Ich dachte erst, nach drei Büchern hätte ich genug über das Asperger-Syndrom gelernt - aber wie es auch generell im Leben gilt: Man hat nie ausgelernt; somit hat ein neues Fachbuch seinen Weg in mein Leben gefunden, diesmal aus Deutschland, eine Sammlung von Essays und Untersuchungen, die sich alle mit einem für mich relevanten Thema beschäftigen. Die Quelle für alle folgenden Zitate ist
Tebartz van Elst, Ludger (Hrsg.): Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter, Berlin 2016.
...Es sollte immer dann differenzialdiagnostisch an ein Asperger-Syndrom gedacht werden, wenn Patienten mit atypischen Präsentationen von affektiven Störungen, psychosenahen Phänomenen, Zwangssyndromen, Essstörungen oder Anpassungsstörungen vorstellig werden. (...) Hinter dem unklaren und seltsamen Fall verbirgt sich nicht selten als entscheidende Erklärung für seltsame Interaktionsmuster und schwer zu verstehende Verhaltensweisen ein bis dahin undiagnostiziertes Asperger-Syndrom. Das Erkennen der richtigen Diagnose in solchen Konstellationen ist deshalb wichtig, weil schon diese Erkenntnis an sich für Patienten wie für Bezugspersonen oft eine wichtige psychotherapeutische Intervention darstellt. Denn indem sie das von den Patienten selbst und ihren Angehörigen schon immer erlebte Anders-Sein schlüssig erklären kann, nimmt sie oft für alle Beteiligten einen großen Anteil des interpersonellen Drucks und kann so eine Entlastung herbeiführen, die Raum für neue Problemlösungsansätze schafft. (...)
Im Erwachsenenalter müssen zwei Konstellationen unterschieden werden:
Bei der ersten wird ein Patient mit bereits diagnostiziertem Autismus vorstellig. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um den erwachsen gewordenen Patienten aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dann bereitet die Diagnose keine Probleme und die Betroffenen selbst sind ebenso wie ihre Angehörigen und Bezugspersonen meist mit den Besonderheiten einer [Autismus-Spektrums-Störung] ASS vertraut.
Anders stellt sich die Situation allerdings dar, wenn Menschen mit Asperger-Syndrom und hochfunktionalen ASS ihr Leben bis ins Erwachsenenalter gemeistert haben, ohne dass es zu Kontakten zum ärztlich-therapeutischen Hilfesystem gekommen ist. Denn die Tatsache, dass die betroffenen Personen trotz überzeugendem und stabilem Vorhandensein der Kerneigenschaften einer ASS ihr Leben bis ins Erwachsenenalter ohne größere psychosoziale Krisen meistern konnten, weist entweder auf einen geringeren Schweregrad der Symptome hin oder aber auf große Kompensationsressourcen wie z.B. eine hohe Intelligenz und gute kognitive Fähigkeiten, die geholfen haben, Umgehungsstrategien zu entwickeln, eine hohe Akzeptanz in Familie, Schule, Umfeld und Beruf und eher fehlende psychiatrische Komorbiditäten wie etwa eine ADHS oder Depressionen. (...)
Menschen mit hochfunktionalem Autismus, die sich erst im Erwachsenenalter beim Arzt vorstellen
- haben oft eine weniger schwer ausgeprägte Symptomatik
- verfügen oft über eine hohe Intelligenz und gute kognitive Kompensationsstrategien
- verfügen oft über ein gut strukturiertes Netzwerk an sozialer Unterstützung (Familie, soziales Umfeld, Schule, Beruf etc.)
- können dennoch wegen der ASS-Basisstörung in Beziehungen, Partnerschaft und Beruf komplett scheitern
(...) In diesem Zusammenhang ist es interessant, auf die Rolle der Schule als möglichen Belastungsfaktor für Menschen mit ASS zu reflektieren. Intuitiv könnte zunächst davon ausgegangen werden, dass die Schule für Menschen mit ASS in erster Linie einen Belastungsfaktor darstellt. Denn man bewegt sich permanent in der sozialen Gruppe der Klassengemeinschaft und ein Großteil der schulischen Beschäftigung findet in Gruppen statt.
