Montag, 29. Januar 2024

Tag 181 - Vertretung gesucht?! WTF!?!


Ich gebe auf. Eben lese ich eine Mail aus dem Bildungsministerium, man habe sich mit dem Schulamt in Neumünster in Verbindung gesetzt und es gebe eine Schule, die Vertretungsbedarf in Englisch hat, und mit der möge ich mich doch bitte in Verbindung setzen und meine Bewerbung in's pbOn einstellen.

What.

The.

Actual.

FUCK???

Muss ich denen erklären, dass ich keine Vertretungen mehr übernehmen darf? Es ist, als ob das Ministerium systematisch versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben! 

Mal schauen, was als Erklärung kommt.

Samstag, 27. Januar 2024

Tag 179 - "Ihre bisherigen Bewerbungsbemühungen"


Es geht mal wieder auf in's Bürokratiergehege. Ich habe - elf Tage nach Absendung, Nordbrief kann eine echte Zumutung sein - eine schriftliche Einladung zu meinem nächsten Gespräch im Arbeitsamt bekommen. Diesmal heißt es aber nicht "Ich möchte Ihre berufliche Situation besprechen", sondern "Ich möchte Ihre Bewerbungsaktivitäten besprechen", und unten steht, dass ich neben einem ausgedruckten Lebenslauf (den ich schon letztesmal dabei hatte) und den ausgedruckten Bewerbungsunterlagen (die ganze pbOn-Mappe???) auch eine Liste meiner bisherigen Bewerbungsbemühungen mitbringen soll.

Nach allem, was ich bisher über neurotypische und beonders hochsensible Menschen weiß, könnte man das verstehen als "Sie haben seit sechs Monaten keinen Job gefunden, das liegt daran, dass sie sich einfach keine Mühe geben". Ich lese das (noch) nicht so, aber wenn das Gespräch tatsächlich in die Richtung gehen sollte, dann frage ich meinen Sachbearbeiter, wo denn die Unterstützung bleibt für jemanden, der sein Leben allein kaum noch auf die Reihe bekommt.

Ich bin wirklich sehr gespannt auf das Gespräch in der ersten Februarwoche, und aus schlechter Erfahrung erwarte ich mir nichts davon. Was ich vorbereitend mache: Ich schreibe eine Stellungnahme mit meiner gesamten beruflichen Situation, denn er scheint nichts von alledem letztesmal in irgendeiner Kundenakte niedergeschrieben zu haben. Er weiß noch nicht einmal, welche Fächer ich unterrichte - aber was soll's. 

Die Paradoxie liegt darin, dass es das Ziel des Arbeitsamtes ist, seine Kunden loszuwerden, und deswegen muss es sie auch gar nicht erst richtig kennenlernen. Das zaubert mir immerhin ein Lächeln in's Gesicht.


Freitag, 26. Januar 2024

Tag 178 - Das Deutschlandticket


vorweg: Es ist interessant zu sehen, wie der Beitrag "Tag 171 - Beschäftigung nicht mehr möglich." nach und nach weitere Kreise zieht. Die Klickzahlen steigen noch immer. Das Einzige, was jetzt noch fehlt, wären Reaktionen von Menschen, die etwas bewirken könnten...

Es ist kaum zu glauben, aber heute habe ich endlich meine Deutschlandticket-Chipkarte erhalten, und es hat nur sieben Monate Wartezeit gebraucht, in denen ich mit Papiertickets durch die Gegend gefahren bin. Jetzt sind diese Dinger weg und ich halte endlich meine Karte in dezentem KVG-nah.sh-türkisblau in Händen, fast völlig ohne die Deutschlandfarben - nur klein in der Ecke, und ehrlich gesagt finde ich das gar nicht so hässlich.

Endlich kann ich die massigen DIN A4-Tickets aus meinem Portemonnaie loswerden und einfach eine neue kleine Karte hinzufügen. Vielleicht ist das ja ein positives Omen, dass nach sechs Monaten Wartezeit endlich eine Reaktion aus dem Landesamt für soziale Dienste kommt, bezüglich meines Schwerbehindertenstatus.

Ha ha. Das war natürlich ein Witz. Es waren noch keine sechs Monate, sondern nur hundertsiebenundsiebzig Tage. Und das kann noch ewig dauern. Und bis dahin kann ich mit der Bahn durch Deutschland fahren, Zeit genug habe ich ja jetzt, wo ich kaum noch Jobs annehmen darf.

Montag, 22. Januar 2024

Tag 174 - Irrsinn


"Die Regierung ist verpflichtet, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen."

Dieser Satz - hier in verkürzter Form - steht in jeder Stellenausschreibung in Schleswig-Holstein, egal, ob es um eine befristete Vertretung oder eine unbefristete Planstelle geht.

Eine Schule in Neumünster sucht dringend eine Vertretungslehrkraft für ein halbes Jahr.

Ein schwerbehinderter (gleichgestellt), arbeitsloser Lehrer sucht händeringend Arbeit, bekommt Druck von der Agentur für Arbeit.

Das Ministerium verbietet, diese Lehrkraft einzustellen, aus willkürlichen Gründen.

Ich habe vielleicht einen IQ von Hundertdreiunddreißig, aber das verstehe ich nicht.

Überhaupt nicht.

Ich bin gespannt auf die Reaktion vom Schulrat.

Freitag, 19. Januar 2024

Tag 171 - Beschäftigung nicht mehr möglich.

When everything breaks down...

Vorweg: Liebe Eltern, ich melde mich, wenn ich wieder einigermaßen klarkomme. Kann ein paar Tage dauern.

" Sehr geehrter Dr Hilarius,

ich muss Ihnen leider im Auftrage des Ministeriums mitteilen, dass wir Sie doch nicht anstellen dürfen.
Hintergrund hierfür ist die Anzahl Ihrer bisherigen Verträge.
Desweiteren soll ich soll ich Sie dahingehend beraten, dass Sie sich aufgrund Ihrer Qualifikation durchaus auf unbefristete Stellen bewerben dürfen.
Ich möchte ausdrücklich mein Bedauern über diese Wendung zum Ausdruck bringen und wünsche Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Weg.
 
Mit freundlichen Grüßen" 
 
Stimmt, ich habe mich ja NOCH NIE auf unbefristete Stellen beworben. Ziehe ich doch einfach nach Hamburg um, da wimmelt es davon. Ach nein. Ich bin ja Autist und hänge hier fest. Und niemand möchte einen Autisten unbefristet einstellen. Das bringt zuviel frischen Wind in einer unerträglichen Windstärke.

FUCK THIS SHIT!!!
ICH HASSE UNSER SCHULSYSTEM!!!

post scriptum: Für den Fall, dass das nicht richtig rübergekommen ist: Ich kann keinerlei Vertretungen mehr übernehmen.
Das ist eine Situation, da kann der Buddhismus Überstunden schieben. Tabletten helfen auch. Erstmal etwas Gras drüber wachsen lassen. Anfang Februar bin ich im Arbeitsamt und mein Sachbearbeiter soll mir in dieser Situation weiterhelfen. Oder zumindest etwas Verständnis signalisieren.
Habt Ihr irgendwelche Tipps?

Montag, 15. Januar 2024

Tag 167 - Zufall?


vorweg: Das nagende Gefühl ist zerstreut worden ;-)

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Du zeitgleich ein Einweisungsgespräch mit einer anderen Kollegin hast, die genau wie Du ihren Dienst antritt? Sehr hoch - so kann die Schulleitung etwas Zeit sparen, indem sie nur einmal Rundgänge, Formalitäten und Ähnliches klärt.

Wie wahrscheinlich ist es aber, dass die Kollegin ebenfalls aus Kiel kommt? Hoch, gerade wenn sie ein nulltes Semester macht und noch an der Abschlussarbeit sitzt.

Und dass sie nur zwei Straßen weiter wohnt? Das wird schon interessanter, wobei das auch mit den Mieten zusammenhängen könnte, die hier für Kieler Verhältnisse eher niedrig sind.

Und dass sie hochbegabt ist? Noch interessanter, denn das sind nur so zwei bis drei Prozent der Bevölkerung.

Und dass sie auch hochfunktionale Autistin ist? Jetzt wird es spannend. Ich habe, wenn ich auf die letzten elf Jahre zurückblicke, schon das eine oder andere Mal unbewusst mit KollegInnen auf'm Spektrum zusammengearbeitet, das kommt also vor, aber selten. Aspis lieben es, Dinge zu erklären. Prädestiniert für Schule, sollte man meinen.

Und dass sie ebenfalls noch im Erkenntnisprozess ist? Wow. Sie ist auch erstmal privat dabei, ihre Familie zu analysieren und zu realisieren, was es bedeutet, auf'm Spektrum zu sein. Das ist schon ein echt großer Zufall.

Ich gehe davon aus, dass sie es etwas leichter haben wird als ich, und das freut mich. Und ich hoffe, dass sie die nötigen Diagnosen und Anerkennung der Behinderung bekommt. Ich habe am Freitag tatsächlich zwei Stunden in Meditation gelegen und überlegt, ob sie den gleichen Scheiß durchmachen muss wie ich? Und ich habe so oft Revue passieren lassen, wie sich unser Gespräch nach dem Termin bei der Schulleitung entwickelt hat. Wie sich so nach und nach das mit der Nachbarschaft und den geistigen Konfigurationsparallelen herauskristallisiert hat.

Solche Erlebnisse beschäftigen mich intensiv und fressen in der Nachbereitung viel Zeit, aber zu einem positiven Anlass. Ich freue mich wirklich sehr auf die Arbeit an der neuen Schule...

...und fülle zum xten Mal die Erklärung zur Prüfung der Versichungsfreiheit blablabla aus. Mal schauen, ob das Gehalt diesmal rechtzeitig angewiesen wird. Das hat damals an der Toni nicht geklappt, genauso wie der Arbeitsnachweis für das ALG I nicht geklappt hat. 

Keep your fingers crossed!

Donnerstag, 11. Januar 2024

Tag 163 - Ein nagendes Gefühl


So, und nun noch einmal in Ruhe. Und vorwärts. Freitag geht's wieder nach Neumünster, in die neue Schule, diesmal mit dem Kielius, denn die GDL hat zum Streik aufgerufen. Herrliche Situation für einen Buddhisten, denn nichts ist entspannender, als das anzunehmen, was kommt (sagt der Dalai Lama).

Ich hatte zwei Schulen im Blick, jene in Neumünster und die Gutenbergschule in Kiel. Letztere wäre für mich besonders interessant gewesen, denn es handelt sich um ein FöZ Lernen, und es hätte mich gereizt, mal diesen für mich neuen Schultyp kennenzulernen. SchülerInnen mit Förderstatus I habe ich bereits an verschiedenen Schulen unterrichtet, dort aber jeweils im Inklusionskonzept. Es wäre spannend gewesen, ausschließlich und "richtig" mit Förderlehrkräften zusammenzuarbeiten. Den Horizont erweitern, und nicht in der routinierten Pädagogik erstarren.

Und das kam mir auch deswegen sehr nahe, weil ich eigentlich auf die Stellenausschreibung in Neumünster nicht so ganz passe, und damit kommen wir zum Kern des heutigen Beitrags - ein Gefühl, das ich am Freitag hoffentlich werde ausräumen können. Es hat mich sowieso etwas gewundert, denn die Stelle ist ordentlich ausgeschrieben. Bisher bin ich immer direkt von den Schulen angeschrieben worden, die eine Vertretung brauchten. Das war ungewöhnlich, eine förmliche Bewerbung für eine Vertretung aufzusetzen (hängt mit der WoSt-Zahl zusammen).

Und dann standen solche Passagen in der Stellenausschreibung, die mich verunsichert haben - dass jemand für den DaZ-Bereich gesucht wird, und die gewünschten Zweitfächer, naja, wie üblich: Latein ist eigentlich Ausschlusskriterium. Das braucht jetzt niemand mehr. Also bin ich mit dem Mindset hingefahren, dass es einen Versuch wert ist, aber ich eigentlich nicht geeignet bin. Aber ich darf das Angebot nicht ausschlagen, sonst tanzt mir die Agentur für Arbeit auf der Nase herum. Ab nach Neumünster!

...und dann realisiere ich auf dem Fußweg zur Schule, dass ich an einem ganz langen grauen Gebäude vorbeigehe, das ganze sechs Hausnummern für sich beansprucht: das Landesamt für soziale Dienste. Genau an dieses Gebäude habe ich meinen Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung geschickt. Genau aus diesem Gebäude kam ein Jahr lang keinerlei Rückmeldung zu diesem Antrag. Ich warte seit genau hundertdreiundsechzig Tagen auf einen Entscheid zu meinem Widerspruch (ich habe GdB 30 [rechtlich aber mit Schwerbehinderten gleichgestellt], sei aber, wie mein Psychiater mir bestätigt, definitiv als GdB 50 einzustufen). Ich komme nicht umhin, ein wenig zu grummeln, als ich das Gebäude passiere.

Tja, und dann der Besuch in der Schule. Erstmal versuche ich die beiden Haupteingänge, nur um herauszufinden, dass sie verschlossen sind. Now what?? Weil ich noch zehn Minuten Zeit habe, beschließe ich, einmal um den Block zu gehen, um zu sehen, ob die Schule noch andere Eingänge hat. Emotion: Panik, dass ich es nicht zum Gespräch schaffe, weil ich nicht weiß, wie ich in die Schule kommen soll.

Nach dem Rundgang schaffe ich es dann endlich, auf den Schulhof zu gehen und eine Schülerin zu fragen, wie ich zum Sekretariat komme. Aber typisch Autist: Immer erstmal selbst versuchen, bevor man um Hilfe bittet, und auch das kostet dann große Überwindung. 

In der Schule war es dann toll. Herzlich. Ich habe mich im Gespräch willkommen gefühlt, natürlich erfordert ein offizielles Auswahlgespräch auch die offiziellen KollegInnen dafür, und so waren wir zu fünft in dem Raum. Natürlich sage ich hier nichts über das Gespräch - aber über meinen Gemütszustand. Ich war froh, dass das nette Menschen waren, aber mein Herz ist in die Hose gerutscht, als da die üblichen Standardfragen für Auswahlgespräche aufgeploppt sind. Meine Erfahrung: Ich kann den Leuten nicht das sagen, was sie hören wollen, das wird nichts. Viele Planstellen, viele Absagen, ich habe reichlich Expertise.

Und so bin ich danach erleichtert, aber verunsichert zurückgereist nach Kiel. Dann kam ein paar Stunden später die Zusage, dass man mir die Stelle anbieten könne, und ich war von den Socken. Ich habe eine lange Meditation gebraucht, um das zu verarbeiten, und in dieser Meditation ist dann ein nagender Zweifel aufgekommen: Hat man sich für mich entschieden, nur weil ich eine Behinderung habe? Es gibt folgenden Passus, der in geradezu jeder Ausschreibung vorhanden ist:

"Die Landesregierung ist gesetzlich verpflichtet, Schwerbehinderte zu beschäftigen."

Nehmen sie mich nur deswegen, und nicht, weil ich ein guter Kandidat war? Das beschäftigt mich wirklich, und lässt mich nicht los. Einzig der nachfolgende Satz bringt da etwas Hoffnung:

"Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber werden daher bei entsprechender Eignung bevorzugt."

Hoffentlich bin ich geeignet.

post scriptum: Kurze Science Fiction-Filme gehen immer. Bringen den Geist zum Nachdenken, und wenn es dann auch noch eine leichte Komödie ist, warum nicht? "Robot & Frank", mit John Langella und Susan Sarandon, James Marsden und Liv Tyler, handelt von einem Juwelendieb im Rentenalter, der langsam nicht mehr allein zuhause zurechtkommt. Der Film spielt "in the near future", und Frank bekommt einen Roboter als Helfer an die Seite gestellt. Wie der Helfer sich dan zu einem Komplizen in einem Juwelendiebstahl entwickelt, ist der Hauptbestandteil des Films. Quirky, ganz eigener Humor, nicht wirklich vorhersehbar und mit ernsthaften Gedanken über das Älterwerden und das Vergessen. Kann ich nur empfehlen; bei "Freevee" kostenlos verfügbar. ;-)

Dienstag, 9. Januar 2024

Tag 161 - Rückwärts


.Tassen die Hoch 

.Arbeit Monate sechs Februar ab habe Ich :kurz es wir Machen .kommt was ,sehe Fahrt der bei gern immer Autist ich ,weil ungewöhnlich mich für ist Das .gesessen Fahrtrichtung der entgegen ,habe benutzt heute ich das ,Verkehrsmittel jedem in habe Ich .Neumünster in Gemeinschaftsschule einer an Auswahlgespräch ein ich hatte Heute .Grund banaler ganz Ein ?rückwärts heute ich schreibe Warum

.lassen sacken Erstmal .folgen Details :scriptum post 

Montag, 8. Januar 2024

Tag 160 - Schule


So, ich hoffe, Ihr seid alle weit genug im neuen Jahr angekommen, dass der erste Schultag für Euch positiv verlaufen ist. Falls nicht: Macht Euch bewusst, dass es gut ist, dass Ihr überhaupt einen Job habt. Und erinnert Euch daran, dass es die Arbeit mit den SchülerInnen ist, die Euch ein gutes Gefühl beschert. Falls nicht: Warum seid Ihr nochmal Lehrkraft geworden?

Hier, im dritten Stock, beginnt eine spannende Phase, wichtige Termine stehen an, darunter Auswahlgespräche für Vertretungen. "Du musst bei Bewerbungen immer mehrgleisig fahren", hat man mir frühzeitig gesagt. Niemals nur eine Bewerbung zur Zeit, sondern so viele wie möglich, absagen kann man immer noch.

Das mag stimmen, aber ich kann das nicht. Der Autist ist hier eingeschränkt: Wenn ich mich an einer Schule bewerbe, fokussiere ich meine ganze Aufmerksamkeit auf diese Schule. Ich bin derzeit schon mit zwei Bewerbungen überfordert; eine dritte Schule hat am Freitag angerufen und sucht eine Vertretung, aber ich habe bis heute nicht geantwortet. Mehrgleisig zu fahren ist für Autisten eine echte Herausforderung, gerade wenn sie die Grundsicherheit im Leben nicht haben.

Schauen wir mal, was bei den beiden Bewerbungen herauskommt.

Dienstag, 2. Januar 2024

Tag 154 - Die Würze im Leben


Originaltext: 

Manchmal bietet sich der Jahreswechsel an, um einen Blick auf das hinter einem liegende Jahr zu werfen. Diesmal halte ich es nach der Devise "Schaue niemals zurück - du ersparst dir den Blick in's Chaos." Zwanzig Dreiundzwanzig war für mich ein ziemlich mieses Jahr. Job und Zukunftsperspektive verloren, möglicherweise eine chronische Erkrankung dazugewonnen, noch immer kein Schwerbehindertenstatus, ich finde nicht viel Positives. Buddhismus würde mir in's Bewusstsein rufen, dass so ein blödes Jahr viel Gewinn im Lojong-Geistestraining gebracht hat. Ist auch so, und es entspannt sehr, ändert aber nichts an den kleinen Ungerechtigkeiten im Leben.

Also bleibt nur der Blick nach vorn, direkt geradeaus, und mit großen Schritten in den Januar zu gehen. Wichtige Gespräche stehen an, beruflich und ärztlich. Ich bin froh, dass ich bei alledem den Rückhalt meiner Familie und Freunde habe.

Und Berliner. Wie jedes Jahr zu Silvester habe ich mir ein Tablett bunt gemischt bestellt, allerdings keinen mit Senf. Den Senf esse ich dann lieber pur zum Abendessen - wobei, heute gibt es wieder Gemüsesuppe. Nach Würstchen mit Kartoffelsalat ist mir bewusst geworden, dass ich doch eher noch bei Schonkost bleiben sollte. Die fetten, süßen Berliner passen da natürlich nicht rein, aber ich lasse mir an diesem wichtigen Tag keine Freude nehmen.

Dieser Tag beginnt für mich immer am Vorabend, wenn die große Buba da ist, und wir irgendwann im Lauf des Abends uns gegenseitig briefen, wie wir Silvester so verbringen werden, denn sie weiß, dass ich an diesem Tag gern allein bin, ganz in meiner eigenen Welt, um mit dem Leben klarzukommen, wie es gerade ist.

...und das ist also die depressive Sichtweise auf dieses Silvester. Dann schalten wir die Atmosphäre doch mal eben um, wie Dario Argento in Suspiria, und schauen auf zwei feine Positivitäten. Da gab es ja schließlich doch was.

Vor ein paar Wochen ist nämlich Post angekommen, eine Bluray mit dem Film Hero. Ich war erstmal ein wenig verwirrt, hatte ich mir die bestellt? Hätte sein können, denn ich hatte gerade das wuxia-Filmgenre für mich entdeckt. Das sind Martial Arts-Filme, in denen es nicht um Kampf und Gewalt geht, sondern um Ästhetik. Da hat dann mit der Realität nicht mehr viel zu tun, aber das macht überhaupt nichts. Im Gegenteil: Wenn plötzlich zwei Kämpfer leichtfüßig über die Hausdächer springen und dazu wunderbare Musik erklingt, dann wirkt das surreal, wie ein Traum, und das kann man wunderbar genießen. 

Andere Filme in dem Genre sind zum Beispiel Crouching Tiger, Hidden Dragon oder House of Flying Daggers. Die Story interessiert mich da eher wenig, da sind keine großen Überraschungen dabei, manchmal übertrieben klischeehaft, aber das Künstlerische der Kampfszenen geht nicht an mir vorbei. Aber hatte ich mir Hero bestellt? Ich wusste, dass ich ihn mal sehen wollte...

...und dann ist mir der Gedanke gekommen, dass die große Buba mir vielleicht ein kleines Geschenk gemacht hat, denn wir hatten uns kurz zuvor über wuxia unterhalten. So eine kleine unerwartete Überraschung ist etwas Tolles, nicht disruptiv, sondern auf meiner Wellenlänge, und deswegen finde ich die große Buba toll.

Und auch etwas Anderes hat mir Lächeln beschert - ich habe mir endlich mal die Geduld genommen, eine milde Brühe aufgesetzt und dann reichlich Gemüse hinein und eine Stunde lang ziehen lassen. Ich war hin und weg, als ich realisiert hatte, dass die Brühe das Aroma des Gemüses aufgenommen hatte; plötzlich schmeckte die ganz normale Brühe so wie früher bei Mama, und das war ein toller Genuss.

Normalerweise tendiere ich eher dazu, Gerichte zu überwürzen, und bereite eine Brühe eher kräftig zu. Diesmal habe ich bewusst einen Löffel weniger vom Brühenpulver genommen - nachwürzen kann man immer noch. Eine schöne Erkenntnis, die ich schon viel früher hätte haben können, wenn ich nicht immer darauf fixiert wäre, das Essen schnell und unkompliziert hinter mich zu bringen.

Silvester.

Fünfunddreißig Minuten nach Mitternacht, die Hamburger Chaussee kommt etwas zur Ruhe, hier und da donnert noch das Echo von Knallkörpern durch die Häuserzeilen. Römisches Licht, Goldregen, Silberfunken, Crackling, Vulkan, Heuler, Ufo, Bodenwirbel, Frosch, Teppich, Kanonenschlag, Kugelbombe, Fontänenbatterie. Ich kenne jeden einzelnen dieser Effekte, denn ich liebe Feuerwerk über alles, und schon als Kind habe ich mich intensiv mit den Feuerwerkskörpern auseinandergesetzt, bevor es dann an Silvester zur Zündung ging.

Natürlich bleibe ich über Mitternacht im Haus. Ich wohne einfache Lage, das lässt sich übersetzen nach "viele junge Menschen, die gern sehr viel trinken und ausgelassen feiern." Und in deren Händen das Feuerwerk eigentlich nichts zu suchen hat. Mich hat es früher tatsächlich persönlich verletzt, wenn jemand einen Feuerwerkskörper nicht genau nach Anleitung gezündet hat. Und was machen die Vollpfosten da unten?

Stecken die Raketen extra fest in den Boden, damit sie nicht abheben können und dann direkt auf Augenhöhe in alle Richtungen explodieren. Nicht einmal, sondern fünfmal, jedesmal begleitet vom Johlen (und was da noch so für Geräusche herauskommen) der jungen Männer. Rücksicht auf andere? Wozu, sollen die doch drinnen bleiben! So wie ich. Und dann stellen sie eine Batterie quer auf den Boden und die ganze Ladung knallt nicht nach oben, sondern nach vorn. Geil! Lass' ma' Krieg spielen! Und dann überrascht es mich auch nicht mehr, wenn die gleiche Gruppe es zu einer Challenge macht, Raketen so lange in der Hand zu behalten, bis sie losfliegen, und dann bekommen sie den Feuerstrahl des Treibsatzes in's Gesicht und drehen sich erschrocken weg. Egal, das war aufregend, machen wir noch ein... nein, viermal.

Es überrascht mich fast schon, dass der erste Polizeiwagen mit Sirene und Blaulicht erst zwanzig Minuten nach Mitternacht vorbeifährt. Normalerweise geht das schneller. Und natürlich wird auch der Einsatzwagen von den Leuten unten angegrölt.

Und trotzdem liebe ich Feuerwerk auch weiterhin, und das wird sich nie ändern. Es ist nur die Kombination aus Feuerwerk, Alkohol und Testosteron, die mich zum Kotzen bringt. Aber bloß nicht das Gras freigeben! :O Und wenn, dann bitte nur in einem um Jahre verzögerten Pilotprojekt.

Menschen sind unlogisch. Leider macht genau das ihren Reiz aus.

Und jetzt stelle ich mich an den Herd, denn es wird Zeit für's Abendessen. Wasser, Brühe, Gemüse, Fleischklößchen in einen Topf, lange ziehen lassen, Nudeln dazu, wunderbar.

Auch wenn viele es wohl anders sehen mögen: Den perfekten Jahreswechsel verbringe ich allein, in Ruhe, in vertrauter Umgebung, in meiner ganz eigenen Taktung. Und glücklich.

Die Würze im Leben: Manchmal vermissen wir sie, dabei liegt sie direkt vor unseren Augen, wir müssen sie nur sehen können.