"Nur weil er Autist ist, sollte er keine Extrawurst bekommen, das wäre unfair gegenüber seinen Mitschülern. Er muss sich eben daran gewöhnen und anpassen."
enable v [T] to make it possible for someone to do something, or for something to happen: enable sb/sth to do sth - enabler n [C]
Konfirmation. Wir treten langsam in die Kirche ein, haben alle unseren Unterricht hinter uns gebracht, nun wird es Zeit für die Feier. Aus der Orgel ertönt Johann Sebastian Bachs Air - das weiß kaum jemand, aber ich hatte damals bei der Organistin Keyboardunterricht und hatte mit ihr darüber gesprochen, dass ich kirchliche Gottesdienste unter anderem wegen der "typisch kirchlichen" Musik nicht mag, dass es für mich wirklich schwer auszuhalten ist, das durchzusitzen. Dass ich eigentlich nur noch weg möchte. Sie fragt mich, was ich denn lieber hören würde - wir hatten gerade Air geübt und ich sagte ihr, dass ich das viel schöner fände. Und dann schwoben die Klänge schließlich durch die Kirche, und ich habe diesen Gottesdienst ausgehalten.
Ich sitze im Mathematikunterricht der neunten Klasse. Während Herr Kries uns an der Tafel das aktuelle Unterrichtsthema erklärt, bin ich in einem Rätselheft zugange, das ich auf dem Schoß habe, halb unter dem Tisch, damit es nicht allzu sehr auffällt, dass ich nebenher etwas Anderes mache. Kein Lehrer spricht mich auf diesen Umstand an - aber ich wette, sie wussten es alle und haben in den Konferenzen darüber gesprochen.
Kurzgeschichtensammlung im Fach Deutsch - jeder Schüler sollte eine maximal drei Seiten lange Kurzgeschichte schreiben, die wir dann sammeln und in einem Ordner für jeden Schüler vervielfältigen wollten. Ich wollte aber unbedingt eine ganz bestimmte Geschichte schreiben, die dann letztlich mit zweiundzwanzig Seiten Umfang mit einer Kurzgeschichte nicht mehr viel zu tun hatte. Mein Deutschlehrer hat mich gewähren lassen.
Drei Jahre später sitzen viele Menschen in unserem Wohnzimmer, Schulfreunde, deren Eltern, Nachbarn. Ich halte eine kurze, vorbereitete Rede und wir schauen uns zusammen den ersten Krimi an, den wir in unserer Freizeit gedreht haben - und ein Jahr später dann den zweiten, mit noch mehr Aufwand gedrehten Film. Mir war das damals nicht bewusst, welch' ein Aufwand das alles gewesen ist, nicht nur für meine Eltern, sondern auch für alle Freunde, die mitgearbeitet haben. Ich habe Regisseur gespielt und empfand das alles als ganz normal.
Projektunterricht Filmanalyse und Agatha Christie im Englischunterricht lesen - das wäre ohne die Unterstützung meiner Englisch- und meiner Religionslehrerin nicht möglich gewesen; auch das waren eher ungewöhnliche Ideen, mit denen ich an sie herangegangen bin. Agatha Christie allein schon deshalb, weil ich den Roman, den ich für die Unterrichtslektüre vorgeschlagen hatte, schon vorher komplett kannte (The Murder of Roger Ackroyd).
Einige Jahre später ziehen die Saturnalien von der Leibnizstraße in die großen Hörsaalgebäude der Christian-Albrechts-Universität um. Auch das wissen nicht so viele Menschen: Damals war es eigentlich tabu, mit einer kleinen, eher privaten Feier (wir waren damals keine registrierte Hochschulgruppe) in einen der "offiziellen" Hörsäle umzuziehen. Ich hatte allerdings ein paar Jahre Kontakt mit Christa K, die damals mit einer ganz tollen Reibeisenstimme in der Raumverwaltung des Präsidiums saß. Und gerade weil wir uns so gut verstanden hatten, hat sie uns das möglich gemacht: Ein ganzes Hörsaalgebäude für zwei Tage unter unsere Kontrolle zu bringen, mit allen nötigen Schlüsseln und einer Hauptpforte, die das wohlwollend hat geschehen lassen.
Nochmals einige Jahre später schreibe ich bei Radi im Hauptstudium anstelle einer wissenschaftlichen Hausarbeit einen Essay, fast komplett ohne Fußnoten, absolut nicht objektiv. Ich hatte ihn gefragt, ob so etwas möglich ist - er hat mich aufgeklärt, dass man normalerweise so ein Papier als Student postwendend zur Überarbeitung zurückbekommt - und hat mich machen lassen und das Stück mit einer guten Note versehen.
Im Referendariat gab es einen Flashmob in der Schule, der durch eine bestimmte Durchsage auf dem Schulsender begonnen und beendet wurde. Auch das weiß kaum jemand, aber ausgerechnet meine damalige Schulleiterin hat mir das letztlich ermöglicht, obwohl sie zuvor sehr klar geäußert hatte, dass so etwas nicht geht, mal ganz davon abgesehen, dass diese Idee kaum einen pädagogischen Nutzen hatte.
