Sonntag, 29. Januar 2023

Mal drüber nachdenken


In den USA ist Anfang Januar ein schwarzer Mann bei einer Polizeikontrolle in den USA verprügelt worden und dann drei Tage später an seinen Verletzungen gestorben. Soweit (leider) nichts Neues. Wobei doch, diesmal kann man auf den Bodycams und Überwachungskameras sehen, dass es überhaupt keinen probable cause für die Kontrolle gab - der Mann wurde ohne Anlass angehalten, zu Boden gebracht und verprügelt, ohne dass er sich gewehrt oder die Beamten irgendwie anderweitig provoziert hätte. Zu hören, dass er dann von den Polizisten an den Schultern hochgehoben und ihm mehrmals in's Gesicht getreten wurde, das löst etwas Unbehagen aus, vielleicht.

Erinnerungen an George Floyd werden wach, und an Derek Chauvin, den hauptverantwortlichen Polizisten, der jetzt für eine lange Zeit wegen Mordes im Gefängnis sitzt, ebenso wie seine Kollegen für Beihilfe und unterlassene Hilfeleistung. Polizeigewalt gegen Schwarze ist nichts Neues in den Vereinigten Staaten. Es ist nicht auffällig, dass Schwarze häufiger ohne Anlass kontrolliert werden. Es ist nicht auffällig, dass mehr psychische Gewalt bei ihrer Vernehmung angewandt wird, und es ist auch nicht auffällig, dass letztlich viel schneller zum Mittel körperlicher Gewalt gegriffen wird als bei weißen "Opfern". Kein besonderer Fall eigentlich.

Eigentlich.

Was diesen Fall interessant macht ist, dass die fünf Beteiligten Polizisten allesamt ebenfalls schwarz sind. Kein einziger weißer Mann in ihrer Runde - und damit wird es etwas schwerer, diesen Fall zu bewerten. Eine Lesart, die sich schnell herauskristallisiert hat: Das amerikanische Polizeisystem zwinge auch afroamerikanische Beamte, sich zu "assimilieren" und ebenfalls gegenüber Schwarzen häufiger, leichter und mehr Verdächtigungen und Gewalt anzuwenden. Das Narrativ von der white supremacy könnte damit aufrecht erhalten werden.

Ich kann diesen Fall nicht bewerten, weil mir dazu die Nähe fehlt und jegliche politische und historische Kenntnis und Eignung. Ich finde den Fall grausig, wie jedesmal, wenn ich von ähnlich gelagerten Fällen lese. Dass nun aber Schwarze auf Schwarze losgehen - und nicht zu verstehen, ob sie es wollen oder müssen - das beunruhigt mich.

Und das wollte ich einfach teilen.

post scriptum: Ich habe jetzt die vier von der Polizei geteilten Videos des Einsatzes gesehen und sie sind nur schwer zu ertragen. Wie Nichols grundlos gestoppt wird, wie er zu Boden gebracht wird, getreten, geschlagen, mit dem Taser getroffen, weiter getreten, geschlagen, angeschrien, in's Gesicht getreten, wie die Polizisten danach lachen müssen über Aspekte des Einsatzes, und wie sie sich ein Narrativ zurechtlegen, das ihre Brutalität in dem Einsatz rechtfertigen soll - er habe eine Waffe gehabt, habe nach den Waffen der Polizisten gegriffen, habe Widerstand geleistet - alles Lügen.

Dafür ist mir in diesem Zusammenhang positiv aufgefallen, wie schnell die Polizeidirektion diesmal reagiert hat. Kein Schweigen, kein Vertuschen, kein gaslighting, sondern direkt die Veröffentlichung aller betreffenden Überwachungsvideos, direkt die Entlassung der Polizisten und ihre Anklage, unter anderem wegen Mordes zweiten Grades. Einer der ganz seltenen und willkommenen Fälle, in denen die Polizei einmal vernünftig reagiert und Menschen für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden.

Natürlich verfolge ich diesen Fall auch in den nächsten Tagen, um zu sehen, wie das Strafmaß für diese fünf Männer ausfallen wird. Vielleicht nicht ganz so hart wie das für Derek Chauvin (den Mörder von George Floyd), aber hoffentlich angemessen im Verhältnis zur eingesetzten grundlosen Brutalität.

Es ist so typisch menschlich, dass wir denken, mit Gewalt könnten wir alles erreichen, wenn wir mit Worten nicht sofort Erfolg haben. Davon mache ich mich nicht frei - und wenn es nur das Herumschreien im Klassenraum ist. 

