Freitag, 31. Januar 2020

Aufregende Woche

Pflaster sind momentan zum Glück noch nicht nötig...

Die Schienbeine blutig gekratzt, die Nagelbetten ausgetrocknet und eingerissen, der Kreislauf heute im Keller. Das sind die klassischen Symptome für eine aufregende Zeit bei mir.

Dabei war das alles ganz anders geplant. Im letzten Sommer, als in meinem Kopf der Groschen gefallen war, dass ich eine Behinderung haben könnte, bin ich mit Die Tante durch die Graudenzer Straße in Heide spaziert und wir haben überlegt, wie nun wohl die nächsten Monate aussehen würden. Ich hatte zum Glück zwölf Monate am Stück gearbeitet und damit Anspruch auf Arbeitslosengeld I - deswegen sind wir gelandet bei "Okay, bis zum Termin in der Psychiatrie schiebe ich die Jobsuche erstmal beiseite, und ab Februar schaue ich dann, wo ich wieder Arbeit finden könnte."

Das klang strukturiert, das klang gut geplant und war für mich nachvollziehbar. Und ich hatte etwas Angst, dass das für mich zuviel wird - gleichzeitig bewerben und Diagnose erleben. Aber wie das nun mal ist mit der Arbeitslosigkeit - zumindest bei mir - es wird langweilig, ich bin unterfordert und werde kirre, und deswegen habe ich dann doch irgendwann angefangen, nach Stellen zu suchen. Ich war allerdings nicht davon ausgegangen, dass ich zum ersten Februar irgendwo anfangen würde.

Und dann hat es sich eben doch so ergeben. Auswahlgespräch, erster Psychiatriebesuch, erster Besuch an der neuen Schule. Das mag für viele Menschen problemlos sein, aber mich überfordert das. Okay, das bekommt man offensichtlich nicht mit - in meiner dienstlichen Beurteilung steht zur Belastbarkeit "...und all' dies gelingt ihm scheinbar mühelos." - und auch meine erste Schulleiterin hat mir Unglaubwürdigkeit in's Gesicht geurteilt, als ich ihr erklärt habe, wie ich unter dem Referendariat gelitten habe.

Die Konsequenzen sind eben nicht offen sichtbar: Ich vergesse das Essen und Trinken, weil ich mit dem Kopf vollkommen in der neuen Schule Släsch Psychiatrie sitze, dadurch schwankt mein Kreislauf, und wenn ich denn etwas esse, achte ich nicht darauf, was es ist; mein Zuckerkonsum schnellt in die Höhe und das führt zu einem Neurodermitisschub, und das bedeutet oft: Kratzen, bis die Haut blutet, weil es so juckt. Und ich denke auch nicht daran, regelmäßig meine Hände zu waschen und danach einzucremen, so dass sie austrocknen, die Haut spröde und rissig wird und die Nagelbetten einreißen.

Von außen erkennt man das alles nicht, und wenn ich das anderen Menschen erkläre, heißt es ganz oft "Ach, das geht uns doch allen so!" - und das stimmt auch, aber eben nur bis zu einem gewissen Grad (und dann bringe ich die Geschichte mit dem Kreislaufzusammenbruch wegen Essenvergessen an und die Sache hat sich erledigt).

Ich muss also jetzt mal wieder ein neues Regelblatt aufhängen, um diese Schäden einzudämmen. Aber immerhin sind es diesmal positive Anlässe für diese Symptomatiken, und das ist schon okay so. Der Einstieg in der neuen Schule wird auch wieder holperig werden, aber ich versuche das zu kaschieren, damit es dann wieder heißt, all' dies gelinge mir scheinbar mühelos.

Donnerstag, 30. Januar 2020

Wasserturm und Banane

Endlich wieder kreativ sein!

Wie klein die Welt doch ist. Nicht nur, dass ich mit einer Kollegin zusammenarbeiten darf, bei der ich an der Uni - vor Ewigkeiten, als ich noch jung war, muss etwa dreißig Jahre her sein, oder achtzig - ein Seminar zu drama techniques belegt habe, nein, bei der Führung durch die Schule sehe ich mehrere bekannte Gesichter, und ich habe Probleme, die einzuordnen, und das ist mir etwas unangenehm - kennen wir uns aus dem Studium? Wer bist Du nochmal? Haben wir an einer anderen Schule zusammen gearbeitet? Besonders peinlich, weil sich all' diese Menschen offenbar an mich erinnern können, aber bei mir wabert da nur so ein "joah, das Gesicht kenne ich irgendwoher" im Kopf herum.

Der Vertrag ist unterschrieben, Schulschlüssel überreicht. Schule Nummer sieben, und die ist mir auf Anhieb extrem sympathisch. Auch wenn ich nicht immer vergleichen soll, aber ich kann viel St.Peter-Ording dort wiedererkennen. SPO ist quasi code für eine Schule, an der ich mich wohlfühle. Davon gab es bisher nicht allzu viele, und ich weiß, dass das zu einem großen Teil auch an mir liegt. Sicherlich fühlen sich die Kollegen an meiner Ausbildungsschule wohl. Oder in Eckernförde. Aber ich habe scheinbar einen speziellen "Kollegiumsbedarf", wie auch immer.

Wie toll sich die neue Schule anfühlt! Ein ähnliches Gefühl hatte ich auch, als ich meine erste Nacht in dieser Wohnung verbracht habe. Es wäre bestimmt toll, wenn der Vertrag verlängert werden könnte, aber das sehen wir, wenn der Sommer kommt. Ein Motiv auf dem Schulhof ist mir besonders in Erinnerung geblieben, aber das ist einen eigenen Eintrag wert.

Jetzt geht es erstmal los mit dem Papierkram, ich muss meinen Schulschlüsselbund wieder hervorsuchen, der mit dem Spruchanhänger Der Schlüssel des Erfolgs, der fällt Schülern immer wieder auf, und dann fragen sie auch nach dem anderen Anhänger, den mir die Sannitanic aus Spanien mitgebracht hat - aus dem Freizeitpark PortAventura. 

