ("out of body experience"). Ich genieße die Meditation, finde innere Ruhe. Ich spüre jeden Lufthauch, der über meinen Körper streift, ein prickelndes Gefühl, wenn sich ein Schweißtropfen bildet und herunterläuft. Prickelnd und kühlend. Ich verharre bewegungslos. Doch da! Was verspüre ich da auf meinem Körper? Ich kann es nicht genau ausmachen. Ein nicht einzuordnendes Kribbeln im Lendenbereich (packt Eure versauten Gedanken weg!), scheinbar irrational - es ist eine Fliege im Zimmer. So eine Scheiße. Die ganze Konzentration, sie ist dahin. Die Bewegungsmuster der Fliege sind unberechenbar und deswegen kann ich nicht einfach weiter meditieren. Zum Glück ließ sich das Problem schnell lösen und es war erst der Anfang der Meditation. Ich hasse es, wenn die tiefe Stille unterbrochen wird.

Dienstag, 23. August 2016

Hochbegabte Entgleisungen





Zugunglück am Gare Montparnasse, 1895


Da ist so ein Gefühl, das sicherlich jeder in irgendeiner Form kennt. Ich habe meinen Tag geplant, einigermaßen stringent, das passt alles zusammen, wunderbar. Timing ist perfekt, alles ist vorbereitet, es kann losgehen. Und dann kommt etwas dazwischen. Etwas, das meine sorgfältig getimetableten Gedankenzüge entgleisen lässt. Ohne jetzt konkret zu werden - das ist ein weit verbreitetes Gefühl, oder? Schritt eins klappt nicht, oder verzögert sich, was auch immer. Und man sieht, wie eine Dominokette, alles weitere für den Tag Geplante umstürzen, und die wunderbare Laune, die eben noch da war, angefeuert durch Sonnenschein und Sommerfeeling, ist sofort im Eimer. Im Prinzip ist der ganze Tag schon gelaufen.

Und wenn man das nun kombiniert mit dem Umstand, dass ein Hochbegabter ein bisschen zügiger denkt - da entgleist der Zug nicht nur wesentlich schneller, er donnert auch in die nächste Begrenzungswand, reißt sie komplett mit ein und tötet sämtliche Anwohner - außerdem hat er radioaktives Material geladen und verseucht das ganze Gelände auf Jahrtausende hin, und gleichzeitig sorgt er dafür, dass 90% der Wähler ihr Kreuz bei der AfD setzen, in etwa wie der cordyceps-Pilz das Gehirn von Insekten infiziert und sie dazu bringt, seltsames Verhalten an den Tag zu legen, bevor er sie dann krepieren lässt und aus ihrem Körper hervorbricht, um seine Sporen in der Welt zu verteilen. Und David Attenborough filmt das Ganze und erst in dem Moment wird einem bewusst, dass man heute fettige Haut hat.

So in etwa läuft eine hochbegabte Entgleisung ab, der Kollateralschaden ist enorm, und das alles geschieht in einem wahnwitzigen Tempo. Ähnliche Entgleisungen findet man übrigens bei Autisten, weswegen spontane Planänderungen für sie ein Graus sind. Nun ja, so eine Entgleisung habe ich heute mal wieder erlebt, und es hat nichts damit zu tun, dass ich ihm auf der Straße begegnet bin; wir haben uns angelächelt, zugewunken und sind weitergegangen (Geht es Dir auch so, dass sich das alles auf einmal wieder ganz warm, ganz direkt und unmittelbar anfühlt? Versteh' jemand diese Menschen...), nein, es ging um andere kaum wahrnehmbare Kleinigkeiten, die mein Drehbuch für heute versaut haben. Umso interessanter, wenn dann enorm schnell mit einfachsten Tricks ein neuer Zug auf die Strecke gesetzt werden kann, with a little help from my friends, und schon ist alles wieder im Lot. Dazu nachher eine erfrischende Dusche oder ein kühles Bad mit Südsee-Aroma, mal schauen, und dann gehts wieder.

Also, bei Hochbegabten geht das Entgleisen wesentlich schneller und spektakulärer - aber es gibt auch eine gute Chance, einen neuen Zug kurz darauf fahren lassen zu können. Was für ein Verschleiß!

