Posts mit dem Label Asperger werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Asperger werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 25. März 2024

Besuch bei'm Psychiater und das Stigma


Freitag

Ich nehme so gut wie nie Filmempfehlungen von anderen Menschen an - und davon bekomme ich als Lehrer reichlich von meinen SchülerInnen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich gute Filme liebe. Die meisten Jugendlichen haben in dem Alter noch kein Gespür dafür, was ein "guter" Film ist, weil ihnen die Vergleichswerte fehlen. Also empfehlen sie mir, was sie selbst toll finden. Und das höre ich mir dann höflich an, setze es aber nicht um.

Anders ist es, wenn die große Buba mir einen Film empfiehlt, denn ich glaube, sie gibt sich sehr viel Mühe, mich als Autisten wirklich zu verstehen, und auch zu verstehen, was mir echte Freude bereitet - dafür liebe ich sie, denn das ist ein hartes Stück Arbeit, was auch immer wieder Enttäuschungen mit sich bringt. Und selbst bei der großen Buba brauche ich manchmal sehr lange, bis ich einem Filmtipp auch wirklich nachgehe.

Dass jemand mir einen Film vorschlägt und ich direkt bei'm Nachhausekommen das Teil auf Netflix suche, finde und mir direkt anschaue, sowas gab es bis heute nie. Aber... vielleicht sollte ich am Anfang anfangen, am Beginn eines sehr erleuchtenden, aufregenden Tages, der in mir eine tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit hervorgerufen hat.

Definitiv nicht Zufriedenheit mit der Deutschen Bahn. Denn ich hatte heute um halb zehn morgens meinen Termin bei'm Psychiater, und ich bin auf den ÖPNV angewiesen, und das Deutschlandticket als Chipkarte works like a charm. Also gehe ich heute um viertel nach acht zu Gleis fünf, auf dem der Regionalexpress nach Pinneberg bereit steht.

Ist ja seltsam. Niemand sitzt drin, oder... doch, da hinten sitzt auch jemand. Aber warum stehen noch so viele Menschen auf dem Bahnsteig? Ich könnte natürlich einfach jemanden fragen, aber ich bin Autist und vermeide es, fremde Menschen anzusprechen. Also gehe ich noch einmal zur Tür, schaue draußen auf die Anzeigetafel - aber alles sollte eigenlich stimmen, und so suche ich mir einen Sitzplatz im Untergeschoss in Fahrtrichtung, links am Fenster natürlich. Ich hole meine Logikrätsel heraus und vertreibe mir die Zeit, bis ich sehe, dass die Menschen sich draußen in Bewegung setzen. Sie alle gehen zurück zum Eingang des Hauptbahnhofs, okay, what the ...? Ich bekomme Angst. Werde ich hier jetzt gleich auf ein Abstellgleis gefahren und komme nicht mehr aus dem Zug? Panisch renne ich zur Tür, zwar mit Rucksack, aber meinen schönen Regenschirm von Samsonite hat jetzt die DB. Und ja, ich weiß, es gibt da ein Fundbüro, aber das sind fremde Menschen, also kaufe ich mir lieber einen neuen. Von der gleichen Art natürlich.

Immerhin lande ich jetzt auf dem richtigen Bahnsteig, wo angezeigt wird, dass sich die Abfahrt um eine Viertelstunde verzögert. So what, ich habe einen kleinen Zeitpuffer, bevor ich im Krankenhaus sein muss. Und dann fängt auch endlich alles an, richtig zu funktionieren. Ich esse einen Schokoriegel - Zucker als Entzündungsförderer eigentlich nicht so gut, aber ich brauche etwas Energie für den Tag, die große Buba sagt Edhergighie.

Ich habe mich sehr auf diesen Termin gefreut, denn der letzte ist drei Monate her. Es hat einfach terminlich nicht besser gepasst; und während ich einmal bei einem monatlichen Besuch schon dachte, dass es eigentlich kaum Neues zu berichten gibt, waren drei Monate dann doch zuviel, vor allem, weil sich in meiner beruflichen, gesundheitlichen und familiären Situation viel getan hat in dieser Zeit, und nichts davon wirklich zum Positiven. Vielleicht sind anderthalb bis zwei Monate derzeit eine gute Frequenz für uns. Ich habe das aus verschiedenen Psychologieserien gelernt, dass man das je nach Bedarf umstellen kann und sollte, immer im Sinne des Patienten, und ich muss einfach mal konstatieren: Ohne den Rückhalt meines Psychiaters wäre ich in dieser Welt, an diesem Punkt angekommen, vollkommen aufgeschmissen. Meine lieben Eltern würden so gern helfen, aber ich brauche fachliche und rechtliche Hilfe, das heißt, es müssen Fachleute ran.

Ich möchte wirklich jedem, der ein starkes Gefühl davon hat, er könne auf dem Autismusspektrum sein, empfehlen, einen Platz bei einem guten, spezialisierten Psychiater zu bekommen. Auch wenn es eigentlich gerade nicht nötig scheint - irgendwann werden Probleme kommen, aus unterschiedlichsten Gründen (zum Beispiel, weil die Eltern sterben), und dann ist man hilflos und allein gelassen. Ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich mir im Kopf gerade ein paar wenige KandidatInnen vorstellen kann, denen das vielleicht helfen könnte. 

Bringt den Mut auf, sucht Euch einen Diagnoseplatz! Möglichst jetzt, denn die Vorlaufzeit ist unglaublich lang. Bei mir hat es - wenn mich die Erinnerung nicht trügt - anderthalb Jahre gedauert bis zum ersten Termin. Die PsychiaterInnen sind einfach komplett überlastet, und dabei können sie im Leben eines autistischen Menschen so viel Gutes bewirken, und das auch schon komplett ohne Medikamente, indem sie einen geschützten Raum zum Reden bieten. 

Bitte geht diesen Schritt. Auch wenn der Gedanke nagt "Nö, betrifft mich ja nicht unbedingt, brauche ich gerade eigentlich nicht wirklich" - die Fachliteratur bestätigt: Irgendwann im Leben werden wir AutistInnen Hilfe brauchen, und wenn wir noch so sehr high-functioning (a.k.a. Asperger) sind.

Aber zurück zum heutigen Besuch, und ich merke gerade, ich muss den Artikel morgen weiterschreiben, denn es war ein sehr langer Tag und ich habe das alles immer noch nicht verarbeitet. Keine Sorge, das mit den Filmen kommt noch, ich schreibe morgen weiter!

(...)

Let's go. Natürlich werde ich hier nicht vom konkreten Inhalt des Gesprächs schreiben, sondern etwas abstrahieren und mich vor allem darauf konzentrieren, was das bei mir ausgelöst hat. Könnte auch für meinen Psychiater interessant sein, vielleicht liest er das jetzt gerade. Falls ja, hier nochmal: DANKE für Freitag!

Natürlich hat es gut getan, nochmal die Rückschläge aus dem Januar und Februar Revue passieren zu lassen, die Ablehnung des Schwerbehindertenstatus und das Verbot, eine Vertretung an einer Schule zu übernehmen (ich habe bis heute keinerlei Entschuldigung aus dem Ministerium bekommen). Es hat mir nämlich wieder etwas Mut gemacht zu wissen, dass ich eigentlich nichts falsch gemacht habe, sondern dass das Problem im System liegt.

Ebenso hat es sich gut angefühlt, über Themen zu sprechen, zu denen ich einen Bezug habe, und so sind wir zwischendurch auch wieder bei'm Thema Filme angekommen, genauer Filme über Autismus. Es gibt so viele Filme, die Autismus darstellen wollen - vielleicht nicht als Thema, aber in einem ihrer Charaktere - und sich dabei auf Klischees berufen, die mit der Breite des Spektrums überhaupt nichts zu tun haben, oder sie stellen Autismus als etwas Drolliges dar, über das man lachen kann. Davon gibt es eine ganze Menge. Seltener sind authentische Darstellungen von Autismus-Spektrums-Störungen. 

Eine dieser authentischen Behandlungen findet man im Film The Reason I Jump, der auf dem gleichnamigen Buch des nicht-sprechenden autistischen Jugendlichen Naoki Higashida basiert. Im Film werden die Leben verschiedener Familien rund um die Welt beleuchtet, in den USA, Afrika, Indien, Australien, um zu zeigen, dass es die mutistischen AutistInnen überall gibt, und dass sie überall dieselbe Zurückweisung von neurotypischen Menschen erfahren. Es kommen auch ihre Eltern zu Wort, die sehr eindringlich erzählen, wie sie unter den Anfeindungen ihrer Kinder zu leiden hatten und immer noch haben. Der Film bringt durch seine subjektive Kamera das Erleben eines Menschen auf dem Spektrum sehr eindrucksvoll rüber und ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Akzeptanz und Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Mein Psychiater hat sich den Titel notiert, und mir im Gegenzug ebenfalls einen Film genannt, der das Thema Autismus zwar nicht in den Mittelpunkt stellt, dessen Hauptfigur aber eindeutig als Autist codiert ist. Der norwegische Film Elling, damals oskarnominiert als bester ausländischer Film, zeigt die Situation zweier neurodiverser Freunde, die durch das norwegische Gesundheitssystem irgendwie in die Gesellschaft integriert werden (bei uns würden sie eher allein gelassen, um selbst klarzukommen), nachdem Ellings Mutter verstorben ist und er nicht mehr auf ihre Hilfe und Führung bauen kann.

Diese Situation ist leider nur allzu realistisch: Was ist, wenn Deine Eltern sich um Dich ein Leben lang gekümmert haben und Du plötzlich als autistischer Mensch auf Dich allein gestellt bist? Meine Eltern werden nicht ewig leben und ich habe einen Bruder, der noch weiter zurück liegt auf dem Weg, auf sich allein gestellt zu sein, als ich. Irgendwie müssen wir es schaffen, dass er nicht irgendwann plötzlich wie Elling vor dem Nichts steht und komplett verkümmert, wenn es keine Unterstützung mehr von Mama und Papa gibt.