Und was hat es mit dem Titel auf sich? Auf dem Schulgelände ist ein unerwartetes Wahrzeichen, ein Wasserturm, ein ordentlicher Gegensatz zum Bauhaus-Stil der Schulgebäude, und ein Gebäude wird tatsächlich von allen nur Banane genannt, aufgrund seiner Form.

Vielen Dank, Jessica, dass Du dir so viel Zeit für mich genommen hast!!!

post scriptum: Es ist fantastisch, einen Gamer als Nachbarn zu haben, der eine Tastatur übrig hat, so kann ich nun ohne große E-Verluste tippen und es sollten nicht mehr ganz so viele Fehler auftauchen. Fehwer, nicht wahr, die große Buba? Und so aufregend: Er scheint beim Saubermachen einige Tasten an den falschen Stellen angebracht zu haben, wenn ich nun also ein H brauche, muss ich auf das A drücken, und der Buchstabe A ist wiederum von M besetzt. Ich finde das unglaublich faszinierend, weil ich hier problemlos tippen kann. Offenbar braucht das Gehirn irgendwann den Aufdruck auf den Tasten gar nicht mehr, weil es abgespeichert hat, wo welche Buchstaben liegen. Ich habe seit meiner Jugend relativ viel geschrieben, ich mache das gern - ich kann kein vernünftiges Zehn-Finger-System, aber trotzdem einigermaßen schnell tippen.

paulo post scriptum: Heute abend werde ich mir endlich Ari Asters neuen Folk-Horrorfilm "Midsommar" (2019) anschauen. Ich bin gespannt, er soll gut sein, und Asters Stil hat mir schon in "Hereditary" (2018) gefallen.

Dienstag, 28. Januar 2020

"Bon(g) (b)rauche ich nicht."

Witzige Idee eines Bäckers

Jep, Bong rauche ich tatsächlich nicht. Ich habe das ein paarmal ausprobiert, aber mir sagt die Wirkung des THC so gar nicht zu (wobei es lustig war, aus einer leeren Colaflasche, einem Kugelschreiber, einem Perlator, Alufolie und Klebeband etwas zu improvisieren). Ich fühle mich unter dem Einfluss extrem dumm, und ich nehme das als sehr unangenehm wahr. Gilt aber nicht für alle: Ein paar hochbegabte Schüler haben mir berichtet, dass sie ganz froh sind, wenn sie durch das Kiffen für eine Weile ihren Kopf abschalten können und nicht mehr denken müssen. Und ich kann das sehr gut verstehen.

Heute geht es mir allerdings um die andere Lesart des Titels - "Bon brauche ich nicht." - ein Satz, der schon seit Langem in meinem Repertoire ist, dessen Bedeutung mir aber seit der gesetzlich geregelten Bonpflicht immer bewusster wird. Mittlerweile müssen überall Bons ausgestellt werden - ob der besseren Nachvollziehbarkeit der Abrechnung, heißt es. In der Apotheke, im Supermarkt, im Blumenladen, an der Tanke. Jeder muss mitziehen.

Auch eine Supermarktkette wie EDEKA, die es sich - zumindest bei der Filiale da vorne - zur Norm gemacht hat, Bons nur noch auf expliziten Wunsch an der Kasse ausdrucken zu lassen. Das fand ich toll, spart Papier, sehr viele Kunden wollen diese Zettelchen gar nicht haben und werfen sie eh' gleich weg. Das kann problematisch sein, denn viele Kassenzettel sind auf Thermopapier gedruckt, das eigentlich im Sondermüll entsorgt werden muss.

Großartig, nun wird also noch mehr Papier verbraucht und achtlos weggeworfen, und das Drollige dabei: Es gibt keinerlei Sanktionen, wenn ein Geschäft sich nicht an die Bonpflicht halten sollte. Warum denn dann überhaupt? Ich verstehe das bis heute nicht.

Montag, 27. Januar 2020

DrH bei DrT

Was geht in diesem Kopf vor sich?

Die Aufregung der letzten Tage fällt ab.

Ursprünglich sollte dieser Artikel Danach heißen, aber eigentlich wäre Mittendrin passender. Ich sitze gerade im Zug von Lübeck nach Kiel und habe meinen ersten Besuch im Zentrum für integrative Psychiatrie (ZiP) hinter mir. Meine betreuende Ärztin war sehr nett, und das hat nach der kleinen Odyssee über den UKSH-Campus wirklich gut getan.

Eigentlich war die Anweisung eindeutig: Anmeldung in Haus 33. Ach ne, seit drei Tagen Haus 22B. Die erste gute Nachricht war, dass der Bahnhof Lübeck St.Jürgen fast direkt am Campus liegt, keine Busfahrt nötig, und nach nur fünf Fußminuten stand ich am Campuswegweiser. Den hatte ich mir sicherheitshalber auch am Vorabend ausgedruckt, und toll, Haus 22 ist gleich da vorne um die Ecke! Mit einem Strahlen gehe ich um das Gebäude herum Richtung Eingang - doch dort steht "Haus C1". Okaaaaayyyy....

Ich muss sehr verwirrt ausgesehen haben, denn schnell hat mir eine Mitarbeiterin weitergeholfen: "Haus B22, ja, da gehen sie einfach immer geradeaus zu dem Gebäude, auf dem 33 steht. Das ist 22." What the...? Aber dort stand dann tatsächlich "ZiP", und das hat mich beruhigt. Die nette junge Dame dort hat mir dann (m)eine Krankenakte mitgegeben und gesagt, ich muss zu B1. Eine andere Mitarbeiterin auf dem Campus bringt mich dann zu Station B.1, und dort heißt es dann "Nein, das Haus da vorne, auf dem 3 steht, das ist B1."

