Was ist real und was nicht? |
Später Nachmittag, es klingelt an der Tür. Ich erwarte niemanden - normalerweise bedeutet das, dass ich mich totstelle und warte, dass wer-auch-immer wieder weggeht; ich hasse Überraschungen. Und trotzdem öffne ich, denn mir fällt ein, was das sein könnte. Und ein paar Minuten später halte ich Stay in der Hand, den Film von gestern. Wow, vor achtzehn Stunden bestellt und schon halte ich die Bluray in Händen, manchmal ist es gruselig, wie schnell Hermes sein kann. Aber ich wollte diesen Film unbedingt haben, denn er ist ein Vertreter eines meiner Lieblingsgenres, Filme, die man mindfuck movies nennen könnte.
Solche Filme liebe ich ja:
Filme, die sich nicht innerhalb der ersten fünf Minuten schon
komplett erschließen lassen; solche, in denen nicht bereits nach
zehn Minuten der gesamte kommende Handlungsverlauf klar ist und das
Ende sehr vorhersehbar schon feststeht; Filme, in denen ich eine
gewisse Arbeit zu leisten habe, in denen ich mir das Puzzle des Plots
und des Charaktergeflechts in meinem eigenen Kopf zusammensetzen muss,
und in denen auch in der zweiten Hälfte noch neue Aspekte
hinzukommen; Filme, bei denen am Ende Fragen offen bleiben. Filme, die lange über die Schlusscredits hinaus nachwirken.
Mysterythriller, Science
Fiction, psychological horror, alles, was sich unter der Überschrift
„Mindfuck Movie“ einsortieren lässt. Das Paradebeispiel, das ich
grundsätzlich nenne, ist David Lynchs Mulholland Drive (2001), aber
ich freue mich immer sehr, wenn ich einen neuen Film der Sammlung
hinzufügen kann. Viele interessante Filme aus dieser Kategorie sind
vollkommen an mir vorbeigegangen, und deswegen habe ich Google vor
einigen Tagen einmal befleißigt, mir etwas zu den best mindfuck
movies zu sagen.
Ich bin dabei, diese Filme
derzeit abzuarbeiten – das sorgt dafür, dass zwei Komödien, die
ein Schüler mir ausgeliehen hat, warten müssen. Sorry, aber mein
eigener sturer Kopf setzt sich dann durch. Und so bin ich gestern zu
dem Film Vanilla Sky (2001) mit Tom Cruise gekommen, der zwar nett
war, aber eher wie eine Fingerübung wirkte. Und der Cruise-Charakter
war mit seinem Narzissmus wirklich sehr abstoßend. So war es schön,
ab der Hälfte des Filmes immer weiter verwirrt zu werden, und ich
liebe es, wenn Tom Cruise eine Abreibung bekommt, aber der Film ist
nicht so intensiv in meinen Gedanken hängen geblieben wie zuvor Stay – der um gut eine halbe Stunde kürzer ist und mit knapp
über neunzig Minuten die perfekte Dauer für solch' einen Rätselfilm
hat.
Außerdem spielt Naomi
Watts mit, in die ich seit Mulholland Drive verliebt bin, und Ryan
Gosling, der auch in ein paar guten Filmen aufgetaucht ist (Drive,
Blade Runner 2049), und auch Ewan McGregor wirkt sehr sympathisch in
diesem Mysterythriller um einen Kunststudenten, der seinem
Psychologen anküdigt, sich in drei Tagen umbringen zu wollen.
Regisseur Marc Forster gibt vom Anfang an visuelle und akustische
Hinweise, die dafür sorgen können, dass der Zuschauer ein gutes
Stück vor dem Film bei der Auflösung ankommt; ich konnte genießen,
wie viele clues in dem Film auftauchten und wie detailverliebt
gearbeitet wurde. Das war echt cool und den möchte ich bald noch
einmal sehen.
