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Montag, 25. März 2024

Besuch bei'm Psychiater und das Stigma


Freitag

Ich nehme so gut wie nie Filmempfehlungen von anderen Menschen an - und davon bekomme ich als Lehrer reichlich von meinen SchülerInnen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich gute Filme liebe. Die meisten Jugendlichen haben in dem Alter noch kein Gespür dafür, was ein "guter" Film ist, weil ihnen die Vergleichswerte fehlen. Also empfehlen sie mir, was sie selbst toll finden. Und das höre ich mir dann höflich an, setze es aber nicht um.

Anders ist es, wenn die große Buba mir einen Film empfiehlt, denn ich glaube, sie gibt sich sehr viel Mühe, mich als Autisten wirklich zu verstehen, und auch zu verstehen, was mir echte Freude bereitet - dafür liebe ich sie, denn das ist ein hartes Stück Arbeit, was auch immer wieder Enttäuschungen mit sich bringt. Und selbst bei der großen Buba brauche ich manchmal sehr lange, bis ich einem Filmtipp auch wirklich nachgehe.

Dass jemand mir einen Film vorschlägt und ich direkt bei'm Nachhausekommen das Teil auf Netflix suche, finde und mir direkt anschaue, sowas gab es bis heute nie. Aber... vielleicht sollte ich am Anfang anfangen, am Beginn eines sehr erleuchtenden, aufregenden Tages, der in mir eine tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit hervorgerufen hat.

Definitiv nicht Zufriedenheit mit der Deutschen Bahn. Denn ich hatte heute um halb zehn morgens meinen Termin bei'm Psychiater, und ich bin auf den ÖPNV angewiesen, und das Deutschlandticket als Chipkarte works like a charm. Also gehe ich heute um viertel nach acht zu Gleis fünf, auf dem der Regionalexpress nach Pinneberg bereit steht.

Ist ja seltsam. Niemand sitzt drin, oder... doch, da hinten sitzt auch jemand. Aber warum stehen noch so viele Menschen auf dem Bahnsteig? Ich könnte natürlich einfach jemanden fragen, aber ich bin Autist und vermeide es, fremde Menschen anzusprechen. Also gehe ich noch einmal zur Tür, schaue draußen auf die Anzeigetafel - aber alles sollte eigenlich stimmen, und so suche ich mir einen Sitzplatz im Untergeschoss in Fahrtrichtung, links am Fenster natürlich. Ich hole meine Logikrätsel heraus und vertreibe mir die Zeit, bis ich sehe, dass die Menschen sich draußen in Bewegung setzen. Sie alle gehen zurück zum Eingang des Hauptbahnhofs, okay, what the ...? Ich bekomme Angst. Werde ich hier jetzt gleich auf ein Abstellgleis gefahren und komme nicht mehr aus dem Zug? Panisch renne ich zur Tür, zwar mit Rucksack, aber meinen schönen Regenschirm von Samsonite hat jetzt die DB. Und ja, ich weiß, es gibt da ein Fundbüro, aber das sind fremde Menschen, also kaufe ich mir lieber einen neuen. Von der gleichen Art natürlich.

Immerhin lande ich jetzt auf dem richtigen Bahnsteig, wo angezeigt wird, dass sich die Abfahrt um eine Viertelstunde verzögert. So what, ich habe einen kleinen Zeitpuffer, bevor ich im Krankenhaus sein muss. Und dann fängt auch endlich alles an, richtig zu funktionieren. Ich esse einen Schokoriegel - Zucker als Entzündungsförderer eigentlich nicht so gut, aber ich brauche etwas Energie für den Tag, die große Buba sagt Edhergighie.

Ich habe mich sehr auf diesen Termin gefreut, denn der letzte ist drei Monate her. Es hat einfach terminlich nicht besser gepasst; und während ich einmal bei einem monatlichen Besuch schon dachte, dass es eigentlich kaum Neues zu berichten gibt, waren drei Monate dann doch zuviel, vor allem, weil sich in meiner beruflichen, gesundheitlichen und familiären Situation viel getan hat in dieser Zeit, und nichts davon wirklich zum Positiven. Vielleicht sind anderthalb bis zwei Monate derzeit eine gute Frequenz für uns. Ich habe das aus verschiedenen Psychologieserien gelernt, dass man das je nach Bedarf umstellen kann und sollte, immer im Sinne des Patienten, und ich muss einfach mal konstatieren: Ohne den Rückhalt meines Psychiaters wäre ich in dieser Welt, an diesem Punkt angekommen, vollkommen aufgeschmissen. Meine lieben Eltern würden so gern helfen, aber ich brauche fachliche und rechtliche Hilfe, das heißt, es müssen Fachleute ran.