Passierschein A38, anyone?

Naja, irgendwann sitze ich dann bei DrT im Büro. Sie ist sehr nett, und fragt erstmal ganz allgemeine Dinge, darunter auch mein aktueller Gemütszustand (Skala 1-10), ob ich gut schlafen kann, wann ich mine letzte Beziehung hatte, ob ich in den dreizehn Jahren seit meiner letzten Beziehung kein Interesse an Bindung hatte, dann geht es zu den Auffälligkeiten, die ich hier nicht noch einmal en detail aufschreibe. Ich freue mich, dass ich nicht erklären musste, warum ich die Diagnose haben möchte, und dass ich nicht erklären musste, warum ich schwarz trage. Insgesamt sehr angenehm.

Mein weiterer Fahrplan sieht einen Termin im März vor, da werde ich einen Tag in Lübeck verbringen und verschiedene Gespräche führen und Tests machen. Zwei kleine Tests waren heute schon direkt dran: Knapp vierzig Fotos von Gesichtsausdrücken mit jeweils vier möglichen Attributen (besorgt, freudig, überrascht und viele mehr), von denen ich das jeweils treffende ankreuzen sollte, und dann wurden knapp vierzig Sätze vorgespielt, deren Tonfall ich deuten sollte (ähnliche Attribute). Das ist also schon einmal ein Anfang.

Bis zum März werde ich mir jetzt Gesprächsthemen und Fragen notieren. Mich würde interessieren, welche Formen von Nachteilsausgleich es geben kann, das können Alltäglichkeiten sein wie die Parkerlaubnis auf einem Behindertenparkplatz. Bis dahin ist genug Zeit, um jetzt erstmal in der neuen Schule anzukommen, das wird sehr aufregend werden, und jetzt endlich kann ich mich darauf konzentrieren.

Donnerstag, 23. Januar 2020

Einmal Verbrecher - immer Verbrecher?

vorher - nachher

In den letzten sieben Jahren habe ich mir immer wieder einen Spaß daraus gemacht, Schülern meinen Personalausweis zu zeigen - denn darauf ist ein biometrisches Bild von mir zu sehen. Damals brauchte ich das für meinen Reisepass, um in die USA fliegen zu können. Ich hasse diese biometrischen Bilder, auch wenn es der Sicherheit dient. Ich sehe darauf aus wie ein Schwerverbrecher auf einem klassischen mugshot.

Im vergangenen September ist mein Perso abgelaufen, und ich musste knapp vier Monate lang auf einen Termin im Amt warten. Und natürlich muss ich ein aktuelles Foto mitbringen, und ich könnte einfach zu einem Fotostudio gehen, das sind Profis, aber ich liebe Technik-Spielkram (Schnellkasse Revolution: Kontaktlos ist in Arbeit), also habe ich mich wieder in eine Fotofix-Box bgeben und versucht, diesmal nicht ganz so böse auszusehen. Wie gesagt, versucht. Ansatzweise lächelnd, mehr ist nicht erlaubt.

Ich freue mich schon auf die Verlängerung des Reisepasses.

post scriptum: Linnea, Deine Nachmieter sind jetzt auch hier ausgezogen, die Wohnung wird anscheinend renoviert, mal schauen, wer als nächstes kommt!

paulo post scriptum: Heute habe ich den neuen Science Fiction-Film "Ad Astra" (2019) gesehen - eine der wenigen subtilen, grandiosen schauspielerischen Leistungen von Brad Pitt, dazu aufregende Bilder aus unserem Sonnensystem und ein Fokus nicht auf Popcorneffekten, sondern eine sehr persönliche Geschichte. Definitely recommended!

Mittwoch, 22. Januar 2020

Annie Kay Meets Schwarze Szene

Heute ist es für mich überhaupt kein Problem mehr, ausgefallene Sachen zu finden - das war mal anders, und auch Annie Kay kann davon ein Lied singen.

Heute geht es um ein Gefühl von Zugehörigkeit als Alternative zum Freakdasein. Ich habe vor gut zwei Jahren schon einmal darüber geschrieben, aber es kann nicht schaden, das regelmäßig zu updaten. Gerade wenn man einen akuten Fall hat.

Ich kann mich noch gut daran erinnnern, wie ich mein erstes Paar New Rock Boots bestellt habe. Sauteuer, zweihundert Euro, und als Student musste ich dafür eine ganze Weile sparen, aber das war es wert: Ein paar Wochen später hatte ich zwei schwere Stiefel aus Spanien in der Hand, maßgefertigt aus Rindsleder, mit mehreren Metallapplikationen, auf die ich eine lebenslange Garantie habe, falls mal etwas abbrechen sollte - was in den vergangenen fünfzehn Jahren noch nicht ein Mal passiert ist. Die Schuhe sind qualitativ hochwertig, extrem bequem, auffällig und in der Schwarzen Szene gar nicht mal so ungewöhnlich. Wenn ich auf der Tanzfläch der Lost Souls meinen Blick nach unten richte, finde ich die Marke - erkennbar am runden Metalllogo - an mehreren tanzwütigen Beinen.

Abr wie kommt man an solche Sachen heran? Wenn man zum Beispiel noch nicht volljährig ist, und die Eltern das ganz bestimmt nicht erlauben würden? Heimlich im Internet bestellen fällt flach, wenn die Eltern die Post entgegennehmen. Bleibt also nur der ganz klassische Einkauf - in Kiel zum Beispiel im Laden Obscene, der nicht ohne Grund viele positive Bewertungen erhält. Und dennoch: Wenn man zum allerersten Mal in der Szene shoppen möchte, gehört ein wenig Mut dazu.