Ich pinne diesen Beitrag links in den Blog, wer weiß, vielleicht hat ja noch jemand ein ähnliches Interesse und findet hier ein paar Anregungen:
Memento (2000) über einen Mann,
der den Mord an seiner Frau trotz seiner Amnesie aufklären will
The Invitation (2016) über eine
sehr seltsame, surreale Dinnerparty
Eraserhead (1977) über die
Ängste bei'm Vaterwerden
The Game (1997) über ein
unheimlich passendes Geburtstagsgeschenk für ein reiches Arschloch
Solaris (1972/2002) über einen
Planeten bzw. ein Meer, das ein Bewusstsein besitzt und unsere
Erinnerungen rekreieren kann
Timecrimes (2007) über einen
Mann, der zufällig in einen Mord verwickelt wird und in der Zeit
zurückreist, um ihn zu verhindern
Predestination (2014) über einen
Mann, der Verbrechen verhindern soll, bevor sie geschehen – per
Zeitreisen (ähnlich wie bei Minority Report)
Looper (2012) über die
„Entsorgung“ von Verbrechern per Zeitreise
Coherence (2013) über
Schrödingers Katzen-Dinnerparty
Triangle (2009) über eine Gruppe
Menschen, die ein Deja Vu auf einem Kreuzfahrtschiff erlebt
Inception (2010) werde ich hier
nicht aufführen, und auch Dunkirk (2017) nicht, weil die Filme trotz ihrer
fragmentarischen Erzählweise immer noch auf den Mainstream
ausgerichtet sind
Persona (1966) über zwei Frauen,
deren Identitäten immer größer werdende Schnittmengen aufweisen
Eternal Sunshine of the
Spotless Mind (2004) über den Versuch der selektiven Erinnerungslöschung
Edge of Tomorrow
(Live.Die.Repeat., 2014) über das Groundhog Day-Prinzip im Kampf gegen
eine außerirdische Invasion (wesentlich besser, als es klingt!)
Cube (1997) über eine Gruppe
Menschen, die in einem System aus würfelförmigen Räumen aufwachen
und Antworten suchen
Jacob's Ladder (1990) über einen
Kriegsveteranen, der nach der Heimkehr von Halluzinationen heimgesucht wird
Stay (2005) über einen Kunststudenten, der die Zukunft erahnen kann und seinen Suizid plant
Primer (2004), hochintelligenter Film über die zufällige Entdeckung von Zeitreisen
Berberian Sound Studio (2012), über einen Tontechniker, der bei der Arbeit an einem für ihn neuen Filmgenre allmählich den Verstand verliert
eXistenZ (1999), über ein erstaunlich realistisches Virtual Reality-Videospiel, eine Art Quasi-Vorläufer zu Inception
Paprika (2006), ein Anime über die Fähigkeit, in Träume anderer Menschen einzudringen - die Parallelen zu Inception (2010) sind unzählbar und Paprika wird oft als eine wesentliche Inspirationsquelle für Nolans Film genannt
Welt am Draht (1973) über ein Computerprogramm, das reales Leben simulieren soll
Remember (2015) über einen jüdischen Auschwitz-Überlebenden, der im hohen Alter Rache an dem Menschen nehmen möchte, der seine Familie ermordet hat
Radius (2017) über einen Mann, der nach einem Autounfall nicht nur sein Gedächtnis verloren hat - alles, was ihm zu nahe kommt, stirbt auf mysteriöse Weise
Come True (2020) über eine Schülerin mit Schlafproblemen, die an einer Studie im Schlaflabor teilnimmt
Hinter den Augen die Dämmerung (2021) über ein Paar, das seine Beziehung vor gothischer Kulisse neu überdenkt
Beyond the Infinite Two Minutes (2020) über einen Barista, zwischen dessen Café und Privatwohnung eine Zeitverschiebung besteht, so dass er je nach Standpunkt zwei Minuten in die Zukunft oder in die Vergangenheit schauen kann
Infinity Chamber (2016) über einen Mann, der in einer karg möblierten Kammer landet, Visionen von Zukunft (oder ist es die Vergangenheit?) hat und bewacht wird von einem freundlichen Roboter, der nicht über seinen Algorithmus springen kann, um ihm bei der Flucht zu helfen
Fröhliches mindbending!
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