Ich möchte wirklich jedem, der ein starkes Gefühl davon hat, er könne auf dem Autismusspektrum sein, empfehlen, einen Platz bei einem guten, spezialisierten Psychiater zu bekommen. Auch wenn es eigentlich gerade nicht nötig scheint - irgendwann werden Probleme kommen, aus unterschiedlichsten Gründen (zum Beispiel, weil die Eltern sterben), und dann ist man hilflos und allein gelassen. Ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich mir im Kopf gerade ein paar wenige KandidatInnen vorstellen kann, denen das vielleicht helfen könnte. 

Bringt den Mut auf, sucht Euch einen Diagnoseplatz! Möglichst jetzt, denn die Vorlaufzeit ist unglaublich lang. Bei mir hat es - wenn mich die Erinnerung nicht trügt - anderthalb Jahre gedauert bis zum ersten Termin. Die PsychiaterInnen sind einfach komplett überlastet, und dabei können sie im Leben eines autistischen Menschen so viel Gutes bewirken, und das auch schon komplett ohne Medikamente, indem sie einen geschützten Raum zum Reden bieten. 

Bitte geht diesen Schritt. Auch wenn der Gedanke nagt "Nö, betrifft mich ja nicht unbedingt, brauche ich gerade eigentlich nicht wirklich" - die Fachliteratur bestätigt: Irgendwann im Leben werden wir AutistInnen Hilfe brauchen, und wenn wir noch so sehr high-functioning (a.k.a. Asperger) sind.

Aber zurück zum heutigen Besuch, und ich merke gerade, ich muss den Artikel morgen weiterschreiben, denn es war ein sehr langer Tag und ich habe das alles immer noch nicht verarbeitet. Keine Sorge, das mit den Filmen kommt noch, ich schreibe morgen weiter!

(...)

Let's go. Natürlich werde ich hier nicht vom konkreten Inhalt des Gesprächs schreiben, sondern etwas abstrahieren und mich vor allem darauf konzentrieren, was das bei mir ausgelöst hat. Könnte auch für meinen Psychiater interessant sein, vielleicht liest er das jetzt gerade. Falls ja, hier nochmal: DANKE für Freitag!

Natürlich hat es gut getan, nochmal die Rückschläge aus dem Januar und Februar Revue passieren zu lassen, die Ablehnung des Schwerbehindertenstatus und das Verbot, eine Vertretung an einer Schule zu übernehmen (ich habe bis heute keinerlei Entschuldigung aus dem Ministerium bekommen). Es hat mir nämlich wieder etwas Mut gemacht zu wissen, dass ich eigentlich nichts falsch gemacht habe, sondern dass das Problem im System liegt.

Ebenso hat es sich gut angefühlt, über Themen zu sprechen, zu denen ich einen Bezug habe, und so sind wir zwischendurch auch wieder bei'm Thema Filme angekommen, genauer Filme über Autismus. Es gibt so viele Filme, die Autismus darstellen wollen - vielleicht nicht als Thema, aber in einem ihrer Charaktere - und sich dabei auf Klischees berufen, die mit der Breite des Spektrums überhaupt nichts zu tun haben, oder sie stellen Autismus als etwas Drolliges dar, über das man lachen kann. Davon gibt es eine ganze Menge. Seltener sind authentische Darstellungen von Autismus-Spektrums-Störungen. 

Eine dieser authentischen Behandlungen findet man im Film The Reason I Jump, der auf dem gleichnamigen Buch des nicht-sprechenden autistischen Jugendlichen Naoki Higashida basiert. Im Film werden die Leben verschiedener Familien rund um die Welt beleuchtet, in den USA, Afrika, Indien, Australien, um zu zeigen, dass es die mutistischen AutistInnen überall gibt, und dass sie überall dieselbe Zurückweisung von neurotypischen Menschen erfahren. Es kommen auch ihre Eltern zu Wort, die sehr eindringlich erzählen, wie sie unter den Anfeindungen ihrer Kinder zu leiden hatten und immer noch haben. Der Film bringt durch seine subjektive Kamera das Erleben eines Menschen auf dem Spektrum sehr eindrucksvoll rüber und ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Akzeptanz und Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Mein Psychiater hat sich den Titel notiert, und mir im Gegenzug ebenfalls einen Film genannt, der das Thema Autismus zwar nicht in den Mittelpunkt stellt, dessen Hauptfigur aber eindeutig als Autist codiert ist. Der norwegische Film Elling, damals oskarnominiert als bester ausländischer Film, zeigt die Situation zweier neurodiverser Freunde, die durch das norwegische Gesundheitssystem irgendwie in die Gesellschaft integriert werden (bei uns würden sie eher allein gelassen, um selbst klarzukommen), nachdem Ellings Mutter verstorben ist und er nicht mehr auf ihre Hilfe und Führung bauen kann.

Diese Situation ist leider nur allzu realistisch: Was ist, wenn Deine Eltern sich um Dich ein Leben lang gekümmert haben und Du plötzlich als autistischer Mensch auf Dich allein gestellt bist? Meine Eltern werden nicht ewig leben und ich habe einen Bruder, der noch weiter zurück liegt auf dem Weg, auf sich allein gestellt zu sein, als ich. Irgendwie müssen wir es schaffen, dass er nicht irgendwann plötzlich wie Elling vor dem Nichts steht und komplett verkümmert, wenn es keine Unterstützung mehr von Mama und Papa gibt.

So habe ich mir also Elling notiert. Wie schon oben erwähnt: Normalerweise nehme ich keine Filmtips von anderen Menschen an. Aber zum einen ist mein Psychiater auf AutistInnen spezialisiert und kennt sich wirklich gut aus, und zum anderen trifft der Film leider gerade einen Nerv. So bin ich also nach unserem Termin nach Hause gefahren und habe den Film direkt auf Netflix gefunden und angeschaut, und war ziemlich begeistert.

Da wird mir bewusst, dass ich in der Linkliste links noch keinen Reiter mit der Designation Autismus im Film habe, das sollte ich bald mal ändern, um dort die Namen von Filmen einzustellen, in denen diverse Formen der Autismus-Spektrums-Störung authentisch und nicht klischeehaft dargestellt werden. Das könnte zur Aufklärung beitragen, und vielleicht glauben es mir die Leute ja irgendwann, dass ich geistig behindert bin, ohne mich erstmal zu gaslighten.

Das war ein toller Besuch bei'm Psychiater, in jeder Hinsicht, und drei Monate ohne waren definitiv zu viel. Ich wünsche jedem Menschen auf dem Spektrum so einen Ansprechpartner. Und zum Schluss noch ein Aspekt aus schulischer Seite (betrifft aber auch die Gesellschaft allgemein):

Ich finde es sehr bedauerlich, dass die Psychiatrie bei uns so stigmatisiert ist. Viele trauen sich nicht zuzugeben, dass sie regelmäßig zum Psychiater gehen - und wenn sie es tun, dann kommt die Häme aus dem Hinterhalt. An einer Schule meinte eine Kollegin zu mir: "Und das da vorne ist Frau XY, aber mit der solltest du lieber nicht reden, die nimmt Antidepressiva, das ist eine ganz arme Person." - und ja, das war der exakte Wortlaut; auch wenn es schon über zehn Jahre her ist, habe ich das nie vergessen. Es ist beschämend, wie Lehrkräfte hinter dem Rücken ihrer KollegInnen über ihre Mitmenschen reden. Kaum eine Schule ist frei davon; ich war bisher an sieben, und nur an der Nordseeschule in St.Peter-Ording war es anders - kein Wunder, dass sie zur Perspektivschule erklärt wurde, denn da ziehen alle Lehrkräfte zusammen an einem Strang, um SchülerInnen in schwierigsten Situationen eine Lebensperspektive aufzuzeigen. Ein völlig anderer spirit als an den meisten Gymnasien. 

Und ja, die "ganz arme Person" war an einem Gymnasium - aber hier kein Schulart-Bashing, denn es geht um den Segen, den ein geistig behinderter oder psychisch kranker Mensch erfahren kann, wenn er von der Psychiatrie betreut wird. In den Köpfen so vieler Menschen herrscht der Gedanke, dass es etwas Negatives ist, bzw. dass ein Mensch etwas Schlechtes getan haben muss, um eines Psychiaters zu bedürfen. Dass er ein schlechter Mensch sei. Es wird von oben herab über Menschen in psychiatrischer Betreuung gesprochen, auf eine Weise, die für Betroffene extrem schmerzlich sein kann. Ich weiß, wovon ich rede, denn es gibt garantiert einige ehemalige KollegInnen an verschiedenen Schulen, die das hier zu Gesicht bekommen und sich darüber aufregen, dass ich hier oversharing betreibe. Face facts: Es ist so, und es ist an fast jeder Schule so. Ich hoffe, niemand von Euch glaubt, in einem harmonischen Kollegium zu arbeiten - es sei denn, es ist tatsächlich harmonisch - zum Beispiel an kleineren Schulen, Grundschulen, Förderzentren oder Perspektivschulen.

Menschen können es einfach nicht lassen, schlecht über andere Menschen zu reden.

Elling ist auf Netflix verfügbar.

Weitere authentische Filme auf dem Spektrum: The Reason I Jump, The Imitation Game, The Speed Cubers, BenX, The Queen's Gambit - die Liste wird bald links auftauchen und noch mehr Titel beinhalten ;-)

Freitag, 6. Oktober 2023

Tag 67 - ...und täglich schrumpft die KVG

Darf's ein bisschen weniger sein?