So habe ich mir also Elling notiert. Wie schon oben erwähnt: Normalerweise nehme ich keine Filmtips von anderen Menschen an. Aber zum einen ist mein Psychiater auf AutistInnen spezialisiert und kennt sich wirklich gut aus, und zum anderen trifft der Film leider gerade einen Nerv. So bin ich also nach unserem Termin nach Hause gefahren und habe den Film direkt auf Netflix gefunden und angeschaut, und war ziemlich begeistert.

Da wird mir bewusst, dass ich in der Linkliste links noch keinen Reiter mit der Designation Autismus im Film habe, das sollte ich bald mal ändern, um dort die Namen von Filmen einzustellen, in denen diverse Formen der Autismus-Spektrums-Störung authentisch und nicht klischeehaft dargestellt werden. Das könnte zur Aufklärung beitragen, und vielleicht glauben es mir die Leute ja irgendwann, dass ich geistig behindert bin, ohne mich erstmal zu gaslighten.

Das war ein toller Besuch bei'm Psychiater, in jeder Hinsicht, und drei Monate ohne waren definitiv zu viel. Ich wünsche jedem Menschen auf dem Spektrum so einen Ansprechpartner. Und zum Schluss noch ein Aspekt aus schulischer Seite (betrifft aber auch die Gesellschaft allgemein):

Ich finde es sehr bedauerlich, dass die Psychiatrie bei uns so stigmatisiert ist. Viele trauen sich nicht zuzugeben, dass sie regelmäßig zum Psychiater gehen - und wenn sie es tun, dann kommt die Häme aus dem Hinterhalt. An einer Schule meinte eine Kollegin zu mir: "Und das da vorne ist Frau XY, aber mit der solltest du lieber nicht reden, die nimmt Antidepressiva, das ist eine ganz arme Person." - und ja, das war der exakte Wortlaut; auch wenn es schon über zehn Jahre her ist, habe ich das nie vergessen. Es ist beschämend, wie Lehrkräfte hinter dem Rücken ihrer KollegInnen über ihre Mitmenschen reden. Kaum eine Schule ist frei davon; ich war bisher an sieben, und nur an der Nordseeschule in St.Peter-Ording war es anders - kein Wunder, dass sie zur Perspektivschule erklärt wurde, denn da ziehen alle Lehrkräfte zusammen an einem Strang, um SchülerInnen in schwierigsten Situationen eine Lebensperspektive aufzuzeigen. Ein völlig anderer spirit als an den meisten Gymnasien. 

Und ja, die "ganz arme Person" war an einem Gymnasium - aber hier kein Schulart-Bashing, denn es geht um den Segen, den ein geistig behinderter oder psychisch kranker Mensch erfahren kann, wenn er von der Psychiatrie betreut wird. In den Köpfen so vieler Menschen herrscht der Gedanke, dass es etwas Negatives ist, bzw. dass ein Mensch etwas Schlechtes getan haben muss, um eines Psychiaters zu bedürfen. Dass er ein schlechter Mensch sei. Es wird von oben herab über Menschen in psychiatrischer Betreuung gesprochen, auf eine Weise, die für Betroffene extrem schmerzlich sein kann. Ich weiß, wovon ich rede, denn es gibt garantiert einige ehemalige KollegInnen an verschiedenen Schulen, die das hier zu Gesicht bekommen und sich darüber aufregen, dass ich hier oversharing betreibe. Face facts: Es ist so, und es ist an fast jeder Schule so. Ich hoffe, niemand von Euch glaubt, in einem harmonischen Kollegium zu arbeiten - es sei denn, es ist tatsächlich harmonisch - zum Beispiel an kleineren Schulen, Grundschulen, Förderzentren oder Perspektivschulen.

Menschen können es einfach nicht lassen, schlecht über andere Menschen zu reden.

Elling ist auf Netflix verfügbar.

Weitere authentische Filme auf dem Spektrum: The Reason I Jump, The Imitation Game, The Speed Cubers, BenX, The Queen's Gambit - die Liste wird bald links auftauchen und noch mehr Titel beinhalten ;-)

Mittwoch, 20. März 2024

Englisch gedacht - Deutsch gesprochen


"Es wird eine Tür geöffnet, und dann bekommt es Standardformel."

Dieser Satz ergibt erstmal keinen Sinn - der Kontext fehlt, allerdings gibt es auch noch ein anderes Problem. Zunächst zum Kontext: Wenn ich einen neuen Film schaue, schreibe ich im Geiste parallel dazu die Rezension. Das ist Gewohnheit; nachdem ich den Film geschaut habe, lese ich immer die jeweilige Rezension auf rogerebert.com. Dadurch haben sich im Laufe von hunderten Filmen und Rezensionen klassische Phrasen im Gehirn eingebrannt. 

Manchmal spreche ich Teile der eigenen Rezension laut aus - einfach, um zu testen, ob es authentisch klingt. Klassische Aspi-Masche: Verhalten von neurotypischen Menschen beobachten und nachahmen, um nicht aufzufallen. Heute habe ich einen Auszug aus einer Rezension eines Films gesprochen, den ich schon vor Jahren gesehen habe - I Am Mother. Hat gute Ansätze, regt zum Nachdenken an, aber dann passiert etwas und der Film wird vorhersehbar. Im Englischen würde man sagen:

"A door is opened, and then it becomes standard formula."

Und weil mir immer öfter Gedanken zuerst auf Englisch kommen, habe ich das aus irgendeinem Grund wörtlich in's Deutsche übersetzt - wobei to become natürlich eigentlich werden zu heißt. Diese "Verdeutschlichungen" passieren ab und an, und ich finde sie immer ganz witzig - und vielleicht kennt ja auch jemand von Euch dieses Phänomen. Zumindest das "erst auf Englisch denken"-Konzept, denn das hat nichts mit Autismus zu tun; mir haben einige EnglischkollegInnen erzählt, dass es ihnen auch so geht.

Sprache kann einfach drollig sein. Ich liebe Sprache.

Montag, 11. Dezember 2023

Tag 133 - Phantom-61


Bei Regen ohne Regenschirm rauszugehen, ist vielleicht nicht die cleverste Idee des Tages gewesen. "Nur mal eben" zum Sophienhof, ich brauchte was von dort. Immerhin gibt es (meistens) überdachte Bushaltestellen. Also ab zum Hauptbahnhof, Einkauf erledigen und fix wieder zurück.

Fix? Der Einkauf ist erledigt; ich stehe in diesem kleinen Glasvorbau vor dem Sophienhof und schaue auf die Leuchtanzeige mit den Buswartezeiten draußen im Regen. Eigentlich ist das eine coole Idee - so kann ich im Trockenen warten, habe aber jederzeit die Bussteige vor Augen. Also bleibe ich stehen und suche nach der Linie 61/62, denn sonst fahren ja keine Busse mehr die Hamburger Chaussee hinunter. Da steht es: "61 Mettenhof 15 Minuten". Na toll, ich habe den Bus also gerade verpasst und der nächste fährt in fünfzehn Minuten.

Geht es nicht auch anders? Fast direkt darunter steht "52 Krummbogen 14 Minuten" - könnte ich auch nehmen, die fährt hier durch's Viertel. Ach, und natürlich gibt es auch noch die Busse der Autokraft nach Flintbek, die werden natürlich auf der KVG-Tafel nicht angezeigt. Aber ich weiß ja, wie sie aussehen, sollte da einer kommen, nehme ich den.

Aber erstmal warte ich im Trockenen. Und die Wartezeit schmilzt langsam dahin, moment... die 61 in elf Minuten, die 52 in fünf Minuten? Und einen Moment später: die 61 in zwölf Minuten, 52 in vier. Die Wartezeit für die 61 scheint sich zu verlängern; während alle anderen Zeiten schrumpfen, pendelt die 61 zwischen elf und vierzehn Minuten auf und ab. Wenn das so weitergeht, ist die 52 die bessere Alternative.

Irgendwie macht es Spaß, sich auszumalen, was wohl passiert sein mag. Könnte sein, dass es einen Unfall gab und der Bus im Stau feststeckt. Oder es gab ein technisches Problem (erixx kennt das). Ich finde solche Situationen faszinierend: Ich sehe etwas Ungewöhnliches und frage mich direkt, warum das wohl so ist - typisch Aspi, unbedingt für alles eine Erklärung suchen. 61 in dreizehn Minuten, 52 in einer Minute, dann biegt der Bus nach Flintbek ein. Autokraft hat gewonnen.

Ob die 61 jemals in Mettenhof angekommen ist?

Mittwoch, 8. März 2023

Elon Musk vs. Hundekot

Elon Musk, der hier auf den Vergleich mit einem Haufen Hundekot reagiert

Warum würde ich Elon Musk mit einem Haufen Scheiße vergleichen? Doch hoffentlich wohl, um herauszustellen, dass es sich um zwei völlig unterschiedliche Dinge handelt. Und in der Tat:

Einem Haufen Hundekot auf der Straße kann man ausweichen - Elon Musk dagegen erscheint überall, im Internet, den Nachrichten, Printmedien, sozialen Netzwerken, man kommt nicht an ihm vorbei.

Ein Haufen Hundescheiße stinkt - aber man kann sich die Nase zuhalten. Gegen Elon Musks geistigen Brechdurchfall kann man leider nicht einfach sein Gehirn abschalten.

Ein Haufen Hundescheiße springt keine wildfremden Menschen an (die versuchen, anderen Menschen das Leben zu retten) und beleidigt sie als "pedo guy" - das ist eher das Verhalten eines rückgratlosen, hochbegabten Aspis, der keine Vorstellung davon hat, was sein Verhalten bei anderen Menschen anrichtet.

Ein Haufen Hundescheiße würde nicht auf die Idee kommen, sich über Mitarbeiter lustig zu machen, die nachfragen, ob sie gefeuert wurden, weil sie keine Mitteilung von ihrem Arbeitgeber bekommen haben, und er würde auch nicht private Details über ihren Gesundheitszustand in die Öffentlichkeit zerren. 

Ein Haufen Hundekot würde nicht versuchen, jemanden gerichtlich zum Schweigen zu bringen, der öffentlich verfügbare Informationen verwendet, um aufzuzeigen, wann und wo der Haufen Scheiße mit seinem Privatjet unterwegs ist. 

Außerdem sagt ein Haufen Hundescheiße nicht, er würde sich für freie Meinungsäußerung einsetzen, und dann jegliche Stimmen, die gegen ihn sprechen, feuern, von den Netzwerken verbannen oder gerichtlich unterdrücken. 

Nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen Elon Musk an sich. Es ist sein Verhalten, das mich theoretisch auf die Palme bringen kann. Das macht mich umso trauriger, als dass ich ihn nicht nur verstehe, sondern total nachvollziehen kann: Wir haben die gleiche Gehirnkonfiguration. Wer weiß, wie ich wäre, wenn ich fast der reichste Mensch der Welt wäre, und niemanden in meinem Freundeskreis hätte, der mir mal Contra gibt? 

Seit der Übernahme von Twitter wird deutlich, dass Elon Musk nichts, aber auch wirklich gar nichts mit einem riesigen Haufen Scheiße gemein hat - Letzterem würde ich wesentlich lieber auf offener Straße begegnen wollen, und er würde in mir nicht den dringenden Wunsch wecken, ihm in's Gesicht zu kotzen.

Dienstag, 24. Januar 2023

Das fahrende Waschbecken


vorweg: Nein, dieser Beitrag ist nicht nur für die große Buba.

Es fühlt sich an, als sei ich seit dem dritten Januar blockiert. Unfähig, aktiv zu werden, aufzuräumen, zu korrigieren. Ob das ein kleiner Schluck Asperger pur ist? An jenem Tag hat Ulf meinen Backenzahn unten links aufgebohrt, musste auch sein, und das Nervengewebe daraus entfernt. Dann provisorisch gefüllt, und an einem weiteren Termin drei Wurzelkanäle gefüllt - und wieder ein Provisorium drüber. Zwischendurch ist mir auch noch ein Stück des Zahn abgebrochen und es fühlt sich immer noch wie ein Steinbruch in meinem Mund an, wenn ich mit der Zunge drangehe. Und das tue ich oft. Einfach weil es sich so ungewohnt anfühlt, und so unfertig.

Und genau das ist die crux. Eine unfertige Arztgeschichte sorgt dafür, dass ich mich kaum auf etwas Anderes vernünftig konzentrieren kann. Das sind die Momente, in denen ich es hasse, auf dem Spektrum zu sein. Es könnte alles so viel einfacher sein - stattdessen muss ich meine SchülerInnen immer weiter vertrösten und suche meine Notenlisten unter Papierstapeln. Etwas ungünstig, wenn Zeugniskonferenzen anstehen.

Aber die sind, wie immer, eines der Highlights meines Schuljahres. Ich bin immer wieder so gespannt, wie "meine Kiddies" sich in den anderen Fächern so machen, und wie die KollegInnen über sie reden. Wieder eine Gelegenheit, die Vermutungen zur Hochbegabung oder Autismus-Spektrums-Störung durch Erfahrungsberichte anderer Fächer zu erhärten, oder - und manchmal ist mir das lieber - sie zu zerschlagen. 

Es ist aufregend, die Zeugnisspiegel meiner SchülerInnen zu sehen. Ich liebe Zahlen, Zahlenvergleiche und Schemata wie die Übertragungsnoten (der vier unterschiedlichen Anforderungsniveaus ESA, MSA, AHR und i.B.). 

...

Und nun ist auch die letzte Zeugniskonferenz um, und ich habe endlich wieder einen Zahn anstatt eines Steinbruchs, oder zumindest so etwas Hingeklöppeltes, bis wir in ein paar Monaten uns dann an die Krone machen.

Absolutes Highlight des Besuches bei'm Zahnarzt heute - was mir vorher noch nie so aufgefallen ist - ein Hinweisschild an diesem kleinen runden Ausspülbecken: "Bitte nicht ziehen - Becken fährt automatisch heran" - da war kein Beruhigungsmittel mehr notwendig, außer vielleicht, um das Kichern zu unterdrücken. Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet in einer Arztpraxis eine echte Fahrspüle sehe.

Hoffentlich löst das jetzt endlich einen Knoten, es ist so viel Arbeit liegen geblieben, und ich habe die letzten zwei Wochen ausschließlich auf der Couch geschlafen, das muss sich auch wieder normalisieren.

Dienstag, 3. Januar 2023

Wurzelbehandlung

Genau für solche Ausnahmesituationen...

"So, die nächste Spritze geht direkt in den Nerv."

Ich hatte noch nie eine Wurzelbehandlung bei'm Zahnarzt. Nach den Berichten von Familie, Freunden und Bekannten konnte ich mir aber ableiten, dass das eine der unangenehmsten Behandlungen sein dürfte, die man dort bekommen kann. Heute kann ich bestätigen: Ja, es ist unangenehm. Und schmerzhaft. Und man möchte einfach nur, dass es bald vorbei ist.

Was für ein glückliches Timing, dass ich meinen Tranquilizer vom Psychiater bekommen habe. Ich habe Ulf (Zahnarzt, einer der besten in Kiel) direkt gefragt, ob es okay ist, wenn ich die Tablette nehme - die ich seit Neujahr immer im Portemonnaie dabei habe für genau solche Situationen - "Klar, mach' das!" und so habe ich auf die Tablettenwirkung gewartet, während die Betäubung angeflutet ist.

Das Loch im hinteren Zahn - kein Problem, das war schnell erledigt, aber der Zahn davor... ich erinnere mich nicht mehr an die Details (anterograde Amnesie kann eine sehr willkommene Nebenwirkung von Benzodiazepinen sein). Nerv freigelegt, entzündetes Gewebe entfernt, Medikament aufgestrichen, provisorische Füllung, nächster Termin in gut einer Woche. 

Betäubung hat dann nachgelassen, Schmerzen sind da, aber ich bin mit Schmerzmitteln gut versorgt. Dieses Erlebnis erinnert mich daran, dass ich vielleicht doch schon einmal eine Wurzelbehandlung hatte, denn mir kommt das alles bekannt vor - das schmerzhafte Aufbohren, das Medikament, das Provisorium - das hatte ich alles vor etwas über fünfzehn Jahren schon einmal. Und das wiederum gibt mir Mut: Damals hatte ich ein Gold-Inlay bekommen, und habe seitdem mit jenem Zahn nie wieder Probleme gehabt.

Wenn es die Möglichkeit gibt, möchte ich eine Goldkrone bekommen. Dann müssen die Playstation 5 und das Phantasialand eben warten, die laufen mir ja nicht weg (waren für diesen Sommer geplant), und ich muss etwas kürzer treten. Ich denke schon seit einigen Monaten darüber nach, auf Gold zu setzen, wenn etwas gemacht werden muss, weil es tatsächlich in Sachen Haltbarkeit unschlagbar ist. Kostet halt. Und die Optik ist mir egal, was kümmert's mich, wenn man sieht, dass ich eine Goldkrone trage?

Das wird sich alles zeigen. Ich bin erstmal froh, dass heute überstanden ist (auch wenn das nächste Mal wieder richtig fies werden wird; Lojong hilft)!

Dienstag, 20. Dezember 2022

Geht's mir etwa gut?


Ein interessanter Tag heute, so in der Rückschau. Es gab mehrere Situationen, die für ein Glas Asperger pur gereicht hätten, aber ich hatte keinerlei Panikattacken oder den Wunsch, aus der Situation zu fliehen.

Das ging schon nach dem Aufstehen los - heute waren Sprechprüfungen bei meinen Zwölfern dran, immer aufregend, weil ich Angst davor habe, irgendwelche Formalien zu übersehen oder falsch zu erledigen, oder dass ich die Prüfungsaufgaben für meine SchülerInnen vertausche. Heute nichts - alles geordnet im Ordner, in die Tasche. In aller Ruhe die Wohnung rechtzeitig verlassen, keine Angst vor dem, was kommt.

An der Bushaltestelle Diesterwegstraße ging es weiter - ich wollte gerade ein weiteres Logikrätsel bearbeiten, da kommt über die Straße - Er. Wie schon vor ein paar Wochen hatten wir eine kurze gemeinsame Busfahrt, und ich hatte keine weichen Knie, nicht den Drang, schnell wegzukommen, und es gab auch keine Probleme damit, im vollen Bus in den Arm genommen zu werden.

Springen wir zur Bushaltestelle Lüderitzstraße, auf dem Weg zurück. Auch hier möchte ich gerade ein Rätsel bearbeiten, doch zur Linken kommen nette Schüler, und von rechts kommt ein Fremder und bittet mich um meinen Stift, damit er etwas aufschreiben kann. Kein Problem - und dann hat sich daraus sogar ein nettes Gespräch ergeben, über's Renovieren und wie es ist, wenn man älter wird. Kein "Hoffentlich redet er jetzt nicht noch weiter, bitte lass' mich in Ruhe".