Wenn man diesen Mut aufbringen kann, wird man im Laden allerdings mit einigen der Charakteristika der Szene konfrontiert: Kaum fällt die Ladentür zu, wird ein Getränk angeboten, es gibt eine Führung durch das Geschäft, es ist alles sehr freundlich und familiär. Gesiezt wird nicht, denn das ist aus meinem Blickwinkel altmodischer Schwachsinn. Jegliche Angst fällt ab, und ganz kostenlos bekommt man das Gefühl, dazuzugehören, und nicht mehr ein Freak zu sein wie zum Beispiel in der Schule. Das ist eine Szene, in der das Alter irrelvant ist. Die Sexualität übrigens auch, erstaunlich weit verbreitet. Divers eben.

Und selbst wenn man bei'm ersten Besuch nur das eine oder andere neue Armband kauft, freut man sich schon auf den nächsten Besuch, irgendwann, und man merkt, dass die Schwarze Szene unglaublich tolerant ist. Quasi ein Gegenstück zum MAX in Kiel.

post scriptum: Annie Kay, Du bekommst natürlich auch noch eine vernünftige Antwort! ;-)

Dienstag, 21. Januar 2020

Termin umlegen


So langsam habe ich den Schock von gestern verarbeitet. Auch wenn es ein positiver Schock war - ab Februar darf ich an einer neuen Schule unterrichten - so fühlt es sich doch erstmal unglaublich an. Wie ein Riss in der Tapete, ein Riss in dem ALG I-Gefüge, ein Riss in dem Ich bin unterfordert-Gefüge. Jetzt kann ich anfangen, die ganz pragmatischen Konsequenzen anzuschauen.

Dazu gehörte auch, einen Zahnarzttermin zur regulären Kontrolle umzulegen. Der wäre eigentlich heute gewesen, aber das ist vielleicht ein schöner Punkt, um den Behinderungsgrad aufzuzeigen: Das überfordert mich, ich kann gerade nicht an den Zahnarzt denken, der muss zwei Wochen weggeschoben werden, sonst falle ich in geistige Quarantäne.

Ist ja kein Problem, ein kleiner Anruf und die Sache ist geklärt. Hey die große Buba, wenn Du das hier liest: Ich habe wesentlich weniger Probleme damit, irgendwo anzurufen, als bei unerwartetem Klingeln an's Telefon zu gehen - weil ich mich darauf nicht vorbereiten kann. Und trotzdem habe ich mich irgendwie schuldig gefühlt.

Kennt Ihr das? Da hat man einen Termin und kann den nicht einhalten, und muss das jemandem mitteilen. Ich hasse es, zugesagte Termine nicht einzuhalten (was einer der Hauptgründe ist, warum ich mich nicht mehr oft mit anderen Menschen verabrede). Vieleicht ist das so ein "Der Ablaufplan muss stimmen"-Autismus-Ding, aber vielleicht ist das auch ein ganz normales Gefühl. Schlechtes Gewissen, dabei sachlich völlig unbegründet.

Chill' mal, Dr Hilarius!

post scriptum: Wenn ich auf den gestrigen Beitrag blicke... es ist eine Ironie: Schüler melden mir immer wieder zurück "DrH, sie können die Sachen so gut erklären" - und ich meine mich zu erinnern, dass mir im Studium irgendjemand den "Erklärbär"-Spitznamen verpasst hat - aber ausgerechnet, wenn es um mich selbst und um meine Arbeit geht, kann ich überhaupt nix mehr erklären...

Montag, 20. Januar 2020

Ich kann mich nicht erklären

Wie funktioniert dieser Lehrer?

"Werden sie mal konkret." Das meinte ein Schulleiter vor ein paar Jahren zu mir, als ich in einem Vorstellungsgespräch erwähnte, dass ich offenbar ein ungewöhnlicher Lehrer bin, der seinen Unterricht ein bisschen anders macht. Vollkommen nachvollziehbar, dass man da als Schulleiter gern ein paar Beispiele hätte - und ich habe damals den Fehler gemacht, auf diese Aufforderung zu reagieren. Ich habe dann irgendwas vor mich hingestammelt, was sicherlich klang, als ob ein Nulltsemester seine Pädagogik-Hausaufgaben nicht gemacht hat. Und das ist ein ernsthaftes Problem. In Zukunft werde ich auf die Aufforderung "Werden sie mal konkret" eine Anekdote anbringen, die ich im Blog schon einmal erwähnt hatte. Jetzt aber für einen neuen Zweck.

Der allererste Unterrichtsbesuch. Lehrprobe nennen die Studienleiter sowas nicht mehr, damit die jungen Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst keine Angst bekommen. Scheiß' auf den Namen, ich hatte trotzdem Angst vor dem ersten Unterrichtsbesuch von Herrn Kruse im Fach Latein. Ich habe eine Stunde zusammengebastelt, die recht voll, aber machbar war, inklusive Sicherung und Transferphase. Und meine Klasse war seelisch darauf vorbereitet, dass da hinten Leute sitzen.

Die Stunde lief, guter Einstieg, Überleitung in die Erarbeitungsphase, und dann saßen sie alle an ihren Aufgaben. Hier und da haben sich Schüler gemeldet, ich gehe hin, vor ihr Pult, runter in die Hocke und helfe ihnen. Ich bin einfach zu groß, und ich möchte mit meinen Schülern auf Augenhöhe kommunizieren. Ich ermutige sie, ihre Probleme zu beschreiben und versuche dann, sie individuell zu unterstützen.

Ich schaue auf meine ArmbanFUCK!!! Nur noch fünf Minuten, scheiße wo ist die Zeit hin scheiße scheiße was mache ich jetzt.... ich weiß nicht mehr genau, wie es gelaufen ist, aber ich habe die Stunde beendet, die Schüler entlassen, Schauspieltalent hilft, dass sie von meiner Panik nichts mitbekommen. Schüler raus, Tür zu, Nachbesprechung:

DrH: "Okay, das hat nicht geklappt, das war eine schlechte Stunde, entschuldigen sie bitte, Herr Kruse. Die erste Lehrprobe, und ich habe gerade mal fünfundzwanzig Prozent meines Plans geschafft." Dann habe ich die übliche Evaluation abgezogen, was mache ich nächstes Mal anders und so weiter.