Montag, 22. August 2016

Spice Up Your Apartment: Agarbathi


Heute ist der Titel des Beitrags mal ganz wörtlich zu nehmen. Es geht darum, der eigenen Wohnung ein bisschen Würze zu verleihen. Unlängst hatte ich mit dem Dämmerlicht über die visuelle Wahrnehmung der Wohnung geschrieben, heute geht es um das olfaktorische Element. Agarbathi (in verschiedenen Schreibweisen) ist die indische Bezeichnung für Räucherstäbchen - ach, und da geht das Chaos schon los.

Es gibt unzählige Substanzen, die beim Verbrennen bestimmte Gerüche erzeugen, Tabak zum Beispiel. Allerdings ist Zigarettengeruch in der Wohnung nicht meine Vorstellung von Wellness zuhause. Daher verwende ich spezielle Räucherware. Es gibt Sachen, die man direkt anzündet und verbrennt, es gibt aber auch Sachen, die man auf glühende Kohle legt und die dann sozusagen "indirekt" verbrennen. Das können Blätter sein, Hölzer oder Harze, die Palette ist reichhaltig.

Ich habe mich im Laufe des Studiums für Räucherstäbchen entschieden. Ich betrachte sie als einfache Weise, der Wohnung eine bestimmte Duftnote zu verleihen. Und das macht tatsächlich eine ganze Menge aus für das Wohlbefinden, auch wenn man es nicht immer aktiv wahrnimmt. Man entspannt sich, ist weniger gestresst. Wenn man schon die Möglichkeit hat, dem Riechsinn in der Wohnung Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, dann sollte man das ruhig tun.

Ganz klar: Es gibt Menschen, die bekommen tränende Augen vom Rauch, und noch viele Unverträglichkeiten mehr. Das sollte man vorher abklären. Und dann heißt es immer, ach herrje, Räucherstäbchen sind doch nicht gut für die Gesundheit. Abgesehen davon, dass es auf die Sorte ankommt (japanische Räucherstäbchen z.B. enthalten keinen Holz-Glimmspan und sind daher oft besser verträglich), so sträube ich mich ein wenig gegen den "Fetisch Gesundheit", wie Gundula Barsch die Situation in ihrem Buch zur Suchtprävention nennt. Besessen davon, immer gesund zu leben - nun, sterben werden wir eh alle einmal. Und ich habe vor, das Leben aus vollen Zügen (und gern auch einmal in einer leeren S-Bahn) zu genießen.

Japanische Räucherstäbchen, wie schon gesagt, besitzen keinen Holzspan, auf den die Kräuterpaste aufgetragen wird. Die japanischen Aromen sind in der Regel wesentlich milder als zum Beispiel indische oder tibetische. Ich mag es gern etwas knalliger, daher finde ich sie nicht so reizvoll. Wer aber seine Wohnung ein bisschen aufmotzen möchte, ohne dass der Duft "aufdringlich" wirkt, ist hiermit sehr gut beraten.

Tibetische Räucherstäbchen wirken für die daran nicht gewöhnte Nase "muffig", "dreckig", "erdig". Es sind Düfte, die eine warme Atmosphäre erzeugen, ich finde, das passt ganz gut zu der Kälte in Tibet. Ich habe zwar diverse Sorten davon, verwende sie aber nur selten, weil sie mir oft zu "schwer" sind. Balinesische Räucherstäbchen haben auch diese erdige Note, sind allerdings leichter als die tibetischen.

Ich arbeite mit indischen Räucherstäbchen. Vielen Menschen sind ihre Düfte zu intensiv oder zu süß, ich kann das gut nachvollziehen - aber wie schon gesagt, ich habe es gern etwas plakativ. Bleibt noch die Frage, welche Duftnoten man gern mag. Ich halte nicht viel von den "Supermarkt-Räucherstäbchen", die nach Seife, Chemie und Industrie riechen. Ich bestelle lieber direkt aus Indien und habe mich im Wesentlichen auf drei verschiedene Düfte festgelegt.