Das hätte alles ganz anders laufen können (und die vielen Asperger pur-Beiträge geben einen bunten Einblick in die Erlebniswelt eines Autisten). Könnte es womöglich sein, dass es mir gut geht? Mich irritiert das ein bisschen, denn ich habe immer noch keine feste Stelle, immer noch keinen Diagnoseplatz und meine Wohnung sieht... aus. Es scheint tatsächlich so etwas wie Alltag einzukehren, wie damals im Studium, als es völlig normal wurde, mit dem Fahrrad in die Uni zu fahren und dort sogar mit Freunden in der Mensa essen zu gehen (ich hatte lange Zeit die Mensa geistig abgeblockt).

Darf so weitergehen!

Dienstag, 13. Dezember 2022

all peopled out


"I'm all peopled out."

Temple Grandin ist ein bekannter Name in der Asperger-Szene, und von ihr habe ich (via Tony Attwood) diesen grandiosen Ausdruck gelernt. Es tut gut, etwas endlich mal mit Worten beschreiben zu können, was einen über die Jahrzehnte begleitet und immer wieder auftritt. Dieser Artikel dürfte auch für HSPs interessant sein, denn sie kennen das Prinzip der Reizüberflutung nur zu gut.

Wenn ich morgens in die Schule gehe, bin ich ausgeglichen. Mein Unterrichtsplan steht. Ich weiß genau, mit welchen Lerngruppen ich welche Inhalte behandeln möchte. Das Drehbuch ist quasi geschrieben und muss jetzt nur noch ablaufen. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, und deswegen "probe" ich bestimmte Gesprächsfetzen, die auftauchen könnten, schon vorher auf dem Schulweg im Kopf und zuhause in den Selbstgesprächen.

Es läuft dann auch weiterhin alles nach Plan ab: Ich erfriere an der Bushaltestelle mit meinem Rätselheft in der Hand, Kapuze über den Kopf zum Abschotten, nicht nur gegen die Kälte. Im Bus wird weiter gerätselt, mein Drehbuch läuft ohne Probleme ab. Dann heißt es irgendwann: "Nächste Haltestelle - Tiefe Allee." Damit endet meine Sicherheit. Das ist nämlich die vorletzte Bushaltestelle vor meinem Schul-Stop. Das Rätselheft wird eingepackt und es geht los. Zum ersten Mal schaue ich, wer noch mit mir aussteigt, jetzt sehe ich bekannte Gesichter, und die Schule kommt immer näher, und mit ihr tausend Menschen, die sie beleben.

Jeder einzelne Kontakt mit einem anderen Menschen kann für einen Autisten Probleme bedeuten, denn diese Menschen kennen mein Drehbuch nicht und verhalten sich einfach nach ihren eigenen Drehbüchern (so soll es ja auch sein). Ich nehme das wahr als Unberechenbarkeit. Ein kleines "Hey Tobi!" oder "Herr Homann, haben wir sie Donnerstag?" bringt mich raus. Ich bin jetzt im Daueralarmzustand, und versuche mein Drehbuch mit all' diesen menschlichen Transaktionen in Einklang zu bringen. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, eben weil unvorhergesehene Sachen auftauchen, und ich muss irgendwie den Überblick behalten.

Und das schlaucht.

Nach jeder Stunde muss ich sondieren, wo ich in meinem Drehbuch bin, muss schauen, was verändert wurde, welche Menschen ohne Vorwarnung hereingeplatzt sind - ich muss das alles verarbeiten, damit ich in die nächste Stunde wieder (einigermaßen) ausgeglichen starten kann. Und dieses "Runterfahren" brauche ich jede. einzelne. Stunde. In Freistunden gehe ich in den Ruheraum, der ist perfekt für sowas, das federt zumindest die unmittelbaren Eindrücke ab (irgendwann lernt man im Lojong auch sowas wie "Meditation-to-go", ohne großen Zeitaufwand).

Am Ende des Schultages bin ich allerdings fertig. Zu viele Menschen haben mich in diese oder jene Richtung gerissen (gar nicht bösartig gemeint), und ich atme auf, wenn ich zuhause bin. Ich schließe die Tür, trete in meinen safe space ein, kapsele mich vollkommen von der Außenwelt ab, keine Mails, keine Nachrichten, gar nix, denn ich kann nicht mehr.

"I'm all peopled out."

Ich brauche eine Regenerationsphase ohne Menschen, in der ich mein Drehbuch überarbeiten und die Stabilität und Sicherheit in meiner Welt wieder herstellen kann. Das braucht Zeit - wir sprechen hier von Stunden. Denn, klar, wenn alles abgesichert ist, kann ein hochbegabter Aspi viele Dinge souverän erledigen - aber eben jene Sicherheit gerät durch den Kontakt mit anderen Menschen immer wieder in's Wanken. Allein schon das Bewusstsein, dass ich es mit vielen neurotypischen Menschen zu tun habe und überall mal wieder Missverständnisse auftauchen könnten, setzt mir zu.

Um dem Ganzen einen positiven Touch zu geben: Langsam bekomme ich das Gefühl, dass ich die Menschen an der Toni kenne. Natürlich nicht bis in's Innere, aber ich weiß, welche Menschen dort sind, ich kann mich besser auf den Schultag vorbereiten, mein Drehbuch mit der Zeit etwas flexibler gestalten. Sowas braucht offensichtlich Jahre - das hat bisher nur an der Nordseeschule in St.Peter-Ording geklappt.

Ihr kennt das, mit diesem Overload - Shutdown-Prinzip?

Mittwoch, 21. September 2022

Sent To Destroy

Vorher...

Morgen geht es rund - in einer Fließbandaktion. Vielleicht sogar Möbius, wenn ich meine Mithelfer so positioniere, dass sie mir endlos helfen können, das Schularchiv aufzuräumen. Ich war ein bisschen erschrocken, heute Vormittag, als mir bewusst geworden ist, wie viel aus dem Archiv zu vernichten ist. Ich habe an alle Stapel, die in die Tonne sollen, einen roten Zettel geheftet. Ich muss morgen definitiv nochmal mit meiner stellv.SL vorher durchgehen, dass ich die Schuldatenschutzverordnung, Paragraph Zehn Löschung, richtig verstanden habe.

Wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle, dann habe ich morgen um die zehn Schüler, die mir helfen: Einzeln in's Archiv, Stapel von mir übernehmen, die Treppe hoch und in die Tonne werfen, wieder anstellen. Und wenn nichts mehr zu vernichten ist, habe ich hier einen Eimer mit Schokoriegeln, in den jeder Helfer dann einmal ganz tief reingreifen darf.

Sauber aufgereiht - mein Aspi-Herz hüpft!

Spannend! Ich darf endlich wieder dirigieren! Da kommt mir gleich die Saturnalien-Thalia hoch, die hol' ich aber so vor, wie ich dat brauche. Irgendwie musste ich heute die ganze Zeit an diesen Song von Combichrist denken, der immer mal wieder auf der Lost Souls läuft - Sent To Destroy. Ich wurde in's Archiv geschickt, um ungefähr die Hälfte davon zu zerstören. 

Let's vernicht!



Mittwoch, 7. September 2022

Ähh... Gehalt?


vorweg: Liebe Eltern, bitte macht Euch keine Sorgen! Ich habe die Lage jetzt im Griff, und ich habe Menschen vor Ort, die mir helfen.

Ein Glas Asperger pur. Das hatten wir schon länger nicht mehr, und diesmal darf es ein etwas größerer Schluck sein - soll heißen, dass die autistischen Verhaltensweisen diesmal richtige Probleme bereitet haben.

Ich habe kein Gehalt bekommen. Normalerweise ist das Land Schleswig-Holstein da recht zuverlässig und ich habe mein Gehalt zwei Tage vor Monatsende drauf (Beamte erhalten ihren Lohn zu Monatsbeginn). Eventuell früher, wenn ein Wochenende dazwischen liegt. Diesmal war nichts da, am Wochenende. Nach dem Wochenende. Am Einunddreißigsten. Am Ersten, Zweiten, Dritten, Vierten. Und plötzlich gehen alle Lichter im Kopf aus. 

Geistige Quarantäne, so nenne ich diesen Zustand, wenn da ein akutes, ernsthaftes Problem ist, das mich beschäftigt, an dem ich aber in dem Moment nicht viel ändern kann: Ich denke an nichts Anderes mehr und versuche mir mit Videospielen oder Serien ein wenig Sicherheit zu geben, alles Andere bleibt liegen. Wäsche. Müll. Rechnungen. Schulvorbereitungen. Korrekturen. Essen und Trinken. Als würde ich irgendwie versuchen, die Zeit zu überbrücken, bis das Problem behoben ist.

Im Dienstleistungszentrum Personal (DlzP) des Landes S-H hat jeder von uns eine Personal- und Sachbearbeiternummer. Das ist hilfreich, wenn mal etwas ansteht, denn so weiß ich genau, an wen ich mich wenden muss, zum Beispiel an Frau Duve. Doof nur, dass die Telefonzeiten immer nur vormittags liegen, und als Ausnahme für Lehrkräfte gibt es dienstags zwölf bis vierzehn Uhr. Gab es. Denn mittlerweile gibt es überhaupt keine Telefonzeiten mehr, nur nach Terminvereinbarung. Mail geschrieben, keine Antwort. 

Was mich immerhin ein wenig erleichtert hat, war der Umstand, dass ich vermutlich nichts falsch gemacht habe. Im Gespräch mit einer Kollegin hat sich herausgestellt, dass sie auch noch kein Gehalt bekommen hat. Mittlerweile ist es der Vierte, dann der Fünfte des Monats. Gestern Termin mit der Bank gemacht, irgendwie muss ich meine bestehenden Zahlungen leisten, Blick auf das Konto - immer noch kein Gehalt. Immer noch kein Müll rausgebracht, Wäsche gewaschen, Essen und Trinken - und dazu kommt, dass ich mir jetzt nach dem letzten Termin bei'm Urologen (ebenfalls Ende August, Überforderung pur) einen Timer für das Handgelenk zugelegt habe, um alle sechzig Minuten ein Glas Wasser zu trinken. Anders geht es im Moment nicht. Bis gestern ging wirklich gar nichts. Der Aspi ist da völlig hilflos, und dann kommt auch noch Fieber dazu und Ende Gelände (das war am Wochenende).

