Mittwoch, 21. April 2021

Vom Alltag erschlagen

Damals war ich eher so...

"Guten Abend. Mein Name ist Dr Hilarius. Ich stehe hier vor ihnen, aber ihre Kinder kennen mich bereits im Stehen, Sitzen und Liegen."

Diesen Moment, diesen Satz werde ich nicht vergessen: Mein erster Elternabend, das erste Mal, dass ich mich einer Riege kritischer Eltern vorstellen musste. Durfte. Ich hatte ein bisschen Angst davor, weil ich nicht wusste, wie mein Unterricht bei den Kiddies bis dahin angekommen war. Also hatte ich mir vorgenommen, schräg in meine Vorstellung einzusteigen - so schräg, wie ich auch durch mein Studium gegangen bin.

Der Ausdruck "...und Liegen" spielt auf eine Gedankenreise an, die ich mit der Klasse damals gemacht hatte. Das war ungewöhnlich für die Kinder, die als vorbereitende Hausaufgabe hatten, zur nächsten Stunde ein Kopfkissen mitzubringen. Über Gedankenreisen in der Schule hatte ich im Blog bereits geschrieben; das war nur eine von bunt gemischten sinnvollen und sinnlosen Unterrichtsideen, die ich damals als Nulltsemester einfach mal ausprobieren wollte, und dafür hatte ich sogar den Segen meiner Schulleiterin.

Ich habe damals gern unkonventionellere Sachen gemacht (gemessen am Standard der Regelschulen) - vor der Klassenarbeit Meditation mit Hang-Musik, Flashmob in der Pausenhalle, Singen und Tanzen im Unterricht, Englischstunde im Schwarzlicht. Ich fand all' diese Ideen damals toll - aber wohin sind diese Ideen heute verschwunden?

Sie wurden erschlagen vom Alltag. Erschlagen von Lehrplänen, von der Notwendigkeit. Erschlagen vom Referendariat, von Fachanforderungen und Mainstream-Schulen (Ihr wisst, dass das keine Wertung sein soll), vom Stundenkontingent - ich mache heute fast nur noch "ganz normalen" Unterricht. Ich finde das sehr schade, weil ich die Experimentierfreudigkeit vermisse. Und den Spaß, den Schüler mit solchen Aktionen haben können.

Ich hoffe, dass ich an der Toni bleiben kann, und ich hoffe, dass diese Ideen und Experimentierfreude dann zurückkehren, und ich hoffe, dass ich dann wieder unkonventionelle Sachen mit meinen Schülern und Schülerinnen machen möchte. Ich möchte nicht, dass Schule Alltag ist, sondern immer auch ein bisschen Erlebnis.

Habt Ihr auch den Eindruck, dass Ihr im Laufe der Unterrichtsjahre "weniger wild" geworden seid?

post scriptum: Ich freue mich immer wieder, wenn ich einen meiner Lieblingsfilme mit der großen Buba schauen kann. Das gibt mir eine neue Sichtweise, und oftmals weist sie mich auf Dinge hin, die mir an dem Film bis dahin noch gar aufgefallen sind. So haben wir vor Kurzem den psychologischen Horrorfilm "It Follows" (2014) gesehen; ich dachte, ich hätte den Film komplett durchanalysiert, doch brauchte es erst eine große Buba, die anmerkt, dass der Film sich zeitlich überhaupt nicht einordnen lässt: Ein Mädchen liest auf einem E-Reader, den es so noch gar nicht gibt. Ein wichtiges Auto scheint direkt aus den Fünfzigern zu stammen. Kleidung erinnert an die Neunziger. Das alles trägt zur surrealen Atmosphäre des Films bei. Danke, fette Schnecke! ;-)

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