Sonntag, 1. Januar 2023

Herr Homann geht zum Psychiater


Mittwoch, der 28.12.2022, 21:45 Uhr

Donnerstag, der 29.12.2022, 00:59 Uhr

Nein, das brauchte noch etwas länger, bevor es auf's "Papier" kann. Das wird ein fortlaufender Beitrag, den ich über diese Woche verteilt sammele und dann an Neujahr veröffentliche. In der Zwischenzeit werde ich vielleicht noch einen Beitrag parallel herausbringen, damit sich niemand Sorgen macht. Gerade Eltern sind gut darin.

Gestern - whoops, vorgestern habe ich eine Mail von meinem Psychiater in NMS bekommen, der angefragt hat, ob ich zu einem spontanen ausführlicheren ersten Gespräch bereit wäre - wenn es mir denn nicht zu spontan ist - morgen. Am Freitag, dem Dreißigsten, vormittags um elf Uhr im Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster. Noch zweimal schlafen. Das ist so aufregend, dass ich befürchte, die große Buba dürfte am Dreißigsten zu kurz kommen, denn was auch immer wir in diesem ersten direkten Gespräch erörtern, wird mir eine Weile zu denken geben, und dann ist ein Meditationstag angesagt. Passend zum Jahreswechsel.

Ich schaue mir jetzt noch eine Folge der neuen zweiten Staffel von Alice in Borderland (2021) an, um den Kopf freizubekommen; parallel habe ich heute zum ersten Mal Kiyoshi Kurosawas Cure (1997) gesehen, einen psychologischen meditativen Thriller, der unter die Haut kriecht und nachwirkt, weil er unter anderem mit dem Thema Vergessen und Erinnern, mit Amnesie zu tun hat.

Und das wiederum betrifft mich persönlich, denn ich realisiere - wie ein kalter Guss über meinen Rücken - dass meine Mutter immer mehr Dinge vergisst. Dazu vielleicht einen Beitrag morgen, mir schwebt da etwas vor. Ansonsten gehört der morgige Tag dem Wäschewaschen, Haarefärben, Fingernägellackieren, Unterlagensammeln und Reiseplanungen für Freitag. Aber davor erstmal ausschlafen, und wiederum davor erstmal in's Bett. 

Und zu diesem Zeitpunkt weiß nur die große Buba, was für mich am Freitag ansteht. Und warum das so ist, dazu schreibe ich morgen in diesem Beitrag etwas. (oder auch nicht)

10:16 Uhr

Vier Stunden Schlaf müssen erstmal gereicht haben. Ich habe eben ein weiteres Mal zwei Fragebögen für die Autismusdiagnostik ausgedruckt und werde da gleich mal schnell durchkreuzen und anstreichen. Natürlich wandern diese beiden Tests in digitaler Form auf meine Festplatte, denn sie sind sehr hilfreich für meine persönlichen Einschätzungen in der schulischen Arbeit. 

Als ich diese (und zwei weitere) Bögen vor knapp vier Jahren im Lübecker ZiP ausfüllen durfte, war ich sehr positiv aufgeregt, weil nun endlich was in Bewegung kam; dementsprechend war meine Stimmung auf das Gutachten hin im Eimer, weil sich alles so nutz- und ausweglos angefühlt hat. Jetzt weiß ich, dass die Situation eine andere ist, denn ich kenne meinen derzeitigen behandelnden Arzt seit mehreren Monaten zumindest digital, aus Mails und zwei Telefonaten, und ich weiß, dass er mich ernst nimmt und die wichtigen Informationen nicht einfach unter den Teppich kehren wird.

Der Plan für heute ist etwas chaotisch, deswegen gibt es zum Wachwerden entspannende Musik von Ott. Das hilft dabei, runterzufahren und den Überblick zu behalten, und meine Checkliste für den Tag hatte ich ja bereits vor dem Schlafengehen aufgeschrieben. Ich sollte direkt loslegen, damit ich heute Abend für die große Buba verfügbar bin, ein bisschen Ablenkung könnte ganz gut sein - vorausgesetzt, ich habe einen exakten Zeit- und Lageplan für morgen.

17:42 Uhr

Jetzt kommt das Paralleldenken - an diesem Beitrag arbeiten und heute einen anderen veröffentlichen. Ich freue mich auf die große Buba nachher, ich habe heute den Cambridge Autism Quotient (AQ)-Fragebogen ausgefüllt für den Arzt morgen, und ebenfalls den Emotional Quotient (EQ). Letzteren will ich mit der großen Buba nachher mal ausprobieren; ich erwarte, dass unsere Ergebnisse doch recht deutlich auseinander gehen werden. Wie spannend. Und wenn sie heute nacht wieder weggerollt ist, folgt der Schlachtplan für morgen.

Alles zu seiner Zeit.

Freitag, der 30.12.2022, 08:44 Uhr

Gestern hat alles geklappt. Die große Buba war da, das hat gut getan zur Ablenkung. Im Blog habe ich einen Artikel zur wahrgenommenen Kürzung der Aufmerksamkeitsspanne bei heutigen SchülerInnen gepostet. Danach hatte ich mir bei Google Maps meinen

18:30 Uhr 

Tastatur hat ausgesetzt, warum auch immer. Ohklott, ich bin Aspi. Meditation, laaaaaaange Meditation, und dann schreibe ich. Im Moment absoluter Informations-Overload (auch wegen einer Nachricht aus dem Leben der großen Buba).