Kruse: "DrH, entspannen sie sich, sie werden hier nicht geprüft. Es stimmt, sie haben in der Erarbeitungsphase die Zeit aus den Augen verloren, aber ich muss ihnen widersprechen: Ich habe gerade eine hervorragende Lateinstunde gesehen."

WTF? Und dann hat er mir erklärt, warum das scheinbar eine gute Stunde war, und ich habe mir nichts von dem merken können, was er gesagt hat, weil ich es nicht verstanden habe. Weil mein Unterricht eben nicht aus dem Lehrer-Handbuch kommt, sondern aus meinem Kopf Släsch Herz, intuitiv. Und da liegt das Problem; ich mache meinen Unterricht irgendwie so, dass viele Schüler gern daran teilnehmen, ich kann das nicht konkretisieren. Ich kann das diesen Auswahl-Gesprächsrunden nicht detaillierter erläutern. Ich kann meine Arbeitsweise nicht beschreiben. Ich kann mich nicht erklären. Man müsste schon einen gewaltigen Vertrauensvorschuss mitbringen, indem man mich einstellt.

In den Auswahlgesprächen der letzten zwei Jahre ist eine Frage immer wieder aufgetaucht: "DrH, wenn ich mir ihren Lebenslauf so ansehe, sie bringen hervorragende Referenzen mit, warum haben sie denn noch keine Stelle?" Und immerhin habe ich es gelernt, in solchen Situationen keine Tränen mehr in den Augen zu haben, weil diese Frage wie ein Messerstich sitzt und die Ungerechtigkeit mal wieder vor mir ausbreitet. Mittlerweile bleibe ich ruhig und sage, dass ich auch das nicht erklären kann. Ich weiß es nicht. Sicherlich trägt es viel dazu bei, dass ich meine Arbeitsweise potentiellen Arbeitgebern nicht erklären kann, und ich habe keine Ahnung, ob das vielleicht mit einer Störung im Autismusspektrum zu tun hat.

Deswegen bin ich umso glücklicher, dass ich ab dem ersten Februar für ein halbes Jahr an einer neuen Schule unterrichten darf.

Freitag, 17. Januar 2020

Die öffentliche Persona

Nicht für die Öffentlichkeit gedacht!(?)

Der Titel ist eine Anspielung auf einen Song aus meiner Rosenstolz-Phase, Die öffentliche Frau. "Dr Hilarius" ist öffentlich zugänglich, aber es wird eine kleine Änderung im Blogleben geben - die meisten von Euch werden davon nichts mitbekommen. Bisher habe ich die neuen Blogbeiträge bei Facebook immer "öffentlich" geteilt, das werde ich jetzt auf "Freunde" umstellen. Vielleicht kommen stalkende Schüler dann nicht ganz so schnell auf den Blog (doch, werden sie) und es gibt nicht ganz so schnell Gesprächsbedarf mit Schulleitungen. Denn auch wenn ich mir wirklich Mühe gebe, mich an alle rechtlichen Richtlinien zu halten, ist der Blog vielen Schulleitern ein Dorn im Auge. Und wenn es nur ist, weil ich potentiell interne Informationen herausgeben könnte. Da versucht man dann gern mal, mir einen Maulkorb aufzusetzen.

Am Blog selbst ändert das nichts. These Are Hilarius Times! wird auch weiterhin öffentlich zugänglich sein, es geht nur um die Verbreitung bei Facebook. Wenn Ihr dort mit mir verlinkt seid, seht Ihr auch weiterhin jeden neuen Beitrag, den ich poste; alle Anderen müssen - wenn sie es denn wollen - ein bookmark auf die Seite setzen und regelmäßig nachschauen.

Keine Ahnung, ob das was bringt, aber vielleicht stimmt es die Schulleitungen etwas ruhiger. ;-)

Donnerstag, 16. Januar 2020

Organspender? YAAASSS QUEEN!!!


Seit heute mittag habe ich einen neuen Reisebegleiter im Portemonnaie - meinen Organspenderausweis. Bis heute habe ich immer wieder Ausreden gefunden, warum ich keine Organe spenden sollte; die letzte Ausrede war, dass ich ja keinen Ausweis mehr brauche, wenn es zur Widerrufslösung kommt. Heute mittag habe ich dann in den Nachrichten gelesen, dass diese von Gesundheitsminister Spahn vorgeschlagene Lösung - mal ein Punkt, in dem ich mit ihm übereingestimmt habe - vom Bundestag abgelehnt wurde. Mein Argument war weg, und so bin ich zur Apotheke getingelt.

Es hat zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden gedauert, den Ausweis auszufüllen und einzustecken. Keine Ausreden mehr.

Wenn ich nach meinem Tod noch Leben retten kann, dann möchte ich das unbedingt tun. Weil ich weiß, dass ich es mir auch von anderen Menschen wünschen würde, falls irgendwann einmal eines meiner eigenen Organe versagt.

Kurz und bündig.

post scriptum: Heute hatte ich tatsächlich Probleme, zwei eingegangene Informationen zu verarbeiten. Auf der einen Seite habe ich eine Einladung zum Gespräch im Arbeitsamt bekommen, find's klasse, dass mein Sachbearbeiter mich bisher unbehelligt gelassen hat, damit ich mich auf die Psychiatrie konzentrieren kann - der Termin liegt in der zweiten Februarhälfte, vielleicht kann ich dann genauere Aussagen zu meiner kognitiven Konfiguration sagen, das könnte bei der Arbeitssuche helfen. Auf der anderen Seite habe ich heute von der Toni-Jensen-Schule eine Einladung zum Gespräch am kommenden Montag bekommen. Das läuft der ersten Nachricht entgegen, weil ich dann ja vielleicht, wenn es klappen sollte, im Februar nicht mehr arbeitslos sein würde und den Termin im Arbeitsamt absagen kann. Ein bisschen wie Schrödingers Katze: In diesem Moment, genau jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, wird das Gespräch gleichzeitig stattfinden und nicht stattfinden. Verwirrend.