Gerade für Menschen mit hochfunktionalem ASS stellt die Schule nach klinischer Erfahrung aber auch einen stabilisierenden Faktor dar. Denn sie ist geprägt durch Routinen und eine ausgesprochene Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit der alltäglichen Abläufe. Dies kommt dem Bedürfnis Betroffener nach erwartungsgemäßen Tagesabläufen sehr entgegen. Es gibt wenige Zeiten im Leben, in denen man schon im Frühjahr weiß, was Mitte November mittwochs vormittags auf der Agenda steht. Gerade dies aber ist während der Schulzeit der Fall. Die schulischen Jahre - und bedingt auch noch die Universität zumindest sofern ein verschultes Studienfach gewählt wird - gehören zu den geregeltsten Zeiten im Leben vieler Menschen. Und gerade dies kommt dem Stärke-Schwäche-Profil von Menschen mit ASS entgegen.
Zudem wird in den Schulen viel wert auf rein kognitive Leistungen gelegt. Trotz steigender Anforderungen im Sinne der sozialen Kognition (vermehrte Gruppenarbeit etc.) stehen in den meisten Schulen nach wie vor Wissenserwerb sowie mathematisch-technische Fertigkeiten im Zentrum des Erziehungsziels. Und gerade in diesem Bereichen tun sich viele hochfunktionale Autisten sehr leicht, sodass sie über gute Schulnoten ihr Selbstwertgefühl weiter stabilisieren können. Vor allem dann, wenn das Klima in den Klassengemeinschaften geprägt ist von Akzeptanz und Toleranz und individuelle Eigenheiten und Schrulligkeiten hingenommen werden, kann die Schulzeit für hochfunktionale Autisten eine gute Zeit sein. Allenfalls die großen Pausen, in denen man in der Peer-Group herumhängt und "quatscht" wird dann oft als Belastung erlebt, für die sich aber rasch Umgehungsstrategien finden (z.B. in der Bibliothek Bücher lesen). (...)
Plakativ ausgedrückt könnte die Atypizität als ein zentrales Präsentationskriterium des Asperger-Syndroms im Erwachsenenalter angeführt werden. Hochfunktional autistische Menschen werden meist seit Kindheit von anderen Menschen als anders erlebt und erleben sich selber auch meist als "anders als die anderen". Diese Andersartigkeit ist vor allem in den Schwierigkeiten der sozialen Wahrnehmung und sozialen Kompetenz sowie dem extremen Bedürfnis nach erwartungsgemäß geregelten Abläufen und Routinen des Alltagslebens begründet. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten in kommunikativen Situationen sowie die extreme Unflexibilität der betroffenen Menschen ist für die anderen (oder die Neurotypischen, wie die nicht-betroffenen Menschen von manchen Betroffenen genannt werden) meist schwer nachvollziehbar, einfühlbar und damit kaum verstehbar. Dies kann ein Grund für zahlreiche Konflikte am Arbeitsplatz oder in privaten Beziehungen sein, die nicht selten ihren Kern in fundamentalen Missverständnissen und Deutungsfehlern des Verhaltens betroffener Menschen mit einem Asperger-Syndroms haben.
Dementsprechend präsentieren sich erwachsene Menschen mit bis dato nicht diagnostiziertem Asperger-Syndrom häufig in Zusammenhang mit schweren psychosozialen Konflikten beim Erwachsenenpsychiater. Häufig werden dann zunächst die Diagnosen einer Belastungsreaktion, einer Anpassungsstörung, eines Burn-out-Syndroms, einer atypischen Depression oder einer nicht selten kombinierten Persönlichkeitsstörung gestellt. Begleitende psychische Auffälligkeiten wie etwa ein sonderbares Essverhalten, seltsame zwangsähnliche Phänomene oder Besonderheiten der Wahrnehmung führen oft zu Diagnosen wie atypischen Zwangsstörungen, atypischen Psychosen oder atypischen Essstörungen. In der Beurteilung durch den Arzt ist es das Sonderbare, Komplexe, Unklare und schwer Verstehbare, also insgesamt gerade das Atypische, was typisch ist für einen erwachsenen Menschen, der sich erstmalig mit einem Asperger-Syndrom vorstellt. (...)