Samstag, der 31.12.2022, 01:50 Uhr

Okay, ich merke, den genauen Ablauf des Tages werde ich erst nach dem Schlafen aufschreiben. Aber ich möchte dieses Gefühl hier festhalten. In der Badewanne kamen die Tränen in Strömen, aus Glück und Erleichterung. Dass ich tatsächlich so als Mensch OK bin, wie ich bin. Dass ich geistig behindert bin, und dass ich damit ein paar Rechte habe. Dass ich einen Arzt für die ambulante Behandlung habe, der sich wirklich um mich kümmert, und dass ich damit bessere Chancen habe, an der Toni zu bleiben. Und diese Erleichterung, dass alles, was ich in den letzten drei Jahren recherchiert und theoretisiert habe - dass das alles tatsächlich zutrifft. 

Ich bin auf'm Spektrum.

Mh, da kommen die Tränen schon wieder, das muss erstmal verarbeitet werden. Endlich ist diese Unsicherheit weg! Auf einmal gehen alle Türen in meinem Kopf wieder auf - längerfristige Projekte an der Schule planen, die Wohnung aufzuarbeiten. Und mich bei einigen Menschen melden, die ich ratlos zurückgelassen habe, wie zum Beispiel Prof.' Jutta Zimmermann, bei der ich meine grauenhaft schlechte mündliche Examensprüfung in Englisch abgelegt habe - ich habe jetzt endlich Erklärungen parat. Und zu Prof. Jan Radicke, der für mich tatsächlich sowas wie ein universitärer Ziehvater geworden ist und der mich damals besser verstanden hat, als ich selbst. Zu Dr. Jens-Peter Becker, mit ihm über seine Kindheit sprechen (denn ich wette, sein Gehirn ist wie meines konfiguriert). Zu Bernd Keilholz, meinem Lateinmentor im Referendariat, der mich schneller durchschaut hatte als ich mich selbst, und mit dem ich tolle Gespräche führen durfte. Ihnen zumindest eine Art Erklärung zukommen lassen, oder vielmehr meinen tief empfundenen Dank für das Vertrauen, das sie alle in mich gesetzt hatten, auch wenn ich teilweise extrem angeeckt habe.

Und dann irgendwann zu meinem Bruder, in einem Versuch, ihm zu helfen.

04:49 Uhr

Äh ja. Und damit habe ich eben nochmal vier Stunden Achterbahnvideos auf Youtube angeschaut. So wie früher im Studium. Ich kann kaum begreifen, dass dieses eine, erste Gespräch so viel im Kopf lösen kann. Beziehungsweise, dass ein Autist unter Stress so stark blockieren kann... Ab in's Bett, morgen steht viel an!

18:04 Uhr

Die große Buba ist gegangen und ich mache meine Meditationsvorbereitungen. Dazu kommt nun endlich der Bericht über den gestrigen Tag, den Besuch bei meinem Psychiater:

Ich hatte morgens nach dem Weckerklingeln tatsächlich noch überlegt, eine Ausrede zu finden, um abzubrechen. Dass die Züge nicht fahren würden, oder einfach ehrlich sein, dass ich mich nicht traue an einen unbekannten Ort mit einem Menschen, von dem ich nur die Stimme kenne. Aber es ist wie wenn ich Zahnschmerzen habe; irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem ich sage: Es reicht. Keine weiteren Verzögerungen mehr.

Zumal Google Maps mir mit dem Routenplaner angezeigt hat, dass das Friedrich-Ebert-Krankenhaus extrem einfach vom Bahnhof aus zu finden ist und man nur eine Viertelstunde Fußmarsch vor sich hat. Aus dem Bahnhof heraus geht es quasi nur geradeaus und man ist da. Mein Psychiater hat mir geschrieben, dass es etwas umständlich sein kann, sich im FEK zu orientieren. Ich bin also seinem Rat gefolgt und mir hat eine sehr nette Dame an der Rezeption genau gesagt, wo es lang geht. Tatsächlich sehr verwinkelt, und wenn man im Eingangsgebäude im zweiten Stock ist, kommt man bei'm hinteren PIA-Gebäude (die große Buba sagt "Gebaude", denn sie hat gute Uhren, nur im Moment gerade nicht) automatisch im ersten Stock an. 