Es ist der alte Topos, dass die Menschheit sich selbst zugrunde richten wird. Let's go!

Donnerstag, 26. Januar 2023

Jungs, die kuscheln...


...und sich gegenseitig den Bart kraulen. Deswegen liebe ich diesen Job.

Heute war der letzte Schultag vor den Zeugnissen - für Einige wird es morgen das böse Erwachen geben, wenn sie schwarz auf weiß sehen, dass sie vielleicht im ersten Halbjahr doch einmal den Arsch hätten hochbekommen sollen, um für die Schule zu arbeiten. Andere waren bereits heute überrascht, was sie sich für gute Noten erarbeitet haben - sowas sehe und höre ich gern.

Es geht aber gerade nicht um die Zeugnisse, sondern den heutigen Schultag, der echt schön war. Richtung Nachmittag etwas ruppiger, aber trotzdem gut. Mein Grundkurs in Neun hat heute richtig gut mitgemacht. Das war eine tolle Doppelstunde, weil sie sehr authentisch war: Prüfungsvorbereitungen für den ESA, für das Fach Englisch, aber auf Deutsch. Wir wiederholen, wie man Fragen formuliert, und fragen uns gegenseitig aus, für die Dialogaufgaben, und die haben mitgemacht! Alle! Ich war total begeistert, erste Stunde die dröge Grammatikwiederholung, zweite Stunde dann die praktische Anwendung, und das hat Spaß gemacht.

Und ich realisiere immer mehr, dass viele SchülerInnen zuhause überhaupt keine Grenzen aufgezeigt bekommen oder dass Eltern überfordert sind. Ich habe SchülerInnen, die sich unglaublich viel rausnehmen, und dann kann man auch mal sehr laut oder im Gespräch unter vier Augen sehr streng und deutlich werden - so dass sie erstmal komplett wütend sind und dichtmachen.

Thekla hat mir damals erklärt "Wenn du das machst, verlierst du sie. Dann wirst du ihnen scheißegal." - und sie hat Recht, deswegen mache ich die strenge, harte Tour auch erst, wenn die Kiddies einigermaßen wissen, wie ich ticke, und wenn sie mich für sich akzeptiert haben. Denn dann trifft es - und dann sind sie in der nächsten (oder übernächsten) Englischstunde auch nicht mehr wütend, und man kann wieder auf die spaßige Tour arbeiten. Muss zwischendurch halt mal knallen (bildlich gesprochen, ich sehe schon die Beschwerden).

Und dann gab es tolle Szenen über den Tag verteilt - eine Lerngruppe sollte flash plays schreiben, in Gruppenarbeit mit nur zwanzig Minuten Vorbereitungszeit eine winzige Szene um die zwei Minuten kreieren - und zwar so, dass ich danach das Publikum fragen konnte, inwiefern es sich um eine genretypische Szene der gothic fiction handelt. Die haben das begeistert mitgemacht, damit hatte ich nicht gerechnet - ein Genuss!

Und was war noch? Zwei Schüler, die nebeneinander sitzen - im Unterricht - der eine kuschelt sich an den anderen, der andere krault ihm den Bart. Ich finde es grandios, dass man an unserer Schule so eine Hetero-Bromance ausleben kann (und vielleicht ist da ja auch ein Fünkchen Wahrheit drin), das wäre an vielen anderen Schulen undenkbar.

Ich liebe diese Schule!

post scriptum: Und ich habe einen neuen "spannenden" Schüler am Haken. Mal sehen, was die nächsten Gespräche und Beobachtungen so ergeben. Die große Buba weiß ganz genau, was das bedeutet.

Dienstag, 24. Januar 2023

Das fahrende Waschbecken


vorweg: Nein, dieser Beitrag ist nicht nur für die große Buba.

Es fühlt sich an, als sei ich seit dem dritten Januar blockiert. Unfähig, aktiv zu werden, aufzuräumen, zu korrigieren. Ob das ein kleiner Schluck Asperger pur ist? An jenem Tag hat Ulf meinen Backenzahn unten links aufgebohrt, musste auch sein, und das Nervengewebe daraus entfernt. Dann provisorisch gefüllt, und an einem weiteren Termin drei Wurzelkanäle gefüllt - und wieder ein Provisorium drüber. Zwischendurch ist mir auch noch ein Stück des Zahn abgebrochen und es fühlt sich immer noch wie ein Steinbruch in meinem Mund an, wenn ich mit der Zunge drangehe. Und das tue ich oft. Einfach weil es sich so ungewohnt anfühlt, und so unfertig.

Und genau das ist die crux. Eine unfertige Arztgeschichte sorgt dafür, dass ich mich kaum auf etwas Anderes vernünftig konzentrieren kann. Das sind die Momente, in denen ich es hasse, auf dem Spektrum zu sein. Es könnte alles so viel einfacher sein - stattdessen muss ich meine SchülerInnen immer weiter vertrösten und suche meine Notenlisten unter Papierstapeln. Etwas ungünstig, wenn Zeugniskonferenzen anstehen.

Aber die sind, wie immer, eines der Highlights meines Schuljahres. Ich bin immer wieder so gespannt, wie "meine Kiddies" sich in den anderen Fächern so machen, und wie die KollegInnen über sie reden. Wieder eine Gelegenheit, die Vermutungen zur Hochbegabung oder Autismus-Spektrums-Störung durch Erfahrungsberichte anderer Fächer zu erhärten, oder - und manchmal ist mir das lieber - sie zu zerschlagen. 

Es ist aufregend, die Zeugnisspiegel meiner SchülerInnen zu sehen. Ich liebe Zahlen, Zahlenvergleiche und Schemata wie die Übertragungsnoten (der vier unterschiedlichen Anforderungsniveaus ESA, MSA, AHR und i.B.). 

...

Und nun ist auch die letzte Zeugniskonferenz um, und ich habe endlich wieder einen Zahn anstatt eines Steinbruchs, oder zumindest so etwas Hingeklöppeltes, bis wir in ein paar Monaten uns dann an die Krone machen.

Absolutes Highlight des Besuches bei'm Zahnarzt heute - was mir vorher noch nie so aufgefallen ist - ein Hinweisschild an diesem kleinen runden Ausspülbecken: "Bitte nicht ziehen - Becken fährt automatisch heran" - da war kein Beruhigungsmittel mehr notwendig, außer vielleicht, um das Kichern zu unterdrücken. Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet in einer Arztpraxis eine echte Fahrspüle sehe.

Hoffentlich löst das jetzt endlich einen Knoten, es ist so viel Arbeit liegen geblieben, und ich habe die letzten zwei Wochen ausschließlich auf der Couch geschlafen, das muss sich auch wieder normalisieren.

Freitag, 13. Januar 2023

Hochauflösend

Jetzt noch leuchtender, phantasmagorischer, unheimlicher...

Die erste Schulwoche und ich bräuchte eigentlich ein doppeltes Wochenende, um alle Eindrücke abzuarbeiten. Scheiße, genau für sowas brauche ich den Freitag frei, damit ich ab Samstag wieder normal arbeiten kann. Das ist alles zu viel, und meine Challenge für morgen ist, mir einen Plan für diese Wohnung zu machen. Es muss ein wenig umgeräumt werden. Die große Buba hat bereits mutmaßt, dass es um die Entsorgung der Couch gehen könnte - wenn ich nur schon so weit wäre! Erstmal muss Ordnung einkehren, Müll raus, manche Klausuren am liebsten gleich mit.

Heute habe ich etwas Neues erlebt, bin voll in the zone und muss das alles verarbeiten. Dabei ist es eigentlich eine ganz simple Sache: Einer meiner Lieblingsfilme, Suspiria (1977), hat endlich die Veröffentlichung bekommen, die er verdient. Sound in Dolby Atmos, über Kopfhörer, und als 4K UHD-Bluray.

Dieser Film ist mehr denn je ein auf Zelluloid gebannter Alptraum: Die neue Soundabmischung lässt den Film aufleben, überall hört man das Ächzen und Seufzen, und der Transfer auf 4K bewirkt, dass die Farben, die Argentos Film ausmachen, richtig lebendig den Film durchziehen. Ich fühle mich, als wäre ich mitten drin.

Die 4K-Bluray hatte ich schon seit einigen Monaten im Haus, aber heute habe ich endlich eine Möglichkeit gefunden, sie abzuspielen, und es ist ein irres Erlebnis, das sich kein Fan entgehen lassen sollte ;-)

Freitag, 6. Januar 2023

Denkblockade


"Brauchen sie eine Krankschreibung wegen ihres Zahns?"

Diese Frage meines Psychiaters habe ich erstmal nicht verstanden. Warum sollte ich mich wegen einer Zahnsache krankmelden, vor allem, wenn es kaum wehtut? Heute verstehe ich das ein wenig; ich hatte mir vergenommen, nach dem Ausschlafen (wieder mal Defizit aufgebaut) die Klausuren meiner Elfer und Elfinnen durchzukorrigieren und mit den Planungen für die erste Schulwoche zu beginnen. 

Seitdem mir aber gestern ein Stück des wurzelbehandelten Zahns abgebrochen ist, fällt es mir sehr schwer, mich auf die Korrekturen zu konzentrieren. Andauernd schneidet die scharfe Zahnkante an der Zunge entlang, vielleicht habt Ihr das auch schon einmal erlebt, und ich sehe immer das Bild dieser Zahnbaustelle vor mir - das sieht aus wie ein Steinbruch. Manchmal möchte man einfach nur den Zahn rausreißen und ein Implantat einsetzen. 

Ich denke die ganze Zeit darüber nach, und bevor ich nicht am Montagmorgen bei Ulf bin, wird sich das auch nicht ändern. Und ich kann mir vorstellen, dass es "normale" Autisten so stark belastet, dass sie gar nicht weiter funktionieren, und das macht mir das Angebot der Krankschreibung etwas einleuchtender. Als Aspi fühle ich mich nicht ganz so extrem eingeschränkt (high functioning), aber es blockiert mich eben doch.

Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass es neurotypischen Menschen ebenso geht.

Mittwoch, 4. Januar 2023

Regentag im Bürokratiergehege


Heute war es grau. Regen von morgens bis abends - das perfekte Wetter für einen Wohnungsputz. Oder aber für einen ausgedehnten Spaziergang. Regenschirm mitgenommen, der war definitiv nötig, Poppy Z. Brites Soul Kitchen dabei für die Busfahrten, die anstehen. Jetzt noch nicht, denn - ich habe keine Busfahrkarte.

Normalerweise kommen die Karten immer quartalsweise hier per Post an; Mitte Dezember hätten sie kommen sollen, aber - nichts. Ich habe mir gedacht, naja, vielleicht wegen Jahreswechsel etwas später, oder die Post braucht länger, und habe nicht weiter drüber nachgedacht. Und dann war irgendwann der zweite Januar und ich konnte nicht mehr Bus fahren. Und ausnahmsweise habe ich den Brief nicht im Chaos meiner Wohnung verschlampt - ich habe jeden Winkel durchsucht und alles dreimal umgedreht.

Der Aspi ruft natürlich nicht bei der KVG an, sondern denkt sich, hmm, es heißt "12er Monatskarte im Abo", vielleicht bedeutet das, dass man wirklich nur zwölf Karten bekommt und dann läuft der Vertrag aus. Das muss es sein - also bestelle ich ein neues Monatskartenabo. Zum Glück fällt das der für die Abonnenten zuständigen Dame auf, und sie schreibt mir eine Mail, um sicherzugehen, dass ich tatsächlich zwei Abos haben möchte. 

Missverständnis aufgeklärt, zweiter Vertrag storniert, und so bin ich heute zur KVG-Verwaltung Werftstraße gewandert, die ich bisher nur als Name einer Bushaltestelle kannte. Innerhalb von fünf Minuten hatte ich meine Ersatzkartem. Auf dem Weg zu besagter Bushaltestelle ist mir fast der Schirm weggeflogen, weitweise war es tatsächlich windig. Warten auf die Zweiundzwanzig, Roman weiterlesen, auf nach Kronshagen.

Dort musste ich nämlich von meinem Hausarzt endlich mal meine Krankschreibungen für die MDG abholen, und dazu noch die beiden Überweisungen an die PIA im FEK in NMS (heute schon das Wordle ausprobiert?). Dann weiter wandern durch den Regen nach Suchsdorf, Rewe am Schneiderkamp, Curry einkaufen und dann in die Einundsechzig, denn die fährt direkt von dort bis vor meine Haustür, knappe Dreiviertelstunde, ich komme im Roman ein gutes Stück weiter.

Ist ein gutes Gefühl, diese ganzen Gänge erledigt zu haben, und es fühlt sich immer noch alles viel befreiter an, seit knapp einer Woche. Ich freue mich auf den Schulstart, morgen sind die Klausurkorrekturen dran, und ein Einlauf für die SchülerInnen muss präpariert werden (und eine besonders helle Schülerin möchte sich Brites Drawing Blood ausleihen - das scheint einige junge hochintelligente Frauen anzusprechen, ist nicht das erste Mal, dass ich das Buch einer Schülerin mitgebe).

Kann weitergehen!

post scriptum: Netflix hat die Serie "1899" nach nur einer Staffel abgesetzt. Das ist das neue Werk der Macher von "Dark", und hätte ein ebenso ästhetisch und intellektuell ansprechendes Werk werden können. Für Netflix sind allerdings die Zuschauerzahlen wichtiger.