Mittwoch, 15. Januar 2020

Der Horror der Selbsterkenntnis

Erkenne Dich selbst...?

Ich liebe gute Horrorfilme. Manche der besten Horrorfilme sind gar nicht als solche deklariert; gestern habe ich mir eine Dokumentation angeschaut, deren letzter Akt mich bis in's Mark erschüttert hat - eine wahre Geschichte. Tell Me Who I Am (2019) handelt von zwei eineiigen Zwillingsbrüdern, deren Leben eine drastische Wendung erfährt, als einer von ihnen nach einem Motorradunfall in's Koma fällt. Das Ereignis liegt Jahrzehnte zurück, zwei der drei Akte werden quasi aus Interviews in der Gegenwart rekonstruiert.

Der erste Akt des Films beginnt mit Alex' Erwachen. Er öffnet die Augen, realisiert, dass er in einem Bett liegt, und dass ein Mann daneben steht. Er erkennt ihn sofort, "Hey Marcus!" sagt er zu ihm. Zu seiner Linken steht eine Frau, die ihn aufgeregt begrüßt, doch er erkennt sie nicht. Es ist eine wildfremde Frau; es ist nur verständlich, dass er seinen Zwillingsbruder fragt, wer diese Frau ist. Marcus stutzt - und erklärt ihm, dass es sich um seine Mutter handelt. "Weißt du, wer du bist?" fragt Marcus, und erst jetzt realisiert Alex, dass er sein Gedächtnis verloren hat.

Mit der Hilfe seines Bruders lernt Alex alles erneut, was er bisher wusste - wer seine Eltern sind, was ein Fahrrad ist, wer seine Freunde sind, wozu ein Stuhl gut ist, und er lernt dabei auch, dass die Brüder mit achtzehn Jahren immer noch unter der strengen Herrschaft des Vaters stehen. Dabei ist es besonders faszinierend, wie neugierig Alex auf all' das zugeht, fast schon freudig, obwohl man vielleicht eher Angst erwarten würde bei einem Gedächtnisverlust. Auch bemerkenswert: Er gewinnt die Chihuahuas seiner Mutter lieb, obwohl er sie früher gehasst hat.

Der zweite Akt zeigt das Erwachen und das Neu-Erlernen aus der Perspektive des Bruders Marcus. Er beschreibt, welche Gedanken er sich damals gemacht hat, wie er überlegt hat, was er seinem Bruder alles beibringt, in welcher Reihenfolge, und was er vielleicht auslässt. Wir erfahren, dass er eine sehr wichtige Information für sich behalten hat, und wir erfahren, dass Alex davon natürlich nichts gemerkt hat - bis zum Tod seiner Mutter, infolge dessen die Brüder zum ersten Mal das gesamte Haus betreten dürfen, aufräumen und dabei ein sehr verstörendes Foto finden. An dieser Stelle ist es mit Alex' freudiger Neugier vorbei, und Marcus erklärt nun, warum ihn dieses Ereignis noch viel mehr aus der Bahn geworfen hat als seinen Bruder.

Diese beiden Akte sind Inhalte des Buches, das die Brüder vor Jahren über dieses Ereignis veröffentlicht hatten. Der Film geht einen mutigen Schritt weiter, indem er einen dritten Akt eröffnet, in dem die Brüder sich einander gegenüber setzen und Marcus jetzt, sechsunddreißig Jahre nach dem Unfall, seinem Bruder endlich die ganze Wahrheit zukommen lässt über das, was vor dem Unfall passiert ist. Diese Szenen sind sehr kraftvoll und erschütternd, weil sich dem Zuschauer - und Alex - erst jetzt das gesamte Ausmaß des Horrors erschließt, den Marcus ein Leben lang kannte. Vermutlich konnte man schon ahnen, worum es sich bei diesem "Geheimnis" handelte, aber live mitzuerleben, wie Alex endlich die Wahrheit erfährt, besitzt eine ganz eigene Dynamik.

Gedächtnisverlust ist ein beliebter Topos in Filmen wie Dark City (1998), Memento (2000), Radius (2017), Remember (2015) und vielen weiteren. Die suspense ergibt sich ganz natürlich daraus, dass auch der Zuschauer erst nach und nach alle wichtigen Informationen erhält, bis zu einer abschließenden anagnórisis, einer Wiedererkennungsszene. Der wesentliche Unterschied zu Tell Me Who I Am besteht darin, dass dieser Film keine Fiktion darstellt. Und der Horror steigert sich durch das Bewusstsein, dass die Brüder mit ihrer Vergangenheit nicht allein sind.

Tell Me Who I Am ist auf Netflix verfügbar.


Montag, 13. Januar 2020

Instantnudeln


Okay, der Beitrag dreht sich um Essen und als Bild nehme ich das Psychologie-Bild? Liegt vielleicht daran, dass es sich anfühlt wie ganz, ganz unten, wenn ich Instantnudeln esse. Keine Lust auf langes Kochen, kein Geld für teure Zutaten, keine Motivation, überhaupt irgendwas zu essen, keine Lust auf viel Abwasch, kein Interesse an authentischen Geschmackserlebnissen, Egal-Haltung gegenüber Geschmacksverstärkern.

Es dauert immer ein, zwei Tage, bis mir das wirklich bewusst wird - aber immerhin wird es irgendwann. Dann kann ich mir einen Plan machen, um endlich wieder aus dem Quark zu kommen. Ich könnte zum Beispiel etwas früher aufstehen. Und ich könnte auf die zwei Anfragen von Schulen antworten, die am Freitag und heute eingetrudelt sind - ja, tatsächlich, da ist ein Gymnasium und eine Gemeinschaftsschule, beide in Kiel.