Nag Champa-Räucherstäbchen dürften wohl die bekanntesten Räucherstäbchen der Welt sein. "Die Blauen". Es handelt sich um einen warmen, süßlichen Duft, den es je nach Hersteller in unterschiedlicher Intensität gibt. Von "eher dezent" bis "sehr süß":

Shrinivas Sugandhalaya - Vijayshree - Goloka - Maya


Nag Chandan/Sandelholz ist ein nicht ganz so süßer Duft, weltweit verbreitet, ich kann ihn gar nicht gut beschreiben. Ich nehme eine ganz kleine herbe Note wahr, die ich sehr beruhigend finde. Verglichen mit Nag Champa sind diese Räucherstäbchen deutlich weniger süß.


Adlerholz/Aloeholz verwende ich erst seit etwa einem Jahr. Ich habe herausgefunden, dass Adlerholz eines der teuersten Räucherhölzer weltweit ist und es scheint sehr beliebt zu sein - daher habe ich mir Goloka Goodearth bestellt, eine Duftmischung mit Adlerholz. Ich mag den Duft sehr gern, gerade weil meine Nase sonst nur an Nag Champa gewöhnt war; der Duft ist deutlich leichter, frischer, ein Hauch von Zitrus. Gute Sorte für die, denen die anderen Düfte zu süß sind.

So, jetzt werde ich mal in die nächste Meditation gehen und dabei den Duft der Räucherstäbchen genießen. Das ist Wellness pur.

post scriptum: Dat is pure Edhergighie!

Sonntag, 21. August 2016

Identität - Die Geschichte von Timo und Julian (part 8)




Disclaimer: Diese Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der Autor sicher nicht fähig.