Dienstag, 3. Januar 2023

Wurzelbehandlung

Genau für solche Ausnahmesituationen...

"So, die nächste Spritze geht direkt in den Nerv."

Ich hatte noch nie eine Wurzelbehandlung bei'm Zahnarzt. Nach den Berichten von Familie, Freunden und Bekannten konnte ich mir aber ableiten, dass das eine der unangenehmsten Behandlungen sein dürfte, die man dort bekommen kann. Heute kann ich bestätigen: Ja, es ist unangenehm. Und schmerzhaft. Und man möchte einfach nur, dass es bald vorbei ist.

Was für ein glückliches Timing, dass ich meinen Tranquilizer vom Psychiater bekommen habe. Ich habe Ulf (Zahnarzt, einer der besten in Kiel) direkt gefragt, ob es okay ist, wenn ich die Tablette nehme - die ich seit Neujahr immer im Portemonnaie dabei habe für genau solche Situationen - "Klar, mach' das!" und so habe ich auf die Tablettenwirkung gewartet, während die Betäubung angeflutet ist.

Das Loch im hinteren Zahn - kein Problem, das war schnell erledigt, aber der Zahn davor... ich erinnere mich nicht mehr an die Details (anterograde Amnesie kann eine sehr willkommene Nebenwirkung von Benzodiazepinen sein). Nerv freigelegt, entzündetes Gewebe entfernt, Medikament aufgestrichen, provisorische Füllung, nächster Termin in gut einer Woche. 

Betäubung hat dann nachgelassen, Schmerzen sind da, aber ich bin mit Schmerzmitteln gut versorgt. Dieses Erlebnis erinnert mich daran, dass ich vielleicht doch schon einmal eine Wurzelbehandlung hatte, denn mir kommt das alles bekannt vor - das schmerzhafte Aufbohren, das Medikament, das Provisorium - das hatte ich alles vor etwas über fünfzehn Jahren schon einmal. Und das wiederum gibt mir Mut: Damals hatte ich ein Gold-Inlay bekommen, und habe seitdem mit jenem Zahn nie wieder Probleme gehabt.

Wenn es die Möglichkeit gibt, möchte ich eine Goldkrone bekommen. Dann müssen die Playstation 5 und das Phantasialand eben warten, die laufen mir ja nicht weg (waren für diesen Sommer geplant), und ich muss etwas kürzer treten. Ich denke schon seit einigen Monaten darüber nach, auf Gold zu setzen, wenn etwas gemacht werden muss, weil es tatsächlich in Sachen Haltbarkeit unschlagbar ist. Kostet halt. Und die Optik ist mir egal, was kümmert's mich, wenn man sieht, dass ich eine Goldkrone trage?

Das wird sich alles zeigen. Ich bin erstmal froh, dass heute überstanden ist (auch wenn das nächste Mal wieder richtig fies werden wird; Lojong hilft)!

Sonntag, 1. Januar 2023

Herr Homann geht zum Psychiater


Mittwoch, der 28.12.2022, 21:45 Uhr

Donnerstag, der 29.12.2022, 00:59 Uhr

Nein, das brauchte noch etwas länger, bevor es auf's "Papier" kann. Das wird ein fortlaufender Beitrag, den ich über diese Woche verteilt sammele und dann an Neujahr veröffentliche. In der Zwischenzeit werde ich vielleicht noch einen Beitrag parallel herausbringen, damit sich niemand Sorgen macht. Gerade Eltern sind gut darin.

Gestern - whoops, vorgestern habe ich eine Mail von meinem Psychiater in NMS bekommen, der angefragt hat, ob ich zu einem spontanen ausführlicheren ersten Gespräch bereit wäre - wenn es mir denn nicht zu spontan ist - morgen. Am Freitag, dem Dreißigsten, vormittags um elf Uhr im Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster. Noch zweimal schlafen. Das ist so aufregend, dass ich befürchte, die große Buba dürfte am Dreißigsten zu kurz kommen, denn was auch immer wir in diesem ersten direkten Gespräch erörtern, wird mir eine Weile zu denken geben, und dann ist ein Meditationstag angesagt. Passend zum Jahreswechsel.

Ich schaue mir jetzt noch eine Folge der neuen zweiten Staffel von Alice in Borderland (2021) an, um den Kopf freizubekommen; parallel habe ich heute zum ersten Mal Kiyoshi Kurosawas Cure (1997) gesehen, einen psychologischen meditativen Thriller, der unter die Haut kriecht und nachwirkt, weil er unter anderem mit dem Thema Vergessen und Erinnern, mit Amnesie zu tun hat.