Vielleicht sollte ich aufhören, mir einzureden, dass ich Diagnose und Vertretung nicht parallel wuppen kann. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viel man sich kaputtdenken kann. Hochbegabung bewirkt, dass man für jegliches Verhalten eine Ausrede finden kann, egal, wie selbstschädigend es ist. Vielleicht sollte ich aufhören, Instantnudeln zu essen.

Toni Jensen und Hans Geiger. Schauen wir mal.

Freitag, 10. Januar 2020

Versprochen


Heute kurz und bündig, ich hatte Euch ja versprochen, dass noch eine Erklärung dafür kommt, dass hier zu Jahresbeginn tote Hose war: Es gab mal wieder eine Stellenausschreibung, unbefristet, an einer Gemeinschaftsschule in Rendsburg, und ich hatte mich beworben und vorbereitet und war Dienstag zum Vorstellungsgespräch, aber das alte Lied: Man traut mir nicht zu, ein guter Lehrer zu sein, heute kam die Absage.

Das tut gar nicht mehr so weh. Was mehr schmerzt, ist die Frage "Warum haben sie dich denn nicht genommen?" - weil ich darauf nicht antworten kann. Weil es mich daran erinnert, dass innere Werte nicht so wichtig sind wie der erste Eindruck. Weil ich mal wieder feststelle, dass es nicht reicht, ein guter Mensch und ein guter Lehrer zu sein. Das Nachdenken darüber kann unglücklich machen - deswegen freue ich mich jedesmal, wenn diese Frage nicht kommt.

Der positive Blickwinkel ist zum Glück direkt nebenan: Jetzt kann ich mich auf die Psychiatrie konzentrieren, jetzt kann ich mich wieder um Kurzzeitvertretungen kümmern.

Donnerstag, 9. Januar 2020

"Wer bist du nochmal?"

Es ist immer noch nicht so leicht, in Deutschland schwul zu sein...

Kiel Dreiecksplatz. Ich warte auf den Bus nach Hause, in sechs Minuten kommt die Fünfhundertzwei, die Zweiundsechzig kommt erst in einer halben Stunde, die habe ich nämlich gerade verpasst. So stehe ich dort und schaue in's Nichts, da gehen drei Schülerinnen von der Schule da über die Straße, eine hatte ich mal im Unterricht. Sie schaut zu mir; als ich ihren Blick erwidere und lächele, schaut sie verschämt zur Seite und tuschelt zu ihren Begleiterinnen "Das da vorne ist Dr Hilarius!" - wieso scheinen Schülerx so oft zu glauben, dass man nichts von dem mitbekommt, was sie "flüstern"? Ich strahle sie weiterhin freundlich an, sie verschwindet rot im Gesicht hinter der Werbeanzeige für Kondome. Ich freue mich, dass ich gar nicht mitbekommen habe, wie drei Minuten vergangen sind, und da hinten kommt auch schon mein Bus nach Schulensee, ich lese "Schwulensee", als hätte ich hellseherische Begabung. Alles einsteigen, bitte!

Und der Bus ist recht voll. Ich arbeite mich in den hinteren Bereich durch, ich hätte zwar gern einen Stehplatz im Busgelenk gehabt, aber je nun. Also stelle ich mich in den Bereich des hinteren Ausgangs, froh, ein freies Fleckchen gefunden zu haben, drehe mich um und atme tief durch, und schaue herum, ob vielleicht noch weitere ehemalige Schülerx dort sitzen. Mein Blick bleibt an einem jungen Mann haften, irgendwie kommt mir das Gesicht... und dann fängt er an zu grinsen - ja, ich kenne ihn, und offensichtlich erkennt er mich, ich muss das Gesicht einordnen, Studium? Referendariat? Ehemaliger Kollege? Oder Schüler? Oh nein, ich habe keine Ahnung, aber ich habe auch schon angefangen zu grinsen, irgendwas muss ich jetzt sagen, ach herrje...

DrH: "Hey, wir haben uns ja ewig nicht gesehen!"

???: "Ja, tatsächlich, wie läuft es bei dir so?"

Weiß er, dass ich Lehrer bin? Haben wir zusammen studiert? Weiß er, dass ich arbeitslos bin? Wie komme ich möglichst unverfänglich weiter?

DrH: "Hm, eigentlich ganz gut, ich bin momentan mal wieder in einer Bewerbungsphase und hoffe, dass sich was Gutes findet."

???: "Ah, du bist jetzt Lehrer, oder?"

Wie peinlich. Er weiß das, und ich weiß nix von ihm, okay, was sage i...

DrH: "Und wie ist es bei dir momentan?"

???: "Im Moment wieder ganz gut, es war ein bisschen schwierig nach dem Coming Out, aber jetzt komme ich gerade wieder auf die Bahn, bin auf dem Weg zur Stadtmission, da arbeite ich zur Zeit."

Okay, das sind Anknüpfungspunkte, ich frage ihn einfach ein bisschen über seine Arbeit aus, und währenddessen kann ich überlegen, wie sein Name war, also einfach...

DrH: "Ja, das Outing ist manchmal eine echt schwierige Phase, ich bin auch froh, dass ich das lange hinter mir habe. Wie ist es denn bei dir gelaufen?"

???: "Eigentlich ganz gut, naja, mit meinen Eltern nicht so. Streng katholisches Elternhaus und so..."

DrH: "Wie bist du denn auf die Idee gekommen, dass du schwul bist?"

???: "Ich war in einer Beziehung mit einer Freundin, aber hab da irgendwie gemerkt, dass das nicht so wirklich lief, und dann hatte ich Schluss gemacht und gemerkt, dass es mit Jungs wesentlich besser läuft."

DrH: "Und deine Eltern kommen damit nicht klar?"