Immerhin ist das Finanzielle jetzt erstmal geregelt, meine Kollegin hat mir heute bestätigt, dass sie ihr Gehalt bekommen hat, morgen werde ich mir mal einen Kontoauszug holen. Und nein, ich mache kein Online-Banking. Ich habe es versucht, aber ich nutze es de facto nicht. Dann liegt hier eine Liste mit TANs, die ich nicht in Anspruch nehme, und am Kontoauszugsdrucker, so ganz oldschool mit Papier, kann ich mir keine Auszüge mehr ziehen deswegen. Alles das ist jetzt geregelt. Kein Online-Banking mehr. Neue Kundenberaterin, direkt vor Ort, zwei Häuser weiter.

Aufatmen. Und irgendwie die Scherben beseitigen, denn natürlich war das eine ziemlich miese Zeit für mich, aber es gibt Menschen, die unter meiner Situation mitgelitten haben - Kollegen, Freunde, Familie, Schüler, und jetzt muss ich erstmal versuchen, alles wieder auf die richtige Bahn zu bekommen.

Ach ja, Schlaf wäre auch schön. Vielleicht diese Nacht endlich wieder.

Freitag, 12. August 2022

Denkwürdige AB-Nachricht


Nur kurz, aber erwähnenswert: Ich habe heute Abend eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter entdeckt, die nachwirkt. Von meinem Aspi-Bruder (diese Ferndiagnose erlaube ich mir einfach mal, auch wenn er das vielleicht - noch - anders sieht), nachträglich zum Geburtstag. Die üblichen Glückwünsche und Planung für das Wochenende; morgen soll es nach Dithmarschen gehen. Dazu demnächst mehr.

Unter den üblichen Glückwünschen hat sich allerdings ein Satz angefunden, den ich nicht erwartet hätte. Okay, generell erwarte ich keine Glückwünsche, und mir ist es jedes Mal total unangenehm, wenn ich nicht an den Geburtstag meiner Brüder denke. Gewissen und so. Und dann höre ich zwischen den anderen Sätzen:

"Schön, dass es dich gibt!"

Nun könnte man sagen, dass das auch eine klassische Geburtstagsphrase ist, die man früher gelernt hat und seitdem immer höflich aufsagt. Könnte man; ich habe diesen Satz in den vergangenen neununddreißig Jahren noch nicht ein einziges Mal von meinem Bruder gehört. Und deswegen bewegt mich das gerade, und ich hoffe, dass ich mich dafür revanchieren kann, wenn die ganze Psycho-Geschichte abgearbeitet ist.

Freitag, 29. Juli 2022

Neue Reiseroute


Für gewöhnlich überlege ich mir den Nachmittag über, spätestens bei'm Duschen, in welche inhaltliche Richtung die Meditation gehen soll. Die Lojong-Losungen sagen uns "Meditiere ständig auf das, was dir besonders zusetzt", und ich finde das vollkommen richtig. Manchmal aber setzt einem gerade nichts zu, oder man hat kein aktuelles Denkthema. Dann überlege ich mir zum Beispiel, wie ich mein nächstes Buch schreibe, Gedanken über Grundstruktur, Erzählperspektive, schreibe die ersten und letzten Sätze und so weiter.

Heute kam es dann anders: Ich wollte eigentlich nur meine Mutter anrufen, um einen Besuch in Dithmarschen zu planen, das Telefon tutet, und dann meldet sich eine Stimme "Hier spricht der schönste, klügste und beste der drei Söhne" und ich kann mir das Lachen nur knapp verkneifen. Klar, mein Bruder. Und es ist immer wieder toll, ihn in so einer witzigen Stimmung zu erleben, und das hat sich auf mich übertragen.

Und siehe da: In der Meditation ging es in der ersten Hälfte um ihn. Eine Reflektion unserer Beziehung zueinander, eine Erleichterung und Freude darüber, wie sich das alles entwickelt hat. Wie ich mich entwickelt habe im Hinblick auf ihn. Wie ich in der Autismus-Geschichte weiter vorgehe, ob und wann und wie ich mit ihm über das Tebartz van Elst-Buch spreche.

Eigentlich sollte man meinen, dass eine solche spontane Planänderung für den Autisten beunruhigend, störend, beängstigend ist. Das Gegenteil ist der Fall, denn jetzt habe ich ein Thema, was mir besonders zusetzt (im positiven Sinne nach Lojong), und spontane Eindrücke sind für eine folgende Meditation besonders fruchtbar.

Tolles Erlebnis!

Dienstag, 26. Juli 2022

Privatunterricht bei Carl Sagan

Damals und heute - gespannt auf die Zukunft! (rechts ein Bild des neuen James Webb-Teleskops, ein Meilenstein der Wissenschaft)

Man hört und liest ja gar nichts mehr von Dir, wir machen uns Sorgen!

Ich kenne diese Mails. Sie machen mir immer sehr ruckartig bewusst, dass ich mal wieder voll in the zone war. Voll versunken in einem meiner Spezialinteressen; genau das beschreibt der Begriff Hyperfokus: Man ist vollkommen konzentriert auf seine Sache, man nimmt um sich herum nichts mehr wahr. Alles Andere ist zweitrangig, Zeit, Essen, Familie und Freunde, Gesundheit. Das ist deutlich intensiver als einfach nur in eine Sache vertieft zu sein, und deswegen spielt das Konzept in der Psychologie eine große Rolle.

Meine Spezialinteressen... Filme, Medikamente, Videospiele, Achterbahnen, Astrophysik. Letzteres hat mich mal wieder vollkommen in Beschlag genommen, denn ich bekomme dieser Tage Privatunterricht von Carl Sagan. Das ist natürlich Unsinn, denn der Mann ist seit über zwanzig Jahren tot. Ändert nichts daran, dass er eine extrem einflussreiche Persönlichkeit war und ist, ändert auch nichts daran, dass seine Dokuserie Cosmos: A Personal Voyage (1980) bis weit in's neue Jahrtausend hinein die meistgesehene Dokuserie der Welt ist. 

An mir ist das natürlich mal wieder völlig vorbeigegangen. Ich habe ein Talent dafür, mich für eine Sache zu interessieren, aber die wichtigsten Namen nicht zu kennen und mich mit den "Standards" nicht auseinandergesetzt zu haben. An Sagan bin ich über völlig verquere Wege gekommen - zunächst unbewusst über ein Musikalbum, das mich mittlerweile seit fast zwanzig Jahren begleitet, bis in den Schulunterricht hinein: Mystical Experiences (1997) der Psybient-Gruppe The Infinity Project dient mir gern als musikalische Grundlage für Gedankenreisen im Unterricht

Psybient-Musik enthält oft Sprachsamples aus Filmen oder Serien, die irgendwie mit Science Fiction zu tun haben. Jenes Album enthält einige Exzerpte aus Sagans Dokureihe, ohne dass mir das bewusst war. Dann kam irgendwann der Film Contact (1997), der auf Sagans gleichnamigem Roman beruht, und den ich nach wie vor mutig und aufregend finde, ein echtes Abenteuer, auch nach dem zwanzigsten Ansehen.

Genau diese mutige, aufregende, freudige, neugierige, spannende Haltung scheint Sagan auszuzeichnen, der nie die Möglichkeit ausgeschlossen hatte, dass es da draußen irgendwo intelligentes Leben gibt. Seine Begeisterung trägt er vollkommen authentisch in seine Serie Cosmos, und ich bin absolut begeistert. Ich hatte zuerst die modernisierte Variante geschaut - Cosmos: A Spacetime Odyssey (2014), in der Neil deGrasse Tyson in Sagans Fußstapfen tritt - mit moderner Technik und neuesten Erkenntnissen aus der Wissenschaft. 

Das könnte mich denken lassen, dass die alte Serie nun mittlerweile veraltet sein dürfte, aber das Gegenteil ist der Fall. Das Original hat so viel Herz, tolle Musik, die Sagans Begeisterung für sein Thema unterstreicht, und seine Stimme... ich könnte ihm stundenlang zuhören, wenn er mir über sein Thema erzählt. Und was ist sein Thema? Nichts weniger als das Ziel, unseren gesamten Kosmos zu verstehen. Auf wunderbar greifbare Weise lernen wir über die Geschichte des Weltalls, über die Geschichte unserer Erde, über die berühmten Entdecker - und immer mit einem Zwinkern zur Vorsicht, damit wir uns unser kleines Paradies nicht zugrunde richten. Ist aber kein pädagogischer Zeigefinger, sondern bleibt immer angenehm im Hintergrund. 

Ich bin einfach hin und weg, und ich hätte nie gedacht, dass die über dreißig Jahre ältere Serie auch heute noch so unglaublich bereichernd sein kann. Sorry, aber da wird alles Andere gerade unwichtig. Bear with me, cat, too.

Montag, 23. Mai 2022

Have your cake... and eat it!


Oh mann.

Das war mal echter Horror - so schlecht, dass es wehgetan hat. Und dieser Schrott hat haufenweise Nominierungen für Preise erhalten, darunter Golden Globe und Emmy-Awards. Jetzt werde ich einen Beitrag schreiben, in dem ich fürchterlich arrogant klingen werde, wenn man zwischen meine Zeilen etwas hineinliest. Aber wer mich kennt, weiß, dass ich einfach nur Fakten aufliste.