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Ich hatte gerade erst über schräge Ideen im Unterricht geschrieben, und diese Ideen sind mir mein Leben lang immer wieder gekommen. Ich habe nie mitbekommen, wie sich andere Menschen unter sich über diese Ideen geäußert haben - erst im Nachhinein habe ich irgendwann erfahren, dass es "extravagante" Ideen waren, und ich habe mich dann jahrelang gefragt, warum man mir das nicht irgendwie signalisiert hat - und warum man mich einfach hat machen lassen, egal wie unsinnig, aufwändig und nervig diese Idee sein mochte.
Flashforward in meine Lehrerzeit, Sprechprüfungen in Englisch. Wir haben einen klassischen Aufgabenpool dafür und man findet auch Standardaufgaben im Netz und auf den Seiten des Ministeriums. Ich habe - als Prüfer - Angst vor einer ganz bestimmten Prüfung: Ich habe Angst, dass meine Autistin gerade mit den Dialogaufgaben, die Konversationsfähigkeiten erfordern, nicht umgehen kann, und dass sie nicht weiß, wie sie sich zu einem für sie völlig fremden Thema im Monolog äußern soll. Die Angst ist nicht unbegründet; die Probeprüfungen haben da ein extrem unschönes Bild gezeichnet.
Also bastele ich eine Monologaufgabe zu ihrem Lieblingsthema zurecht, erkläre ihr, dass ich ihr Gesprächspartner im Dialog werde und was ich da von ihr erwarte. Die Prüfung läuft, sie macht das, was sie machen soll.
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Solche Menschen, die etwas für andere Menschen möglich machen, nennt man im Englischen enabler. Ich bin der Überzeugung, dass gerade Menschen mit Förderbedarfen auf solche Enabler angewiesen sind, die ihnen Wege eröffnen, die ihnen im Gegensatz zu neurotypischen Menschen nicht zugänglich sind.
Ich denke nicht, dass das etwas mit Unfairness zu tun hat, und ich sage dann auch sehr deutlich, dass ich eben nicht denke, dass in so einem Fall alle Schüler gleichbehandelt werden müssen. Der einleitende Satz oben stammt aus einer pädagogischen Konferenz vor ein paar Jahren, und ich habe ihn bis heute noch an zwei weiteren Schulen gehört.
Ich kann verstehen, dass es wie eine Extrawurst erscheint, wenn man einem Autisten Dinge möglich macht, die ansonsten eher ungewöhnlich sind. Wenn meine Mitschüler damals mit Rätselheften im Unterricht gearbeitet hätten, wäre ihnen das wohl eher negativ angekreidet worden. Jetzt, da ich selbst in Zeugniskonferenzen sitze, weiß ich, wie über solche "Fälle" gesprochen wird.
Wenn ich in meinem Leben nicht meine Enabler gehabt hätte - die Lehrer, die an mich geglaubt haben und mir Dinge möglich gemacht haben, Projekte, Sonderwünsche, dann wäre ich deutlich mehr verkümmert, hätte es in der Oberstufe nicht mehr geschafft, aus meinem Loch herauszukommen und daran zu glauben, dass ich irgendwas kann.
Einem Autisten etwas zu ermöglichen - ihm eine Extrawurst zu braten - ist nicht unfair - ganz im Gegenteil: Die Unfairness besteht darin, dass ihm bestimmte Kompetenzen des Gehirns aufgrund einer Fehlentwicklung nicht zugänglich sind; Dinge, die für andere Menschen völlig selbstverständlich sind. Deswegen spricht man ja auch von einer Behinderung, und deswegen mache ich (endlich) seit zwei Jahren meinen Mund auf, wenn ich den Satz mit der Extrawurst in Konferenzen höre und versuche klarzumachen, dass es sich dabei nicht um eine Extrawurst handelt, sondern einfach um einen Nachteilsausgleich, der dem Autisten eine Chancengleichheit ermöglichen soll.
Leider sind nicht alle Kollegen dieser Denkweise zugänglich, besonders, wenn sie von der Behinderung eines Schülers kaum etwas merken (wieder mal dieses "Oh, du bist behindert? Zeig' doch mal!" oder "Oh, die ist behindert? Das glaube ich nicht, sieht man ihr gar nicht an."). Das ist schade, aber wenn es nötig sein sollte, werde ich auf solchen Konferenzen auch weiterhin meinen Mund aufmachen - so, wie es vor über fünfundzwanzig Jahren mein erster Klassenlehrer am Gymnasium gemacht hat. Ohne ihn und all' meine Enablers (und ganz besonders meine Eltern) wäre ich heute ganz woanders, und vermutlich nicht gerade besser dran.
nota bene: Im englischen Sprachgebrauch wird der Begriff "enabler" oft auch für jemanden benutzt, der einem anderen Menschen ein Verbrechen möglich gemacht hat, indem man ihm zum Beispiel dafür nötige finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt hat. Ich wollte gerade Charles Manson als ein Beispiel dafür nennen, aber das passt nicht, der war eher Manipulator.
post scriptum: Ich bin total vernarrt in diese Horrorkomödien, die in alten Häusern spielen, mit warmen Bildern, klassischer Musik und sehr schwarzem Humor. Heute hat ein neuer Film seinen Weg in meinen Kopf gefunden - "The Mortuary Collection" (2019), eine herrlich sinistre Anthologie; ich hoffe, dass sie irgendwann auf Bluray veröffentlicht wird.