???: "Nein, meine Mutter sagt, sie hätte es lieber gern wie früher, da war alles in Ordnung. Und ich meinte dann, ach so, wie früher, als ich depressiv war und die ganze Welt angelogen habe und überhaupt nicht ich selbst sein konnte?"

DrH: "Hoffentlich können sie dich irgendwann so akzeptieren, wie du bist... wie gehst du mit der Situation um?"

???: "Naja, ich habe jetzt erstmal den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen..."

Ach du Scheiße. Und ich dachte, solche harschen Geschichten gibt es nur in Filmen oder anderen Kulturkreisen, oder bei den Amerikanern... aber jetzt sitzt da vor mir dieser junge Mann, den ich nicht identifizieren kann, in einer absolut miesen Situation, und jetzt werde ich wirklich neugierig und interessiere mich für seine Geschichte...

...und deswegen hat der Rest des Gesprächs hier auch nichts zu suchen. Das hat die Busfahrt wie eine leichte Brise wirken lassen, auch wenn das ein hartes Gesprächsthema war. Ich habe ihm gesagt, dass ich es toll finde, dass er sich geoutet hat. Und es zeigt, dass wir in Deutschland noch ein gewaltiges Entwicklungspotential in LGBTQ-Angelegenheiten haben. Nur weil wir (endlich) die Ehe für Alle haben, und weil es mittlerweile m/w/d-Ausschreibungen gibt, heißt das nicht, dass man als schwuler Mann vollkommen akzeptiert wird. Das tut mir verdammt leid, und hat mich in's Nachdenken gebracht. Und erst als ich in meiner Wohnung angekommen bin, wird mir bewusst, dass ich vergessen habe, das Wichtigste zu fragen:






post scriptum: Fachschaft, in meiner Abschlussphase, ich erinnere mich wieder, und wünsche ihm ehrlich, dass er irgendwann den Kontakt zu seinen Eltern wieder herstellen kann, denn es ist traurig, wenn man den familiären Rückhalt verliert, nur weil man schwul - oder irgendwas aus der LGBTQ-Ecke - ist. Zeigt auch, dass wir als Lehrkräfte dort noch eine Menge Aufklärungsarbeit leisten müssen.

Freitag, 3. Januar 2020

Rauchen gefährdet die Gesundheit???


Rauchen gefährdet die Gesundheit - das ist ein wunderbar griffiges Narrativ, und für alle, die das nicht so ganz glauben wollen, hat man dann irgendwann beschlossen, die Zigarettenschachteln mit Schockfotos und Panik machenden Aussagen zu versehen - "Raucher sterben früher" - "Rauchen macht impotent" - "Rauchen erhöht das Brustkrebsrisiko" und ähnliche Warnungen sollen abschrecken. Heute stand ich einmal wieder an einer Supermarktkasse und habe die Zigarettenschachteln durchgeschaut und mich gefragt, was ich eigentlich von dieser Aktion halte. Statt zu einer Antwort zu kommen, hat sich eine neue Frage aufgedrängt:

Wo ist dieser Hinweis auf Alkoholflaschen???

Wo sind Sätze wie "Alkohol führt dazu, dass Sie sich vor ihren Liebsten wie ein Vollidiot aufführen" - "Alkohol am Steuer kann Sie zum Mörder machen" - "Alkoholismus bringt Familien auseinander" - "Alkohol kann Sie Ihren Job kosten"?

Wo sind Bilder von Verkehrsunfällen, von Menschen in Ausnüchterungszellen, von Scheidungsanwälten, von zerstörten Lebern, von Kindern, die im Heim landen, von Menschen, die ihre Ehepartner schlagen, von Vollidioten, die auf der Hochzeit ihres besten Freundes blank ziehen, von kotzenden Menschen, am besten noch mit Soundfiles von lallenden Besoffskis, die sich selbst gerade einkotzen.

Sicherlich gibt es noch viele Bilder und Sprüche mehr, die sich auf Alkoholflaschen gut machen würden, aber ich denke, der Punkt ist rübergekommen. Diese seltsame Doppel- und Dreifachmoral unserer Drogenbeauftragten macht mich krank. Aber Hauptsache Kiffer kriminalisieren, denn: Gras ist böse.

Donnerstag, 2. Januar 2020

Zwanzig Zwanzig: Regeln

Klare Ansage hilft weiter.

Ich wünsche allen Lesern ein frohes neues Jahr, hoffentlich von Gesundheit gesegnet. Viele Menschen machen sich Vorsätze für das neue Jahr; ich kann das nicht so gut nachvollziehen. Oder besser gesagt: Ich kann das nicht. Ein Vorsatz, das klingt so nach "Ich nehm mir das mal vor, aber wenn es nicht klappt, ist es auch nicht so schlimm", und dann würde ich haufenweise Gründe finden, warum ich die Vorsätze nicht durchziehe.

Ich mache mir Regeln. Ganz klare Richtlinien, an die ich mich halten muss, ohne Interpretationsspielraum. Ist vielleicht wieder der kleine Autist in mir; Ihr Lehrkräfte wisst ja, wenn Ihr autistische Schüler unterrichtet, dann brauchen sie klare, eindeutige Ansagen. Zu diesen Regeln gehört zum Beispiel, dass ich nichts Süßes mehr einkaufe. Die Haut wird es mir danken. Eine weitere Regel schreibt mir vor, dass ich mit der großen Buba keine Wiederholungen mehr mache. Kein "Können wir den Film nochmal schauen?" oder "Können wir das Spiel nochmal spielen?" - ich habe gemerkt, dass es sich für mich einfach wie verschwendete Zeit anfühlt, und das ist ein unangenehmes Gefühl.

Ich bin ganz froh, dass ich mir diese Regeln endlich verschriftlicht habe, denn so habe ich sie immer vor Augen und kann danach leben. Das, kombiniert mit den Lojong-Losungen, könnte ein etwas besseres Lebensgefühl in Zwanzig Zwanzig geben.

Kommt gut im neuen Jahr an!