Es ist ein Irrglaube, wenn man denkt, nur weil eine TV-Serie viele Staffeln hat, weil einige Gaststars dort auftreten, weil sie Publikumspreise bekommen hat, weil sie in der IMDb eine sehr gute Wertung halten hat, dass das dann tatsächlich eine gute Show ist. Es ist mal wieder ein Fall von unterschiedlicher Wahrnehmung: Das Publikum liebt es, die Kritiken verreißen es.

Zumindest teilweise: Viele bemühen sich, der Serie American Horror Story Gutes abzugewinnen. Gibt es auch: Etwa Eins Komma Drei gute Szenen in jeder Folge und Jessica Lange spielt mit. Eine der großen Schauspielerinnen, die sich trotz der Triple Crown of Acting nicht zu schade dafür sind, sich dem Schrott hinzugeben. Helen Mirren ist auch so eine. Ich akzeptiere das.

Und ich glaube, wenn man mit dem Bewusstsein herangeht, dass es eine Serie von inkompetenten Machern ist, dann kann man da auch viel Spaß haben; wenn man einfach nicht zu viel erwartet. Da fällt das alles gar nicht auf: Grottenschlechte Schauspieler, tonnenweise acting out of character, plot holes, fehlende Anschlüsse, Kameraführung ohne Konzept, Sinn und Verstand, infantile Dialoge, negativ-dimensionale Charaktere, die ohne Vorwarnung zwischen verschiedenen Persönlichkeiten hin und her springen (und dafür gibt es leider keine plotbedingte Erklärung), male gaze, dass es einem zu den Ohren herauskommt, Homophobie und natürlich auch eine Frau mit dem Down-Syndrom, die "tragisch" in der Mitte der Serie stirbt, nachdem sie eine Barrikade von "Mongo-Sprüchen" abbekommen hat. 

Wenn man tatsächlich die ganze erste Staffel (Murder House) durchgeschaut hat, ergibt am Ende alles irgendwie Sinn, und die vorletzte Szene ist auch gut. Blöd nur, dass der schöne Eindruck durch die letzte Szene kaputt gemacht wird - als hätten die Macher das Gefühl, sie müssten immer noch einen obendrauf setzen, völlig egal, ob die Drehbuchlogik das überhaupt hergibt.

Unheimlich ist das ganze an keiner Stelle. Das ist kein Horror, das ist Trash-Comedy. Sicherlich hat auch das Genre seine Berechtigung, aber ich habe gemerkt, dass ich das nicht aushalte. Ich habe eine Aufmerksamkeitsspanne von mehr als drei Sekunden, und deswegen fällt mir jede noch so kleine Ungereimtheit auf, und ich kann nicht einfach drüber hinweglächeln und Spaß haben. Ich habe mehrfach überlegt, das Ganze abzubrechen - aber sowas mache ich nicht. Ich habe Geld für die gesamte Staffel ausgegeben, also schaue ich sie mir auch bis zum Ende an. Have your cake... and eat it! 

Hier ist mir meine Intelligenz im Weg. Ich bin völlig unfähig, so etwas zu genießen. Ich habe mittlerweile so viele von Roger Eberts Filmrezensionen gelesen, dass ich zu dem Schluss komme, er könnte auch ein Aspi gewesen sein. 

*kurze Recherche* 

OMG! Ich lese, dass Ebert tatsächlich auch ein Aspi war - da fällt mir alles wie Schuppen von den Augen - warum er so viel Gutes in Filmen sehen konnte (wie zum Beispiel in The Cell (2000) oder Stay (2005), die von den meisten anderen Kritikern komplett verrissen wurden), warum er mit Dummheit überhaupt nicht klargekommen ist, warum so viele ihn gehasst haben, warum ich seine Rezensionen liebe.

Das macht jetzt alles einen Sinn.

Ich sollte American Horror Story dankbar sein.

post scriptum: Ich brauche dringend ein Antidot, ein Gegengift gegen diese stupide Unterhaltung, Zeitverschwendung, wie auch immer man es nennen will. Also schaue ich mir nochmal "The Haunting of Hill House" an - um wieder zu erleben, was eine wirklich gute Haunted House-Serie ist.

paulo post scriptum: Ohklott, das klingt jetzt alles so bösartig! War aber nicht so gemeint. Es ging mir nur darum: Ich kann mein Gehirn nicht abschalten, und ich kann den Fehler-Geigerzähler nicht abschalten. Ich *kann* so eine Serie nicht genießen, und ehrlich gesagt beneide ich die Zuschauer, die das schauen und einen Mordsspaß haben...

Dienstag, 3. Mai 2022

Bitte kein Lob!


"Dr Hilarius, sie haben einen Fanclub hier an der Schule."

"Aber ob das so sinnvoll ist, wenn ich vielleicht nicht an der Schule bleiben kann?"

Ich kann Lob und Komplimente nicht einfach stehen lassen - ich kann damit nicht umgehen, und wenn ich dann mal gelobt werde, versuche ich fast schon krampfhaft, das gleich zu relativieren. Das könnte eine Aspi-Sache sein (kam in der Literatur vor), aber vielleicht geht es Euch neurotypischen Menschen ja auch so? 

Ich mag kein Lob. Wie soll ich darauf reagieren? Warum bekomme ich ein Lob, wenn ich eine Sache richtig gemacht habe und nichts Besonderes dabei war? Ich muss das gleich niedermachen:

"Dr Hilarius, wir wollen sie wieder als Lehrer haben."

"Naja, so toll ist mein Unterricht wirklich nicht, es gibt so Vieles, was die anderen Kollegen besser können. Da lernt ihr wahrscheinlich deutlich mehr."

Gerade wenn es ein allgemeines Kompliment ist, bin ich direkt verwirrt: Wofür denn jetzt? Was habe ich getan? Ich kann mich nicht erinnern, irgendwas Lobenswertes vollbracht zu haben. Ich bin einfach nur ein kleiner Englischlehrer, ohne Funktionsstelle in der Schule, ich möchte Buletten, und nicht herausragen! (die Sannitanic versteht das)

Habt Ihr einen Tipp, wie ich auf sowas reagieren soll? 

Dienstag, 22. März 2022

OMG!!! (Asperger-Vokabular)

Was passiert im Kopf vor, während und nach der Explosion?

vorweg: Ich schreibe in diesem Artikel immer von dem Asperger-Syndrom, dabei kommen die drei beschriebenen Phasen in allen Formen der Autismus-Spektrums-Störung vor.

Ach herrje, verschrieben - gemeint war OMS!!! Zeit für ein bisschen Aspi-Vokabular, und O-M-S steht für eine klassische Abfolge von emotionalen Zuständen bei einem typischen Aspi-Wutausbruch oder einer Panikattacke. Das könnte interessant sein für diejenigen von uns, die einen Aspi unterrichten oder Umgang mit ihnen haben. Übrigens, dass ich immer DER Aspi sage, liegt nicht nur daran, dass ich gern das generische Maskulinum verwende; Jungen und Männer sind achtmal häufiger von dem Asperger-Syndrom betroffen als Mädchen und Frauen. Und wo wir schon bei der Aufklärung sind: Autismus ist KEINE Krankheit (sondern eine Behinderung, die man nicht mal eben als Nebenwirkung von Impfungen bekommen kann und die auch nicht geheilt oder behandelt werden kann), und es ist eher kontraproduktiv zu sagen, jemand LEIDE an Autismus (Wenn Autisten an etwas leiden, dann an der Art und Weise, wie ihre Mitmenschen mit ihnen umgehen).

1.Phase: Overload (Überladung)

Es passiert zu viel zur selben Zeit: Visuelle Impulse, unerwartete Anblicke, zu viele Geräusche, zu viele verschiedene Stimmen und Sachen, die im Kopf ablaufen. Da diese Dinge nicht abgearbeitet werden können, stapeln sie sich im Aspi-Kopf und er rast exponentiell auf die zweite Phase zu. Bei mir merkt man es daran, dass ich ruhig werde und nicht mehr rede. Sollte ein Aspi-Schüler in dieser Phase Stimming betreiben (repetitive Bewegungen, Schaukeln mit dem Körper, mit den Händen wedeln, summende Geräusche von sich geben und so weiter), sollte man ihn das tun lassen, denn das ist die beste Art, der nächsten Phase vorzubeugen.

2.Phase: Meltdown (Kernschmelze)

Dieser Phase vorzubeugen, scheint einfacher zu werden, wenn man älter wird, aber ganz lässt es sich nicht vermeiden, dass der Input-Overload zu einem Ausbruch führt. Der Aspi schreit oder schlägt um sich oder bricht in Weinkrämpfe aus - oder alles zusammen. Er sieht keine andere Möglichkeit, sich gegen die vielen Gedanken zu wehren. Von außen wird dieses Verhalten oft als überdramatisch gesehen - was daran liegen könnte, dass es für den Aspi dramatisch ist.

3.Phase: Shutdown (Abschaltung)

Manchmal macht der Aspi nach dem Wutausbruch komplett dicht. Er redet nicht mehr, wendet sich von allem ab. Man sollte ihn jetzt in Ruhe lassen, bis er von sich aus wieder den Kontakt sucht oder es zumindest zulässt, dass man ihn anspricht. Bei mir dauert diese Phase je nach Intensität des Meltdown zwischen drei Stunden und drei Tagen.

Ich fand es interessant, das vor einigen Wochen zu lesen, weil ich es bei mir selbst immer wieder beobachten kann, sei es nun bei einem Wutausbruch im Klassenzimmer (dann gewöhnlich ohne die Shutdown-Phase), bei einer Panikattacke (die bei einem Overload gewöhnlich mit Stimming abgefangen wird) oder bei einem Nervenzusammenbruch. In letzterem Fall beobachte ich bei mir alle drei Phasen, und ich erzähle als Beispiel von jenem Zusammenbruch vor einigen Jahren, von dem ich vorgestern geschrieben hatte.