Und das wiederum betrifft mich persönlich, denn ich realisiere - wie ein kalter Guss über meinen Rücken - dass meine Mutter immer mehr Dinge vergisst. Dazu vielleicht einen Beitrag morgen, mir schwebt da etwas vor. Ansonsten gehört der morgige Tag dem Wäschewaschen, Haarefärben, Fingernägellackieren, Unterlagensammeln und Reiseplanungen für Freitag. Aber davor erstmal ausschlafen, und wiederum davor erstmal in's Bett. 

Und zu diesem Zeitpunkt weiß nur die große Buba, was für mich am Freitag ansteht. Und warum das so ist, dazu schreibe ich morgen in diesem Beitrag etwas. (oder auch nicht)

10:16 Uhr

Vier Stunden Schlaf müssen erstmal gereicht haben. Ich habe eben ein weiteres Mal zwei Fragebögen für die Autismusdiagnostik ausgedruckt und werde da gleich mal schnell durchkreuzen und anstreichen. Natürlich wandern diese beiden Tests in digitaler Form auf meine Festplatte, denn sie sind sehr hilfreich für meine persönlichen Einschätzungen in der schulischen Arbeit. 

Als ich diese (und zwei weitere) Bögen vor knapp vier Jahren im Lübecker ZiP ausfüllen durfte, war ich sehr positiv aufgeregt, weil nun endlich was in Bewegung kam; dementsprechend war meine Stimmung auf das Gutachten hin im Eimer, weil sich alles so nutz- und ausweglos angefühlt hat. Jetzt weiß ich, dass die Situation eine andere ist, denn ich kenne meinen derzeitigen behandelnden Arzt seit mehreren Monaten zumindest digital, aus Mails und zwei Telefonaten, und ich weiß, dass er mich ernst nimmt und die wichtigen Informationen nicht einfach unter den Teppich kehren wird.

Der Plan für heute ist etwas chaotisch, deswegen gibt es zum Wachwerden entspannende Musik von Ott. Das hilft dabei, runterzufahren und den Überblick zu behalten, und meine Checkliste für den Tag hatte ich ja bereits vor dem Schlafengehen aufgeschrieben. Ich sollte direkt loslegen, damit ich heute Abend für die große Buba verfügbar bin, ein bisschen Ablenkung könnte ganz gut sein - vorausgesetzt, ich habe einen exakten Zeit- und Lageplan für morgen.

17:42 Uhr

Jetzt kommt das Paralleldenken - an diesem Beitrag arbeiten und heute einen anderen veröffentlichen. Ich freue mich auf die große Buba nachher, ich habe heute den Cambridge Autism Quotient (AQ)-Fragebogen ausgefüllt für den Arzt morgen, und ebenfalls den Emotional Quotient (EQ). Letzteren will ich mit der großen Buba nachher mal ausprobieren; ich erwarte, dass unsere Ergebnisse doch recht deutlich auseinander gehen werden. Wie spannend. Und wenn sie heute nacht wieder weggerollt ist, folgt der Schlachtplan für morgen.

Alles zu seiner Zeit.

Freitag, der 30.12.2022, 08:44 Uhr

Gestern hat alles geklappt. Die große Buba war da, das hat gut getan zur Ablenkung. Im Blog habe ich einen Artikel zur wahrgenommenen Kürzung der Aufmerksamkeitsspanne bei heutigen SchülerInnen gepostet. Danach hatte ich mir bei Google Maps meinen

18:30 Uhr 

Tastatur hat ausgesetzt, warum auch immer. Ohklott, ich bin Aspi. Meditation, laaaaaaange Meditation, und dann schreibe ich. Im Moment absoluter Informations-Overload (auch wegen einer Nachricht aus dem Leben der großen Buba).

Samstag, der 31.12.2022, 01:50 Uhr

Okay, ich merke, den genauen Ablauf des Tages werde ich erst nach dem Schlafen aufschreiben. Aber ich möchte dieses Gefühl hier festhalten. In der Badewanne kamen die Tränen in Strömen, aus Glück und Erleichterung. Dass ich tatsächlich so als Mensch OK bin, wie ich bin. Dass ich geistig behindert bin, und dass ich damit ein paar Rechte habe. Dass ich einen Arzt für die ambulante Behandlung habe, der sich wirklich um mich kümmert, und dass ich damit bessere Chancen habe, an der Toni zu bleiben. Und diese Erleichterung, dass alles, was ich in den letzten drei Jahren recherchiert und theoretisiert habe - dass das alles tatsächlich zutrifft. 

Ich bin auf'm Spektrum.