Identität – die Geschichte von Timo und Julian


part 8

„Die Sahne!“ rief ich.
„What?“ fragte Ju.
„Wir erzählen Cory einfach, dass die Sahne im Kofferraum aufgeplatzt und ausgelaufen ist und wir die Sauerei erstmal beseitigen müssen.“
„Aber warum sollte die Sahne aufgeplatzt sein?“
„Sowas fragt doch keiner. Keine Ahnung, weil da Sachen draufstanden. Genau, wir haben die Getränkeflaschen aus Versehen draufgestellt.“
Julian grübelte. „Okay“, meinte er schließlich, „machen wir so, ich hoffe mal, dass sie uns das abkauft.“
„Sieh es mal so, es ist ja nur zu ihrem Besten, damit sie nicht traurig ist, wenn sie erfährt, dass wir schon eine Runde Spaß ohne sie hatten. Schau mich mal an!“
Wir hatten etwa die Hälfte des Heimwegs zurückgelegt. Wir blieben kurz stehen, Ju schaute zu mir und ich untersuchte seine Pupillen.
„Okay, deine Augen sind ein bisschen blutunterlaufen und glasig, und deine Pupillen sind winzig klein, das ist normal bei Opioiden.“
„Macht nichts, wir erzählen ihr, dass das von gestern kommt und noch Katerstimmung ist.“
„Stichwort Katerstimmung: Wie geht’s dir denn mittlerweile, etwas besser?“
„Ja, und wie, seitdem die Wirkung vom Tee da ist, geht’s mir echt super.“
„Sehr schön, noch ein positiver Effekt. Weißt Du, das ist auch einer der Gründe, warum ich keinen Alk mehr trinke – die Nachwirkungen sind mir zu unangenehm. Gibt viel schönere Substanzen.“
Den Rest des Wegs legten wir schweigend zurück. Genau genommen war das erstaunlich, weil wir so viele Gesprächsimpulse gesetzt hatten; wir hätten weiter über die Teewirkung reden können, wir hätten auch schon mal unseren Trip ein wenig planen können, aber so hing jeder seinen Gedanken nach. Julian zog sein Smartphone aus der Hosentasche und rief Cory an, um ihr Bescheid zu geben. Ich konnte mir das Lachen dabei nicht verkneifen.
Schließlich waren wir zurück beim Auto. Wir luden die Zutaten für den Abend in den Kofferraum und stellten die Kiste mit den Teeutensilien daneben; wir deckten sie ab, damit niemand den Inhalt sehen konnte.
„Hoffentlich werden wir nicht von der Polizei angehalten“, meinte ich mit einem Zwinkern zu Ju. Dieser zuckte unmerklich zusammen.
„Hmm, was würden wir denn dann machen? Könnte das irgendwie gefährlich werden?“
„Also, für dich schon mal gar nicht. Du bist ja nur Beifahrer. Und ich würde dann sagen, dass ich ein Medikament gegen Husten genommen habe, die enthalten öfters Opiate. Aber ich werd mal zur Sicherheit unauffällig fahren.“
Ju schien dadurch nicht allzu beruhigt zu sein.
„Bleib ganz locker, genieß die Wirkung, passiert schon nichts.“
Als wir auf die Schnellstraße Richtung City abgebogen waren, schaute Julian wieder zu mir.
„Also ich bereue nicht, dass ich das gemacht habe. Danke für die Einladung, sozusagen!“
„Nix zu danken.“
„Doch – du hast mich gut beraten und ich habe das Gefühl, dass du auf mich aufpasst.“
„Ja, aber das ist doch selbstverständlich“, antwortete ich ihm.
„Naja, ich hätte nicht gedacht, dass wir beide mal was zusammen unternehmen.“
„Wieso? Ist der Gedanke so abwegig?“
„Ich erinnere mich noch ans Theater; ich hatte immer zu dir aufgeschaut, irgendwie hattest du immer den Masterplan und alle haben auf dich gehört.“
„War das so? Ich bekomme so was nie mit…“ Und das entsprach tatsächlich der Wahrheit. Ich bin ein Egozentriker mit Tunnelblick. Mich interessiert nicht mehr, was Andere über mich denken. Das war auch mal anders, aber ich bin froh, dass diese Phase vorbei ist. Es ist einfach zu kompliziert, sich den Vorstellungen Anderer anzupassen, nur um es ihnen Recht zu machen. Ich habe das jahrelang versucht und irgendwann gemerkt, dass ich nur selbst dabei draufzahle.
„Ja, du wirktest so erwachsen. Ich hab zu dir aufgeschaut, hab mich aber nicht getraut, dich anzusprechen.“
Jetzt ernsthaft? Ich konnte das in dem Moment nicht so richtig glauben.
„Du kannst mich ruhig jederzeit ansprechen. Ich koche auch nur mit Wasser, und in diesem Fall war ich es, der sich nicht getraut hat, dich anzusprechen.“
„Warum denn nicht?“
„Ich habe ziemliche Probleme damit, neue Leute kennenzulernen. Von mir aus gehe ich eigentlich nie auf Andere zu. Auch nicht, wenn sie mir sympathisch sind, ich hab da eine Blockade, meistens.“
„Na dann fühle ich mich geehrt, dass es bei mir anders ist!“
„Bei dir wirkt alles so unkompliziert, ich glaub, das tut mir ganz gut.“
Noch etwa zehn Minuten, bis wir bei Cory waren.