An jener Schule hatte ich angefangen mit der Aussicht, über eine Vertretung hinaus nach Ablauf des Schuljahres eine Planstelle zu bekommen, oder zumindest eine Verlängerung. Auf dieser Gewissheit hatte ich meine Schulzeit aufgebaut, das hat mir etwas Sicherheit gegeben und vor allem dabei geholfen, dass ich entgegen dringender Bitten ausschließlich in den Klassenstufen Fünf bis Sieben eingesetzt worden bin. 

Dort ist es zwar zweimal zu den Overload-bedingten Wutausbrüchen gekommen - Schüler von allen Seiten geben mir zu viele Impulse, die ich nicht verarbeiten kann, ich spiele mit etwas oder knacke mit meinen Fingern, um mich zu beruhigen (Stimming), manchmal reicht das aber nicht und dann schreie ich für Schüler völlig unerwartet alles heraus. Termin bei der Schulleitung.

Die wirklich interessante Szene kam aber, als ich kurz nach den Osterferien bei der Schulleitung saß, um das nächste Schuljahr ein wenig zu planen - welche Projekte oder AGs ich vielleicht machen könnte. Der SL reagierte ein wenig verwirrt:

"Wieso nächstes Jahr? Ich dachte, dein Vertrag läuft zum Ende des Schuljahres aus?"

Erster gedanklicher Stolperstein, Zug entgleist zwar noch nicht vollkommen, aber ich blicke mich etwas hilflos im Büro um, um den Faden wiederzufinden, und sage:

"Naja, XY meinte bei der Einstellung zu mir, dass ich länger bleiben kann."

"Das kann ich mir gar nicht vorstellen, wir haben genug Englischlehrer, mit deiner Fächerkombination bist du nicht mehr interessant für uns."

Overload: Das sind zu viele Gedanken auf einmal, die ich nicht verarbeiten kann. Ich bin nicht mehr als eine Fächerkombination? Warum hat XY gesagt, ich könne bleiben? Warum weiß der (neue) SL nichts davon? Arbeitslosigkeit. Antrag stellen. Wieder eine neue Schule suchen. Ich rede nicht mehr. Ich schaue mich hektischer im Raum um, mein SL legt nach:

"Deswegen haben wir dich auch fest bei der Verabschiedung im Sommer eingeplant, weißt du nichts davon?"

"Nein. Ich möchte nicht zu der Verabschiedung kommen. Ich möchte mir nicht schon wieder anhören müssen, dass ich doch bestimmt schnell eine neue Schule finde. Kannst du mich da bitte ausplanen."

"Also das fände ich jetzt aber nicht in Ordnung von dir. Die Kollegen möchten sich schließlich von dir verabschieden können."

Meltdown: Jetzt bekomme ich auch noch den schwarzen Peter zugeschoben. Dafür, dass ich mich der Demütigung im Kollegium nicht aussetzen möchte. Fuck you. Ich merke, wie meine Gesichtsmuskeln sich verkrümmen. Ich möchte etwas gegen die Wand werfen und laut werden. 

"Ich gehe dann mal, wenn es nichts weiter gibt."

Das sage ich zu dem Standventilator in der Ecke, weil ich meinen SL jetzt nicht anschauen kann. Ich nehme meine Sachen, schaue konsequent auf den Fußboden und navigiere meinen Weg durch das Schulgebäude in mein Auto. Auf der Fahrt nach Hause fange ich an zu heulen, kann mich kaum auf den Verkehr konzentrieren, versuche noch irgendwie durchzuhalten.

Zuhause angekommen folgt dann der totale Zusammenbruch. Egal, was ich mache, Videospiele, Musik hören, baden, ich kann nicht mehr aufhören mit den Tränen und mein Körper verkrampft immer weiter. Drei Stunden später wird es endlich weniger. Ich ziehe das Telefon raus, verziehe mich in die Videospiele und bekomme von meiner Umwelt nichts mehr mit.

Shutdown: Drei Tage lasse ich das Telefon ausgestöpselt, lese keine Mails und öffne keine Briefe mehr. Ich versuche jeglichen Input von außen zu vermeiden, ich will niemanden sehen, hören oder lesen, ich will einfach nur meinen Kopf aufräumen und wieder zur Ruhe kommen. Diese Phase ist besonders schlimm, denn jeder Brief, der durch den Schlitz geschoben wird, und jede neue Nachricht, die mir angezeigt wird, erhöht den Druck auf meinen Schultern.

Drei Tage später bin ich wieder in Ordnung. Das Telefon lasse ich weiter abgeschaltet, brauche ich nicht. In der Schule schaue ich nur noch auf den Boden, habe mein weißes Outfit an, die Schüler wissen, was das bedeutet.

Das ist bisher nicht nur einmal vorgekommen. So ging es mir nach meiner mündlichen Examensprüfung in Englisch, so ging es mir nach meinem Dienstleitergutachten im Referendariat und insgesamt an fünf von sieben Schulen. SPO nicht, und KGS auch nicht.

Was bedeutet das für uns als Lehrer? Mit etwas Glück hat der Aspi eine Schulbegleitung, die genau weiß, was zu tun ist. Ansonsten: Sobald sich der Meltdown ankündigt (auf repetitives Verhalten zur Beruhigung achten) - und spätestens danach, den Schüler von der Lerngruppe isolieren, ihn in eine ruhige Ecke bringen, am besten einen isolierten Raum, zur Not Kopfhörer aufsetzen, damit er nichts hören muss, und ihn zehn bis zwanzig Minuten beruhigen lassen. 

Und nicht mit blöden Sprüchen kommen wie "Daran muss er sich gewöhnen, so ist das Leben nun mal."

post scriptum: Jemand hat mir gesagt, dass das Schulsystem uns alle kaputt mache. Ich dachte erst, dass das nur eine der üblichen Phrasen sei, mit denen man um sich wirft - aber es scheint eine ganze Menge mehr dran zu sein. Vielleicht wäre der Austritt aus dem Schulsystem eine Möglichkeit, sich dem nicht mehr auszusetzen und fertig machen zu lassen.

Dienstag, 15. März 2022

Spaziergang


Einfach mal auf ein Gespräch treffen. Bisschen plaudern. Ganz unkompliziert.

Früher war das gar nicht so ein großes Problem für mich, aber seit der Stresssituation geht das überhaupt nicht mehr. Wenn mich jemand fragt, ob wir uns nicht mal auf ein bisschen Schnacken treffen, würde ich am liebsten einfach nur nein sagen. Smalltalk ist für einen Aspi extrem unangenehm: Er weiß nicht, wie er das Gespräch beginnen soll, wie er es am Laufen halten soll, wann und wie er es beenden soll, und es besteht die Gefahr, dass er das Gespräch immer wieder auf seine Spezialthemen lenkt.

Wenn Linnea von damals-unten gefragt hat, ob sie kurz mal raufkommen kann, war das in Ordnung - nachdem ich ihr meine Probleme damit erklärt habe und dass ich irgendwann dann einfach etwas sage wie "Ich würde jetzt gern wieder allein sein", ohne dass sie es persönlich nimmt.

Es ist viel einfacher, wenn das Gespräch zweckgebunden ist, beziehungsweise sein Rahmen. So hat ein HB-Bekannter gefragt, ob wir uns treffen wollen. Es hat erstmal ein paar Momente gedauert, bis ich mich zu einem "ja" durchgerungen habe (weil es ein paar konkrete Themen gab), und dann hat er vorgeschlagen, dass wir einfach einen Spaziergang machen, da kann man auch einfach mal zwischendurch ruhig sein und die Umgebung anschauen, und die ganze Veranstaltung hat ein klares Ende.

Das war richtig gut!

Ich denke mir immer, dass ich es in solchen Gesprächen nicht länger als dreißig Minuten aushalte, aber wir sind über eine Stunde durch das Drachensee-Gebiet gewandert und haben uns über viel Interessantes unterhalten, zum Beispiel das Konzept der safe spaces an einer Schule für LGBTQ - vor allem aber auch für HBs und Schüler mit Autismus-Spektrums-Störungen.

Ich habe die Zeit vollkommen aus dem Blick verloren, und das ist für mich immer ein gutes Zeichen; das war ein wunderbarer Spaziergang.

Vielen Dank, Sven!

Freitag, 11. März 2022

Brief an...

Dr Hilarius und Mr Beka

vorweg: Name geändert.

Hey Mr Beka,

erinnerst Du dich noch an mich? Es ist jetzt genau zehn Jahre her, dass ich Dich besucht habe. Ich fand Dich immer irgendwie cool, und wollte wissen, wer sich hinter dem Avatar bei Eve&Rave verbirgt. Wer der Typ hinter dem Pop Art-"Dude, WTF?"-Lächeln ist. Und wir haben uns hin und her geschrieben, hier und da mal über Skype telefoniert, und Du wusstest, dass ich ein bisschen in Dich verknallt war. Alles kein Problem! Und Du hast meine Erfahrungen mit der Substanz K akzeptiert. Deine Offenheit hat mich beeindruckt. Mittlerweile weiß ich, warum ich eigentlich nie zu unbekannten Menschen gefahren bin, gerade wenn sie auch noch einige hundert Kilometer entfernt wohnen; trotzdem bin ich in den Zug zu Dir gestiegen.

Die Zeit, die wir bei Dir verbracht haben, war ein Auf und Ab - ich werde nicht vergessen, wie schön es war, zusammen auf Deinem Bett rumzuhängen, bisschen zu kuscheln, das Suchtpräventionsvideo für die Schüler aufzunehmen, mit Deiner Ma zu reden, aber ich werde auch nicht vergessen, wie ich Dich zur Substi begleitet habe, die Platte, die Straßenbahn, wie ich heulend bei Dir zusammengebrochen bin, weil die Erkenntnis zu viel für mich war, dass Dein Leben tatsächlich seit dem einen Schuss Heroin dermaßen den Bach runter gegangen ist. Das hat mir die Augen geöffnet, aber es war ein herber Absturz an dem Tag. Manisch-depressiv, wir beide haben das an dem Tag verkörpert. Das ist übrigens der Grund, warum mir Bromazepam im Kopf hängen geblieben ist: Es hat mir damals bei der Panikattacke extrem geholfen, und deswegen sollte ich mir irgendwann vom Arzt endlich was verschreiben lassen, denn solche Panikattacken gibt es immer wieder mal.