Mh, da kommen die Tränen schon wieder, das muss erstmal verarbeitet werden. Endlich ist diese Unsicherheit weg! Auf einmal gehen alle Türen in meinem Kopf wieder auf - längerfristige Projekte an der Schule planen, die Wohnung aufzuarbeiten. Und mich bei einigen Menschen melden, die ich ratlos zurückgelassen habe, wie zum Beispiel Prof.' Jutta Zimmermann, bei der ich meine grauenhaft schlechte mündliche Examensprüfung in Englisch abgelegt habe - ich habe jetzt endlich Erklärungen parat. Und zu Prof. Jan Radicke, der für mich tatsächlich sowas wie ein universitärer Ziehvater geworden ist und der mich damals besser verstanden hat, als ich selbst. Zu Dr. Jens-Peter Becker, mit ihm über seine Kindheit sprechen (denn ich wette, sein Gehirn ist wie meines konfiguriert). Zu Bernd Keilholz, meinem Lateinmentor im Referendariat, der mich schneller durchschaut hatte als ich mich selbst, und mit dem ich tolle Gespräche führen durfte. Ihnen zumindest eine Art Erklärung zukommen lassen, oder vielmehr meinen tief empfundenen Dank für das Vertrauen, das sie alle in mich gesetzt hatten, auch wenn ich teilweise extrem angeeckt habe.

Und dann irgendwann zu meinem Bruder, in einem Versuch, ihm zu helfen.

04:49 Uhr

Äh ja. Und damit habe ich eben nochmal vier Stunden Achterbahnvideos auf Youtube angeschaut. So wie früher im Studium. Ich kann kaum begreifen, dass dieses eine, erste Gespräch so viel im Kopf lösen kann. Beziehungsweise, dass ein Autist unter Stress so stark blockieren kann... Ab in's Bett, morgen steht viel an!

18:04 Uhr

Die große Buba ist gegangen und ich mache meine Meditationsvorbereitungen. Dazu kommt nun endlich der Bericht über den gestrigen Tag, den Besuch bei meinem Psychiater:

Ich hatte morgens nach dem Weckerklingeln tatsächlich noch überlegt, eine Ausrede zu finden, um abzubrechen. Dass die Züge nicht fahren würden, oder einfach ehrlich sein, dass ich mich nicht traue an einen unbekannten Ort mit einem Menschen, von dem ich nur die Stimme kenne. Aber es ist wie wenn ich Zahnschmerzen habe; irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem ich sage: Es reicht. Keine weiteren Verzögerungen mehr.

Zumal Google Maps mir mit dem Routenplaner angezeigt hat, dass das Friedrich-Ebert-Krankenhaus extrem einfach vom Bahnhof aus zu finden ist und man nur eine Viertelstunde Fußmarsch vor sich hat. Aus dem Bahnhof heraus geht es quasi nur geradeaus und man ist da. Mein Psychiater hat mir geschrieben, dass es etwas umständlich sein kann, sich im FEK zu orientieren. Ich bin also seinem Rat gefolgt und mir hat eine sehr nette Dame an der Rezeption genau gesagt, wo es lang geht. Tatsächlich sehr verwinkelt, und wenn man im Eingangsgebäude im zweiten Stock ist, kommt man bei'm hinteren PIA-Gebäude (die große Buba sagt "Gebaude", denn sie hat gute Uhren, nur im Moment gerade nicht) automatisch im ersten Stock an. 

Ich stehe an der Eingangstür zur PIA (Psychiatrische Instituts-Ambulanz) und es geht direkt los mit einem grandiosen Glas Asperger pur: Die Glastür ist geschlossen, es klebt ein großes Schild drauf: "STOP! Bitte Türöffner benutzen." Ich suche nach dem Knopf, ah, da links neben der Tür ist er ja. Ich drücke drauf und es passiert... nichts. Und ich bleibe stehen. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei, vier. In der Zwischenzeit laufen zwei Schwestern an mir vorbei, von links nach rechts, rechts nach links, ich stehe. Fünf Minuten später drücke ich nochmal auf den Knopf, etwas länger. Nichts. Ich frage mich, was die Erklärung dafür sein kann. Ah, vielleicht ist das eine Klingel, ich sehe ja da hinten schon die Infotheke, an der sicherlich eine Frau sitzt, die dann die Tür öffnet. Ist bei meinem Hausarzt und Zahnarzt auch so. Aber warum reagiert denn keiner? Ah, sicherlich

Sonntag, der 01.01.2023, 14:29 Uhr

Oh mann... die Nacht nach dem Arztbesuch war so kurz, dass ich ein ordentliches Schlafdefizit aufgebaut habe, und gestern bin ich dann fix in's Bett gefallen. Wo war ich?