„Und du sagst, dein Mitbewohner ist auch schwul?“
„Jep“, antwortete Ju, „ich hab damit kein Problem.“
„Hast du schon mal einen Mann geküsst?“ fragte ich dreist. Wieder mal die Drogen.
„Nein… wie kommst du darauf?“
„Also Reg meinte nach dem Treffen bei ihr, dass du mindestens bi sein dürftest. Aber sag ihr bloß nicht, dass ich das gesagt hab.“
„Keine Sorge. Mindestens bi… das ist ja interessant…“
Den Rest der Fahrt blieben wir still, jeder hing seinen Gedanken nach. Oder genoss weiterhin die Wirkung des Tees, oder beides.
Endlich bogen wir in die Münstersche Straße ein, in der Corys Eltern wohnten. Zur Zeit hatte sie sturmfrei. Ein wenig gestresst – weil ich mich so sehr auf den Verkehr konzentrieren musste – blickte ich mich um, auf der Suche nach einem Parkplatz. Da war nichts zu machen… doch, am rechten Fahrbahnrand entdeckte ich eine Lücke, kaum größer als mein Wagen. Na toll. Ich hasse seitliches Einparken, und dann auch noch in diesem Zustand!
„Ju, ich kann nicht so gut einparken, ist die Lücke nicht viel zu klein?“
„Nein, das müsste passen. Warte, ich steig aus und lotse dich rein.“
„Aber nicht lachen, wenns nicht gleich klappt!“
„Ach was“, sagte Ju, stieg aus und gab mir Anweisungen. Dabei musste er selbst aufpassen, dass er nicht das Gleichgewicht verlor. Oh mann. Was würde Cory bloß sagen, wenn sie uns dabei sähe? Und dennoch: Mit einigen Zügen zuviel, schafften wir es mit Teamwork am Ende doch, den Wagen in die Lücke zu bugsieren. Julian holte die Box mit den Zutaten aus dem Wagen, ja, ich gaffte dabei wieder auf seine Arme. Wir gingen zu Corys Haustür, er stellte sich hinter mich – damit sie nicht gleich in seine Augen blicken musste – und ich klingelte.
Und wenn ich ehrlich bin, habe ich gar keine Lust, von dem Abend zu erzählen. War für mich eine totale Pleite. Der Anfang war ja noch okay, wir bereiteten alles für das Essen vor und plauderten über belanglose Dinge. Zwischendurch saßen wir um den Wohnzimmertisch herum. Cory ging ab und an in die Küche, um nach dem Essen zu sehen; währenddessen warfen Ju und ich uns vielsagende Blicke zu. Irgendwie war es ganz witzig, dass wir beide nen kleinen Insider zwischen uns hatten.
Das Essen war wunderbar – erst danach begann das Gespräch sich zu wenden. Cory und Ju sprachen über seine Exfreundin, was alles schiefgegangen ist und wie toll es doch vorher war. Und Cory berichtete von ihren eigenen Erlebnissen. Ich wurde ziemlich still. Nicht ernsthaft, oder? Ich fühlte mich ertappt… ertappt, wie ich eifersüchtig wurde. Aber worauf denn eifersüchtig? Dass ich bei ihrem Gespräch nicht mitreden konnte? Ich schaute ins Nichts und sagte überhaupt nichts mehr.
Eifersüchtig, dass Cory nur mit Ju redete? Nein. Ich wusste, dass Cory meine beste Freundin war, alles im grünen Bereich. War ich… war ich ernsthaft eifersüchtig auf Julian? Wollte ich tatsächlich lieber mit ihm allein sein? Aber wir hatten doch heute schon eine schöne Zeit zu zweit. Mensch Timo, was ist Dein verdammtes Problem, dachte ich und blickte auf den Boden. Ich bekam zu diesem Zeitpunkt überhaupt nichts mehr von ihrem Gespräch mit. Es war kurz vor Mitternacht und ich wollte nur noch nach Hause. Und zwar am liebsten allein. Ich hatte Angst vor der Rückfahrt mit Ju. Was, wenn er mich fragte, warum ich so abwesend war?
Die Zeit wollte einfach nicht vorüber gehen. Ich gähnte ein paar Mal demonstrativ, in der Hoffnung, dass wir aufbrechen konnten – aber mein wortloser Appell blieb unbemerkt. Die Wirkung des Tees war bei mir vollkommen verflogen und übrig blieb nur dieses dumpfe, etwas traurige Gefühl.
Endlich, gegen zwei Uhr, entschieden wir uns, aufzubrechen. Ich nahm Cory in den Arm, bedankte mich für den schönen Abend – so heuchlerisch war ich lange nicht mehr gewesen, aber ich wollte niemandem den Abend verderben. Ich hatte nur wenig gegessen, beim Aufstehen setzte mein Kreislauf für einen Moment aus, aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, ich wollte nur noch nach Haus. Allein sein.
Julian und ich schwiegen auf der gesamten Rückfahrt. In Frohnau angekommen stieg er aus, wir umarmten uns flüchtig.
„Ja, dann komm gut nach Hause, und ich würde sagen, wir schreiben uns“, meinte er.
Ich drehte mich um. „Jo, machen wir“, antwortete ich, ohne ihn anzuschauen. Ich stieg ins Auto, startete den Motor und verließ den Vorort. Ich versuchte, nicht zu denken. Leider funktioniert das bei mir nicht.