Und dann, nach diesem Besuch, ist der Kontakt in die Brüche gegangen. Ich sollte ehrlich sein: Ich habe den Kontakt abgebrochen, und das ist nicht schön gelaufen, und Du hast auch Dir deswegen Vorwürfe gemacht. Ich hatte damals einfach nur so etwas gesagt wie "Ich kann damit nicht umgehen, dass dein Leben eine Achterbahn ist, ein Tag toll, ein Tag am Abgrund". Erst viele Jahre später habe ich herausgefunden, wo genau das Problem für mich lag - und liegt. Ich möchte es Dir hier erklären, damit Du nicht denkst, es sei Deine Schuld, dass wir keinen Kontakt mehr haben. Das ist es nicht. Du kannst absolut nichts dafür.

Ich wusste damals nicht, was es genau bedeutet, wenn man eine bipolare Persönlichkeitsstörung hat. Ich habe es erlebt, in den Chats mit Dir, bei'm Skypen und auch als ich Dich besucht habe, aber ich wusste nicht, dass das eine psychische Erkrankung ist. Ich konnte damit nicht umgehen, weil ich weder wusste, was die Ursache für Deine Stimmungsumschwünge war, noch wusste ich, wie ich damit umgehen und in den jeweiligen Situationen reagieren soll. 

Du bist unberechenbar (bin ich offensichtlich auch, wie man mir mittlerweile gesagt hat) - und ich bin Asperger-Autist. Ich kann mit Unberechenbarem nicht umgehen, sei es das Wetter, der Stundenplan, das Telefon oder eben menschliches Verhalten, also versuche ich das alles zu vermeiden, so weit es geht. Den Kontakt mit Dir abzubrechen war eine Schutzfunktion, denn ich wollte uns beide nicht noch weiter verletzen. Ich hatte damals keinen Weg gesehen, wie es gut mit uns beiden hätte weitergehen können.

Das war total scheiße, denn Du warst so nett, und ich hatte noch nie von mir aus bewusst den Kontakt zu jemandem abgebrochen. Das war eine absolut miese Phase, aber vielleicht besser für uns beide. Einfach, weil unsere Gehirn-Konfigurationen nicht gut gepasst haben. Du kannst nichts dafür.

Ich erinnere mich noch sehr gut an Deine panische Nachricht eines Morgens, als Du einen lokalen Bäcker und die Apotheke überfallen hast, um an Geld und Benzos zu kommen. Ich erinnere mich genau an den Artikel darüber in Eurer Lokalzeitung, den Du mir am nächsten Tag gezeigt hast. Ich hoffe, dass Du einen Weg für Dich im Leben gefunden hast. Du warst, vielleicht ohne dass Du es wusstest, einer der wichtigen Menschen in meinem Leben. 

Danke, dass Du für mich da warst.

Dr Hilarius

Freitag, 4. März 2022

Der positive Spin


Heute war ein großer Prüfungstag und ich habe etwas Wichtiges über mich gelernt - was ich eigentlich aus den Fachbüchern schon wusste, aber heute habe ich es live erlebt und kann Euch nun ein daraus destilliertes Glas Asperger pur anbieten:

Projektpräsentationen. Die Projektmappe wurde schon vor zwei Wochen eingereicht, und heute war dann quasi der Höhepunkt, die Schüler präsentieren ihr Thema. Geile Sache, wir hatten das damals erst im zwölften Jahrgang. Da kann man sich, wenn man speziell ist, mal richtig austoben - aber darum geht es jetzt nicht. Ich habe beide Vorträge heute genossen - und ich bin heilfroh, dass meine Zweitprüferin dabei war.

Asperger-Autisten sind wandelnde Geigerzähler für Unstimmigkeiten. Sie sehen (beziehungsweise spüren, ist tatsächlich so), wenn etwas fehlerhaft ist. Dieser andauernde Zustand führt dazu, dass ich nur darauf schaue, was alles falsch ist an dem Projekt. Hinweis Richtung Sannitanic: Ich meine damit nicht, dass ich das gern anders gehabt hätte, sondern objektive Fehler. Das ist, als ob da bei mir im Kopf sofort eine Lampe angeht, und es fühlt sich oft sogar gut an. Im Sinne von "Ha, ich hab' was gefunden!" - don't judge me, ich kann es nicht abstellen.

Und es kommt noch besser: Die Notenbekanntgabe wirkt bei mir fast wie eine Urteilsverkündung: Der Aspi bringt keine "Das habt ihr aber fein gemacht"-Phrasen. Er sagt "Das war gut", "Das war ausdifferenziert", und vor allem sagt er "Das ging nicht weit genug in die Tiefe", "Da war zu wenig Eigenleistung drin", "Da hätte etwas Kreatives und Originelles hingehört". Ich finde erst im Nachklapp - wenn überhaupt - einen positiven Spin des Ergebnisses. Ich klatsche den Prüflingen meine Kritik hin und bin zufrieden, dass ich am Ende die Note nachvollziehbar und logisch erläutert habe. Perfekt, Prüfung ist rund gelaufen, weiter im Programm.

"Ihr beide lasst gerade die Köpfe hängen, oder?"

Ich schaue zu meiner Zweitprüferin. Der Satz kommt von ihr. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mal wieder zu sachlich-direkt war. Sie ist diejenige, die plötzlich das "menschliche" Element reinbringt, das Verständnis. Sie versucht, den Absturz in den Köpfen aufzuhalten, sie seht den impact bei den Schülern. Sie sieht, dass sie unglücklich sind. 

Ich sehe das nicht.

Reading mind in the eyes, so heißt ein relativ neues Testverfahren für Menschen mit dem Asperger-Syndrom. Tendenziell können Aspis Gesichtsausdrücke schlechter deuten als neurotypische Menschen. Das sagt mir das Lehrbuch, und heute habe ich es live erlebt. Ist also heute mal ein doppelter Asperger pur: Konzentration auf die Fehler, Emotionen nicht lesen können. Und für die Schüler ein Schlag vor's Gesicht: Dr Hilarius, der sonst eigentlich immer so gechillt und nett ist, gibt uns so eine Abrechnung.

Ich möchte keine Ausbildungslehrkraft werden.

Donnerstag, 24. Februar 2022

Das Wander-Shampoo

Schwer zu erkennen, aber ich hatte damals seeeeeeehr lange Haare...

"Oh, du lässt dir die Haare länger wachsen, das steht dir."

Aber ich mag das eigentlich gar nicht mehr. Ich hatte einmal sehr lange Haare, einfach um es auszuprobieren (und weil der Schlagzeuger, in den ich damals verliebt war, auch lange Haare hatte). Da gab es immer wieder Menschen, die Komplimente zu meiner "Löwenmähne" machten, aber in meinem Kopf waren ganz andere Gedanken: "Es nervt." 

Es nervt, andauernd Spülungen und Haarkuren verwenden zu müssen (auch wenn es sich toll anfühlt, wenn die Haare bei'm Waschen weich werden). Es nervt, ewig lange die Haare zu föhnen, bis sie endlich trocken sind (aber ich habe damals gelernt, dass man überhaupt nicht mehr föhnen sollte, weil das die Haare stresst). Es nervt, alles vollzuhaaren. Es nervt, wenn mich die langen Haare bei'm Denken stören - klingt albern, ist aber so. Ich fände es praktischer, überhaupt keine Haare zu haben, dann lenkt da auch nichts ab.

Deswegen nehme ich gern the next best thing und lasse mir von Tina die Haare mit der Maschine absäbeln, damit der Kopf sich endlich wieder frei fühlt. Dass die Haare gerade wieder länger werden, liegt einfach daran, dass ich nicht daran denke, zum Friseur zu gehen. Das passiert bei schönen und unschönen Stimmungen, da vergesse ich alles Wichtige (essen, Müll rausbringen, Geschirr spülen, Rechnungen bezahlen). Egal. Morgen frage ich Tina, ob sie vielleicht übermorgen noch was frei hat. 

Was ich allerdings an den etwas längeren Haaren genieße, ist die Haarpflege, seitdem ich festes Shampoo und Spülung benutze. Laut Bedienungsanleitung soll man das Shampoo mit den Händen aufschäumen und dann in den Haaren verteilen - ich halte mein Shampoo einfach in der rechten Hand, während ich die Kopfhaut massiere, das funktioniert wunderbar. Klar, das Stück ist dann etwas schneller aufgebraucht (hält aber immer noch sehr lange), aber es fühlt sich auf diese Weise so intuitiv an und wie aus einem Guss, ohne zwischendurch die Shampooflasche öffnen zu müssen oder das Waschstück zur Seite zu legen.

Mittlerweile bekomme ich ein wenig Routine und kann meine Hände so interagieren lassen, dass das Stück von der einen Hand zur anderen wandert; anfangs hatte ich tatsächlich immer nur die rechte Hand benutzt (Aspis tendieren zu Problemen mit der Feinmotorik und Handkoordination). Jetzt ergänzt sich das zusammen mit dem Thermostat in der Duscharmatur zu einem Gefühl von "richtig". Von "mein Zuhause". Deshalb zählt dieser Beitrag als Home Improvement.

post scriptum: Ich hoffe, die große Buba fühlt sich bei dem Titel an unsere heißgeliebte Wanderkotze erinnert!