Genau, keiner reagiert auf die Türklingel. Bestimmt hat die Person am Infotresen hinten gerade ein längeres Telefonat, da sollte ich nicht stören, also warte ich weiter und mache nichts und stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Nach acht Minuten kommt eine junge Assistentin aus der PIA durch die Glastür und geht an mir vorbei, super, ich nutze die Gelegenheit, um hineinzugleiten und gehe zur Anmeldung. 

Später stellt sich heraus, dass der Türöffner kaputt ist und ich einfach die Klinke hätte nutzen können, um die Tür zu öffnen. Aber - auf dem Schild steht STOP! und deswegen habe ich da gestanden und nichts gemacht. Mehr Autist geht nicht - und das war eine Anekdote, die meinem Arzt dann bei der ersten Einschätzung vermutlich deutlich geholfen hat.

Jetzt kommt der Punkt, an dem ich mir einmal gönne, nicht alles im Blog zu schreiben. Der Inhalt des Gesprächs gehört zur doctor-patient-confidentiality und geht Euch nichts an. Es gibt tatsächlich Facetten an mir, die ich für mich behalte, auch wenn für manche Leser dieses Blogs ein anderer Eindruck entstanden sein mag. Schauen wir also nur auf die wesentlichen Punkte dieses Gesprächs, das gut zweieinhalb Stunden gedauert hat, mir aber gerade mal wie dreißig Minuten vorkam, hochkonzentriert, voll in the zone.

Was mir aufgefallen ist: Einen großen Teil des Gesprächs hat er geredet, und oft musste ich einfach nur erleichtert nicken, aber es gab dann auch Phasen, in denen ich selbst aus meinem Leben losgelegt hatte - ohne irgendwelche Geheimnisse. Ich habe mir gesagt, dass mein Psychiater ein Mensch sein sollte, dem ich Vertrauen kann, und wir haben über alles geredet, was mir früher vielleicht auch unangenehm hätte sein können.

Was mich so besonders erleichtert hat: Im Englischen gibt es den Ausdruck "I see you" - wenn man jemanden genau als den Menschen erkennt, der er wirklich ist. Das kommt nicht oft im Leben vor, und ich hätte ihm zwischendurch attestieren können "You see me", und deswegen habe ich mich so ernst genommen und geborgen und sicher in seinem Büro gefühlt. Ich habe ihm mein Ego-Buch dagelassen, und die Fragebögen, die ich ausgefüllt hatte, er hat mir einen nächsten Termin Ende Februar gegeben und dann zwei Dinge gesagt, die ich in dem Moment erstmal nur zur Kenntnis genommen habe, und die dann intensiv nachwirken sollten:

"Bevor ich sie gehen lassen, kann ich ihnen jetzt schon sagen - also eigentlich soll man das nicht, aber - ich kann ihnen jetzt schon sagen, dass das ein ziemlich eindeutiger Fall ist."

und zum Schluss:

"Eine wichtige Frage habe ich noch: Brauchen sie irgend etwas? Brauchen sie Hilfe für irgendwas? Vielleicht eine Krankschreibung wegen des Termins bei ihrem Zahnarzt? Sie wissen, dass ich sie für so etwas krankschreiben lassen kann? Oder brauchen sie vielleicht ein Medikament, um nachts besser schlafen zu können?"

Und dann ist jene Geschichte in meinem Kopf einfach herausgeklötert und ich habe ihm erzählt, wie sehr mir ein bestimmtes Medikament einmal geholfen hat. Gefunden, und so habe ich die Klinik danach verlassen.

Mit einem Gefühl von Leichtigkeit. Freude. Glück. Das hat eine Weile gedauert, und es dauert immer noch an, das zu realisieren. Ich bin den ganzen Rückweg zum Bahnhof strahlend durch NMS gegangen, habe in acht Apotheken auf dem Weg versucht, die Tabletten zu bekommen, waren nirgendwo vorrätig, also habe ich sie mir dann in Kiel bestellt und gestern vormittag abgeholt. Nun sind sie da. Und ich bin Autist.

17:25 Uhr

Und ich bin OK, so wie ich bin.

post scriptum: Und vielleicht versteht man nun, warum ich abends in der Badewanne angefangen habe, wie ein Schlosshund zu heulen. Ich bin gerade unendlich glücklich.

Nächster Termin ist Ende Februar, ich habe Hausaufgaben bis dahin, es kann losgehen.