Der Morgen danach, Email an Reg:

„Hi Reg!
Drei Stunden geschlafen, länger ist schwer, wenn man sich wie Trash fühlt.
Ich... setz kurz nen Tee auf. Mein Körper is vollkommen im Eimer und ich muss meinen Magen mal beruhigen. Moment...
Wasser heizt grad an. Okay, also eine kleine Beschreibung von gestern. Autofahrt hat super gepasst, Stadtring war exakt bis zu meiner Abfahrt frei, war auf die Minute genau (oder so ungefähr) bei Ju. Der, total verkatert - was jetzt nicht die Überraschung war, aber wir kennen ja Katermedizin, eine Koffein, zwei ASS und eine halbe Emesan, er war etwas überfallen, aber egal. Und er war sowieso ziemlich aufgeregt, was denn nu passieren würde. Naja, wir kochen also den Tee - der Beutel hat echt ne seeeeeeeehr gute Qualität. Whatever, also runter damit, und dann sind wir in nen Park gegangen, war echt einfach schönes Wetter und wir waren total ungestört. Moment, muss mal eben in die Küche...
Naja, wir haben dann nebeneinander gelegen, weil sitzen einfach zu unentspannt war, und ihn hats richtig weggebeamt. Er ist sehr entspannt und happy geworden und ich auch, und wir haben viel erzählt. Und er hat viele echt sehr sehr nette Sachen gesagt. Hätte er vielleicht lieber nicht machen sollen, aber was hätte das geändert. In dem Moment war einfach alles schön, und ich mein das aus seiner Perspektive, für mich war das ja so gesehen nichts Neues. Ein, zwei Sätze hab ich Dir ja getickert... und es war 18 Uhr, irgendwann um viertel nach hab ich ihn dann gefragt, ob wir mal los sollen, wegen Cory halt... er meinte, ach, lass uns doch noch nen Moment hier bleiben. Und für die Checkliste, ja, ich hab ihn von oben bis unten angegrabscht, und das war SEINE Idee. Und das war schön. Und wir haben ziemlich viel Klartext geredet. Und uns beiden war klar, dass der Moment zerbrechen würde, wenn wir jetzt aufstehen, dass er dann einfach zu Ende ist. Wie das nun mal so ist. Aber es führte ja kein Weg drumherum. Du hattest Recht. Es hätte zu zweit sein sollen. Und ganz ohne irgendjemanden sonst. Ohne das Gefühl, dass der Moment aufhören muss, dieses Gefühl, was wir beide da hatten (auch seine Worte). Ich hab mit Jan damals stundenlang zusammengelegen. Aber wir haben Cory um 45 Minuten versetzt, ne halbe Ewigkeit, das muss reichen. Ju so dermaßen abgedichtet, der sah echt - lustig aus…
Und die Autofahrt war eigentlich auch noch schön. Weil er immer noch sehr schöne Sachen gesagt hat. Und auch bei Cory wars nett. 22 Uhr gings los, oder etwas später. Timo wieder stocknüchtern und dann haben erst wir geredet, dann sie. Ich hab fast gar nix mehr gesagt. Und es war ausnahmsweise mal nicht die Eifersucht, glaub ich zumindst. Es war der Umstand, dass sie mit allem, was sie da besprochen haben, mein Leben, so wie es ist, kurz und klein geschlagen haben. Teils einfach unbewusst und in keinem Fall böse gemeint. Und ich sollte nicht so egoistisch sein. Denn für Ju war es wichtig und es hat ihm gerade gut getan. Aber ich hab ab Mitternacht gebetet, dass ich endlich wegkomme. Bis zwei Uhr hats dann noch gedauert.
Und...
Und das war eigentlich auch schon mehr, als ich erzählen wollte, und ich mach jetzt Schluss, weil ich schon wieder anfange zu heulen. Ich wollte anfangen, irgendwas für die Schule zu tun, aber ich werd mich heute einfach nur noch hängen lassen.
Sorry für die ganze Texterei. Und die ganze Ich-Bezogenheit. Vielleicht hilft das Dämpfen gleich. Ich zieh das Telefon heute raus.
Liebe Grüße, Timo
PS.: Danke nochmal für den Tipp mit dem Glückstagebuch, ich arbeite jetzt diszipliniert dran. Und komm auf Ideen, hoffentlich, dass man ja so einen Nachmittag einfach wiederholen kann. Und ohne Cory. Nur wir zwei. Und auch das war seine Idee."

         fortsetzung folgt...