Ich stehe an der Eingangstür zur PIA (Psychiatrische Instituts-Ambulanz) und es geht direkt los mit einem grandiosen Glas Asperger pur: Die Glastür ist geschlossen, es klebt ein großes Schild drauf: "STOP! Bitte Türöffner benutzen." Ich suche nach dem Knopf, ah, da links neben der Tür ist er ja. Ich drücke drauf und es passiert... nichts. Und ich bleibe stehen. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei, vier. In der Zwischenzeit laufen zwei Schwestern an mir vorbei, von links nach rechts, rechts nach links, ich stehe. Fünf Minuten später drücke ich nochmal auf den Knopf, etwas länger. Nichts. Ich frage mich, was die Erklärung dafür sein kann. Ah, vielleicht ist das eine Klingel, ich sehe ja da hinten schon die Infotheke, an der sicherlich eine Frau sitzt, die dann die Tür öffnet. Ist bei meinem Hausarzt und Zahnarzt auch so. Aber warum reagiert denn keiner? Ah, sicherlich

Sonntag, der 01.01.2023, 14:29 Uhr

Oh mann... die Nacht nach dem Arztbesuch war so kurz, dass ich ein ordentliches Schlafdefizit aufgebaut habe, und gestern bin ich dann fix in's Bett gefallen. Wo war ich?

Genau, keiner reagiert auf die Türklingel. Bestimmt hat die Person am Infotresen hinten gerade ein längeres Telefonat, da sollte ich nicht stören, also warte ich weiter und mache nichts und stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Nach acht Minuten kommt eine junge Assistentin aus der PIA durch die Glastür und geht an mir vorbei, super, ich nutze die Gelegenheit, um hineinzugleiten und gehe zur Anmeldung. 

Später stellt sich heraus, dass der Türöffner kaputt ist und ich einfach die Klinke hätte nutzen können, um die Tür zu öffnen. Aber - auf dem Schild steht STOP! und deswegen habe ich da gestanden und nichts gemacht. Mehr Autist geht nicht - und das war eine Anekdote, die meinem Arzt dann bei der ersten Einschätzung vermutlich deutlich geholfen hat.

Jetzt kommt der Punkt, an dem ich mir einmal gönne, nicht alles im Blog zu schreiben. Der Inhalt des Gesprächs gehört zur doctor-patient-confidentiality und geht Euch nichts an. Es gibt tatsächlich Facetten an mir, die ich für mich behalte, auch wenn für manche Leser dieses Blogs ein anderer Eindruck entstanden sein mag. Schauen wir also nur auf die wesentlichen Punkte dieses Gesprächs, das gut zweieinhalb Stunden gedauert hat, mir aber gerade mal wie dreißig Minuten vorkam, hochkonzentriert, voll in the zone.

Was mir aufgefallen ist: Einen großen Teil des Gesprächs hat er geredet, und oft musste ich einfach nur erleichtert nicken, aber es gab dann auch Phasen, in denen ich selbst aus meinem Leben losgelegt hatte - ohne irgendwelche Geheimnisse. Ich habe mir gesagt, dass mein Psychiater ein Mensch sein sollte, dem ich Vertrauen kann, und wir haben über alles geredet, was mir früher vielleicht auch unangenehm hätte sein können.

Was mich so besonders erleichtert hat: Im Englischen gibt es den Ausdruck "I see you" - wenn man jemanden genau als den Menschen erkennt, der er wirklich ist. Das kommt nicht oft im Leben vor, und ich hätte ihm zwischendurch attestieren können "You see me", und deswegen habe ich mich so ernst genommen und geborgen und sicher in seinem Büro gefühlt. Ich habe ihm mein Ego-Buch dagelassen, und die Fragebögen, die ich ausgefüllt hatte, er hat mir einen nächsten Termin Ende Februar gegeben und dann zwei Dinge gesagt, die ich in dem Moment erstmal nur zur Kenntnis genommen habe, und die dann intensiv nachwirken sollten:

"Bevor ich sie gehen lassen, kann ich ihnen jetzt schon sagen - also eigentlich soll man das nicht, aber - ich kann ihnen jetzt schon sagen, dass das ein ziemlich eindeutiger Fall ist."

und zum Schluss:

"Eine wichtige Frage habe ich noch: Brauchen sie irgend etwas? Brauchen sie Hilfe für irgendwas? Vielleicht eine Krankschreibung wegen des Termins bei ihrem Zahnarzt? Sie wissen, dass ich sie für so etwas krankschreiben lassen kann? Oder brauchen sie vielleicht ein Medikament, um nachts besser schlafen zu können?"

Und dann ist jene Geschichte in meinem Kopf einfach herausgeklötert und ich habe ihm erzählt, wie sehr mir ein bestimmtes Medikament einmal geholfen hat. Gefunden, und so habe ich die Klinik danach verlassen.

Mit einem Gefühl von Leichtigkeit. Freude. Glück. Das hat eine Weile gedauert, und es dauert immer noch an, das zu realisieren. Ich bin den ganzen Rückweg zum Bahnhof strahlend durch NMS gegangen, habe in acht Apotheken auf dem Weg versucht, die Tabletten zu bekommen, waren nirgendwo vorrätig, also habe ich sie mir dann in Kiel bestellt und gestern vormittag abgeholt. Nun sind sie da. Und ich bin Autist.

17:25 Uhr

Und ich bin OK, so wie ich bin.

post scriptum: Und vielleicht versteht man nun, warum ich abends in der Badewanne angefangen habe, wie ein Schlosshund zu heulen. Ich bin gerade unendlich glücklich.

Nächster Termin ist Ende Februar, ich habe Hausaufgaben bis dahin, es kann losgehen.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen