Dienstag, 12. März 2019

Der Wiederholer (Kurzgeschichte)

Zombieaugen

vorweg: Entstanden in der Schule. Zur Verwendung für die Schule ^^ Was man nicht alles tut, während Schüler Klausuren schreiben...

"Aufwachen!"

Fuck! Wie ein Blitzschlag knallt es in deinem Kopf, zuerst in der rechten Schläfe, dann direkt bis in den linken Fuß, als würde dein Körper mit einem Schlag entzwei gerissen. Ein ziemlich grobes Erwachen, denn du warst gerade so angenehm in Gedanken versunken, Gedanken an das letzte Jahr, Gedanken daran, was du in diesem Jahr anders machen willst - denn du willst definitiv etwas anders machen. Eigentlich wolltest du auch letztesmal alles anders machen. Du wiederholst diese Klasse nicht ohne Grund, denn das letzte Jahr war so geil, so gechillt und frei, niemand, der dir auf den Sack geht, und deine schulischen Leistungen? Yeah, whatever. Du kannst dich nicht entscheiden, ob deine Erinnerungen daran schön sind oder deprimierend, und dann dröhnt die Stimme deines Lehrers durch sämtliche Bewusstseinsebenen und der Schlag holt dich zurück in das Klassenzimmer, zurück an den Beginn deines Lernprozesses. Du realisierst, dass eine Menge Arbeit vor dir liegt.

Du hasst es, zu wiederholen.

Aber diesmal soll es wirklich anders sein, und du erinnerst dich mit Ekel an den Blick in den Spiegel, damals, vor ein paar Monaten, als dein Klassenlehrer dir mitgeteilt hat, dass du nicht zur Abschlussprüfung zugelassen wirst. Bäm, auf einmal war die Feierstimmung weg, der Moment war scheiße deluxe, noch mit dem Hangover von der Party bei Oschi, du kannst dich nichtmal mehr daran erinnern, was ihr diesmal gefeiert habt, keine Ahnung, was für Drogen im Spiel waren, und an Sex konntest du dich sowieso noch nie erinnern, du kannst dich nur noch dumpf entsinnen, dass Kalle dich zur Schule gefahren hat - Zombieaugen, Zombiegang, Zombiesprache, und vom Einlauf deines Klassenlehrers hast du nur die Schlusstakte mitbekommen - "...und damit können sie jetzt ihre Tasche packen, sie sind ausgeschult, wir sehen uns im September wieder, wenn sie das wollen." September. Das muss zwei Monate her sein, oder fünf, oder vier Wochen. Scheiße. Es soll doch jetzt alles besser werden, und schon wieder pennst du im Unterricht ein? Du entschuldigst dich auf's Klo, und wieder stehst du vor dem Spiegel und versuchst, diesem Menschen in's Gehirn zu schauen.

Was soll aus dir werden? Jetzt fragst du dich das schon selbst, bisher hat dir nur dein Stiefvater den Vorwurf in's Gesicht geklatscht, und deine Ma hat sich noch nie wirklich dafür interessiert, was außerhalb des Hauses mit dir abgeht. Und drinnen auch nicht, nur so als Randnotiz. Selbstwertgefühl komplett im Arsch, denn du kannst ja nichts, sagen sie dir immer wieder, Ma, Dad, Stiefdad, wo auch immer du gerade herumgereicht worden bist, macht man dir klar, wie wenig du überhaupt wert bist. Klasse, wie tief dein Scheißleben dich runtergezogen hat... oder ist es eher andersrum? Dein Blick ruht immer noch auf dem Spiegel, müssen Minuten sein, und wahrscheinlich trägt dein Lehrer dir gerade eine Fehlstunde ein, aber davon bekommst du ja eh nie etwas mit - und der Blick in deine leeren Augen kotzt dich an, doch bevor du dich angewidert wegdrehst, siehst du im Spiegel die halbgeschrotteten Klotüren, die letzte, die noch halbwegs intakt ist, und auf die ein selbsternannter Künstler in rot und schwarz ES IST DEIN DING gesprayt hat, und ein unglaublich reifer Mitschüler hat mit einem Edding einen Schwanz darunter gemalt: "Näääää, DAS HIER ist mein Ding!" - und dir wird kotzübel bei dem Gedanken, dass du immer noch zu diesem Lebensabschnitt gehörst. Es ist mein Ding, sagst du dir...

...und bekommst eine Zwei in deiner nächsten Englischklausur zurück. What the - was für ein geiler Start in den ersten Schultag nach den Weihnachtsferien! "Geiler Scheiß" entfährt es dir, und von Kalle schallt dir ein "Streberleiche!" entgegen. Like I care, like you care, like anyone cares, der macht doch eh' kaum noch etwas mit dir zusammen, scheiß drauf, was er denkt. Und überhaupt ist dir das alles egal, du bist zu einem Außenseiter geworden, Lusche, seitdem du nicht mehr am Wochenende mit den Anderen um die Häuser ziehst, keine LAN-Partys mehr mitmachst, weil du stattdessen lieber - lernst?? Aber es scheint ja etwas zu bringen, du hattest seit Ewigkeiten keine Zwei mehr, und in Englisch sowieso noch nie, deine Textproduktionen dienten immer nur als "dragon food", und dann kommt tatsächlich dein Lehrer nach der Stunde zu dir, klopft dir auf die Schulter, okay, gay cruising oder was, und er gratuliert dir. WTF, geht es jetzt echt aufwärts? Klappt es jetzt endlich?

Aber wen interessiert das schon - deinen Stiefvater definitiv nicht, warum sollte es auch, denn der lebt ja jetzt nicht mehr bei dir, du bist ja schon wieder weitergereicht worden, verfickte Patchwork-Scheiße, und dann wenden sich auch noch deine Kumpels ab, weil du endlich dein Leben selbst in die Hand nehmen willst. Kann es denn so schwer sein, das mal alles vernünftig zu wuppen? Und warum verlangt überhaupt jemand von dir, dich zwischen Freunden und Schule zu entscheiden? Und WER verlangt das überhaupt? Ist doch mal wieder nur dein eigener sturer Kopf, der wohl endlich kapiert hat, dass high life in Tüten nicht zum Schulabschluss führt. Okay okay, es sollte diesmal alles anders sein, und wenn du wieder nur gechillt und gefeiert hättest, was wäre dann anders gewesen? Das muss es also sein - sein Leben in die Hand zu nehmen, Dinge zu ändern, und jetzt fühlst du dich genervt, aber irgendwie auch besser. Irgendwie bekommst du das Gefühl, dass du diesmal was gerissen hast, endlich mal selbst etwas geschafft, scheiß drauf, was die Alten dir sagen, endlich kannst du ein bisschen stolz auf dich sein, endlich bekommst du den Eindruck, dass du wirklich etwas wert bist.

Und trotzdem. Sommer naht, Prüfung steht an, und trotzdem. Du hast gebüffelt, du hast diesmal wirklich alles anders gemacht - Freunde? Keine Zeit. Hobbies? Keine Zeit. Du hast dein Ding selbst in die Hand genommen, zum ersten Mal in deinem Leben, und du fühlst dich gut vorbereitet, und trotzdem... trotzdem bleibt da dieses nagende Gefühl in deinem Kopf, dass irgendwas noch nicht gut genug war. Hättest du etwas anders machen sollen? Warst du nicht perfekt genug? Und mit diesem Gefühl haust du dich in die Kissen, am Vorabend der mündlichen Prüfung. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

"Aufwachen!"

Fuck! Wie ein Blitzschlag knallt es in deinem Kopf, zuerst in der rechten Schläfe, dann direkt bis in den linken Fuß, als würde dein Körper mit einem Schlag entzwei gerissen. Ein ziemlich grobes Erwachen, denn du warst gerade so angenehm in Gedanken versunken, Gedanken an das letzte Jahr, Gedanken daran, was du in diesem Jahr anders machen willst - denn du willst definitiv etwas anders machen. Eigentlich wolltest du auch letztesmal alles anders machen. Du wiederholst diese Klasse nicht ohne Grund, denn das letzte Jahr war so geil, so gechillt und frei, niemand, der dir auf den Sack geht, und deine schulischen Leistungen? Yeah, whatever. Du kannst dich nicht entscheiden, ob deine Erinnerungen daran schön sind oder deprimierend, und dann dröhnt die Stimme deines Lehrers durch sämtliche Bewusstseinsebenen und der Schlag holt dich zurück in das Klassenzimmer, zurück an den Beginn deines Lernprozesses. Du realisierst, dass eine Menge Arbeit vor dir liegt.

Du hasst es, zu wiederholen.

by Dr Hilarius, 2019

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