Die hohe Intelligenz und die guten Kompensationsstrategien haben es den Betroffenen meist ein Leben lang ermöglicht, teilweise sehr kreative und originelle Umgehungsstrategien für ihre Schwächen in der sozialen Kognition zu finden und umzusetzen. Dementsprechend sind gerade Erwachsene, die sich erstmalig mit einem Asperger-Syndrom präsentieren, beruflich aufgrund ihrer hohen Intelligenz gelegentlich recht erfolgreich. Letztendlich sind es in dieser für die Erwachsenenpsychiatrie klassischen Konstellation meist die aus den Eigenheiten der Betroffenen resultierenden psychosozialen Konflikte, welche über eine Belastungsreaktion, ein depressives oder ein sozial-phobisches Syndrom zur Vorstellung beim Arzt führen. (...)
Erwachsene mit Asperger-Syndrom fallen meist sowohl durch ungewöhnliche zwischenmenschliche Verhaltensmuster als auch durch ein oft seltsames Sprachverhalten auf. Es fällt ihnen oft extrem schwer, zwanglose Beziehungen aufzubauen und alltägliche Small-Talk-Situationen zu beherrschen. Auch die Sprache kann seltsam monoton, wenig moduliert und eintönig klingen. Häufig ist auch das Blickverhalten auffällig und durch ein vermeiden des Blickkontakts oder einen starren, wenig modulierten Blick gekennzeichnet. (...)
Betroffenen Menschen fällt es oft ausgesprochen schwer, soziale Signale anderer Menschen zu entziffern. So kann die Bedeutung des emotionalen Gehalts von Gesichtsausdrücken oft kaum entschlüsselt werden. Das Betrachten von wütenden, fröhlichen, traurigen oder angeekelten Gesichtsausdrücken führt also nicht wie bei den meisten Menschen zu einem spontanen und unreflektierten Mitschwingen, sondern wird synthetisch bzw. spontan gar nicht wahrgenommen.
Ähnliches gilt für die Wahrnehmung der Sprachmelodie bzw. der Prosodie. Stimmen werden also spontan nicht als gelangweilt, ängstlich, drohend oder ironisch wahrgenommen, sondern das Gehörte konzentriert sich auf das wörtlich Gesagte. Dementsprechend stellen Situationen, in denen die komplexe und spontane Wahrnehmung von emotionalen Inhalten eine große Rolle spielt (Small Talk auf Partys, Ironie, Zweideutigkeiten, Witze etc.), Menschen mit Asperger-Syndrom oft vor extreme Schwierigkeiten. Immer wieder kommt es hier zu Missverständnissen, mehrdeutige oder ironische Aussagen werden wörtlich genommen oder verwirren, sodass sich die Patienten aus der Situation zurückziehen. Zwar können viele Betroffene aufgrund ihrer hohen Intelligenz lernen, analytisch die Bedeutung von traurigen oder wütenden Gesichtern zu entziffern, jedoch stellt dies erhebliche Anforderungen an die Aufmerksamkeit und Konzentration in den entsprechenden Situationen, da die analytische Dekodierung emotionaler Informationsweitergabe sehr viel Zeit kostet und die Betroffenen dadurch oft deutlich verlangsamt sind. (...)
Die vielleicht markanteste Eigenschaft hochfunktionaler Autisten ist das extreme Bedürfnis nach erwartungsgemäßen Tagesabläufen und Verhaltensroutinen. Jeder Tag beginnt und endet mit bestimmten ritualen, das Aufstehen am Morgen, Waschen und Ankleiden erfolgt nach bestimmten und genau festgelegten Reihenfolgen und auch der Tagesablauf ist streng definierten Abläufen unterworfen. Auch die Arbeitsabläufe sind oft stereotyp auf die immer gleiche Art und Weise organisiert und ebenso endet der Tag häufig nach einem streng reglementierten Ritual. Werden diese Stereotypien und Rituale von Außen gestört, führt dies bei den Betroffenen zu extremen Überforderungsgefühlen, Anspannung und Frustrationen, die sich nicht selten in Form von Wutausbrüchen Luft macht. Gerade diese Rituale und die damit verbundenen Wutausbrüche sind oft Gegenstand intensiver zwischenmenschlicher Konflikte sowohl am Arbeitsplatz als auch im privaten Rahmen, da die nicht-betroffenen Menschen nicht nachvollziehen können, wieso ihre Partner oder Kollegen so unflexibel sind und sich anscheinend wegen irgendwelcher Kleinigkeiten so stark aufregen können. Auch wenn diese Symptomatik gelegentlich an Zwangsstörungen erinnern kann, so fehlt doch die typische Angst-Zwangs-Dynamik der primären Zwangsstörung, d.h. mit den zwangsähnlichen Routinen und Stereotypien werden nicht wie bei klassischen Zwangshandlungen irrationale Ängste abgewehrt und sie werden dementsprechend auch nicht als Ich-dyston erlebt wie bei der klassischen Zwangsstörung. Stereotypien und Routinen finden sich bei Betroffenen nicht selten auch im Zusammenhang mit dem Essverhalten und was das eigene Gewichtsideal anbelangt, weshalb gelegentlich auch atypische Essstörungen bei Menschen mit Asperger-Syndrom diagnostiziert werden. (...)
Die Aufmerksamkeitssteuerung bei Menschen mit Asperger-Syndrom kann an eine ADHS erinnern. Einer ausgeprägten Fähigkeit zur Hyperfokussierung auf bestimmte interessierende Themen kann eine nicht weniger starke Unaufmerksamkeit bei nicht-interessierenden Themenbereichen entgegenstehen. Möglicherweise verbunden mit der Möglichkeit zur Hyperfokussierung und der Tendenz zu stereotypischen Verhaltensweisen entwickeln manche Menschen mit Asperger-Syndrom in Teilbereichen ausgeprägte Sonderbegabungen. Diese bewegen sich meist im perzeptiven, gestalterischen oder mathematischen Bereich. Aber auch im sprachlichen Bereich können Autisten außergewöhnliche Leistungen vollbringen (Erlernen vieler Sprachen, schriftstellerische und dichterische Leistungen), wobei hier selten der kommunikativ-pragmatische Aspekt von Sprache subjektiv im Zentrum der Faszination steht sondern eher der systematische (Faszination einer Sprachstruktur und Grammatik) oder der konstruktive Aspekt (Kreierung von Sonder- und Eigensprachen, Ästhetik, Dichtung etc.). Auch das Sammeln großer Mengen von enzyklopädischen Wissensinhalten fasziniert viele Menschen mit Asperger-Eigenschaften sehr, ohne dass dabei die pragmatische und anwendungsorientierte Seite dieses Wissenserwerbs subjektiv im Zentrum steht. (...)
Ein Eigenschaftsbereich, der bei vielen Menschen mit Asperger-Syndrom auffällig ist, aber noch nicht zu den offiziellen Definitionskriterien zählt (außer beim DSM-5), ist die perzeptive Wahrnehmung. Hier berichten viele Betroffene von einer extremen Empfindlichkeit im Hinblick auf eine akustische, visuelle, taktile oder olfaktorische Reizüberflutung. Quietschende oder schrille Geräusche, starke Gerüche oder grelle Farben können gelegentlich als extrem unangenehm empfunden werden. Dies gilt auch für Berührungen durch andere Menschen. Dementsprechend meiden Betroffene Situationen, in denen sie mit solchen Sinneseindrücken konfrontiert werden (U-Bahn, Menschenmengen, Einkaufszentren etc.) und führen oft ein eher zurückgezogenes Leben. (...)
Zusammenfassung
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich bei dem Asperger-Syndrom und den hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen um eine Entwicklungsstörung mit stabiler Symptomatik handelt, die sich gerade bei geringerer Ausprägung sowie hoher Intelligenz und guter Kompensationsbedingungen nicht selten erst im Erwachsenenalter erstmanifestiert. Das klinische Bild ist insbesondere durch Defizite der sozialen Wahrnehmung und Kompetenz, Stereotypien und Verhaltensroutinen, Sonderbegabungen und Sonderinteressen definiert. Ferner finden sich häufig Besonderheiten der perzeptiven Wahrnehmung, ein schlechter Augenkontakt und Probleme im Bereich der Feinmotorik und Koordination. Gerade im Erwachsenenalter resultieren aus den Kerndefiziten oft erhebliche zwischenmenschliche und interaktive Probleme, die dann Anlass der Vorstellung beim Arzt oder Psychotherapeuten sind. In diesem Zusammenhang ist oft schon allein die korrekte Diagnosestellung sehr hilfreich, weil sie hilft, Fehlinterpretationen von Verhaltensauffälligkeiten zu vermeiden, und so die Selbst- und Fremdakzeptanz fördert. Bei eigenartigen und sonderbar anmutenden Menschen mit komplexen psychosozialen Problemen und atypischen affektiven Symptomen, Zwangssymptomen und Anspannungszuständen sollte differenzialdiagnostisch an eine hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störung gedacht werden.
(S.27-35)