Wenngleich mein Termin bei'm Arbeitsamt gestern nichts gebracht hat außer einer gewissen Frustration und dem Gefühl von "ich mache alles falsch", so war es immerhin eine Gelegenheit, mal wieder in die Stadt zu kommen. Der Hinweg war zu Fuß ganz erfrischend, und danach bin ich mit den Bussen der KVG durch die Gegend gefahren.

Das ist ja bereits seit dem Juli nicht mehr ganz so einfach; die KVG musste aus Mangel an Personal den Linienverkehr einschränken. Der Kieler Süden hat davon etwas abbekommen, zwei Hauptlinien fahren jetzt nur noch bis zum Hauptbahnhof anstatt bis Schulensee (der Kieler Süden scheint sowieso etwas stiefmütterlich am ÖPNV zu hängen, auch die zukünftige Kieler Stadtbahn wird bestenfalls in einem späteren Ausbauprozess eine Linie nach Schulensee bieten; nach der Hummelwiese kommt da nichts weiter Richtung Süden). Das bedeutet, dass hier unten auf der Hamburger Chaussee je Stunde und Richtung vier Busse weniger fahren als sonst. Auf anderen Linien wurde die Taktung runtergefahren, es hat sich bisher deutlich bemerkbar gemacht.

Und jetzt, zur Oktobermitte, wird weiter gekürzt. So wird zum Beispiel das Rentnertaxi, die Linie Zweiundfünfzig, am Wochenende nur noch stündlich fahren. Die anderen Kürzungen betreffen mich diesmal nicht so sehr. Die KVG schreibt dazu auf ihrer Homepage:

"Unser klar formuliertes Ziel ist es natürlich auch weiterhin, die genannten Einschränkungen langfristig wieder zurücknehmen zu können. Das gilt auch für alle Reduzierungen, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt umgesetzt werden mussten."

Das Wort "langfristig" gibt nicht gerade Anlass zur Hoffnung - aber solange kaum jemand BusfahrerIn werden möchte, wird sich an der Lage auch nichts ändern. Und manchmal kann ich das niemandem übel nehmen. Ein großer Teil der Fahrgäste steigt immer noch regelwidrig hinten im Bus ein anstatt vorn, das Straßennetz gleicht immer mehr einem Flickenteppich, durch die vielen Baustellen kommt es immer häufiger zu Busverspätungen und -ausfällen, was wiederum die Fahrgäste aufbringt. Und dann gibt es eben auch BusfahrerInnen mit einem sehr eigenen Fahrstil; erst neulich bin ich wieder bei einer Vollbremsung durch den Bus geflogen und gegen eine der Haltestangen geknallt (aber wer Holzachterbahnen fährt, dem macht sowas nichts aus), und vor ein paar Tagen stand ein Bus hier bei grüner Ampel zwei Minuten lang auf der Straße, anstatt die Kreuzung zu überqueren und die Bushaltestelle anzufahren. In Gedanken versunken, bis der Busfahrer dann von ein paar Fahrgästen angeblfft wurde a la "grüner wird's nicht". Das ist eine Situation, die mir tatsächlich Bauchschmerzen bereitet, weil ich mich frage, warum der Bus nicht losfährt - ist etwas kaputt, oder gab es einen Unfall; ich finde tausend Gründe, komme aber generell selten auf die Idee, dass jemand seine Arbeit nicht richtig macht.

Nun denn. So schrumpft das Busangebot der KVG auch weiterhin, pünktlich zur verregneten Jahreszeit. Mal schauen, welche Linien als nächstes dran glauben müssen.

Mittwoch, 12. Juli 2023

Wie in der Twilight Zone


So ein durchgetakteter Tag kann nur schiefgehen. Dabei war der Plan eigentlich safe & sound. Morgens um halb sieben klingelt der Wecker. Ich nehme mein Tablettenfrühstück, lese kurz die Schlagzeilen bei Google News, dann setze ich mich in den Bus, fahre zu meinem Hausarzt und hole dort die Überweisung zum Psychiater für das dritte Quartal ab, fahre dann zurück zum Hauptbahnhof, um zwei Minuten nach neun fährt der Zug nach Neumünster ab und ich bin pünktlich um zehn Uhr im Friedrich-Ebert-Krankenhaus, nehme dort meinen Termin bei'm Psychiater wahr, eine Stunde, passt, danach mit Zug zurück nach Kiel (DE-Ticket ist schon echt cool), mit dem Bus Richtung Dietrichsdorf und rechtzeitig bei den Oberstufenkonferenzen antanzen, da sind ein, zwei interessante SchülerInnen dabei, zu denen es etwas zu sagen gibt.

Okay, den Hausarzt musste ich streichen, weil die leider nicht schon um acht öffnen, sondern erst um halb neun, und dann würde ich den Zug nicht mehr bekommen und der gesamte Tagesplan fällt um wie eine Reihe Dominosteine. Aber der Rest hat geklappt. Ich fahre viel zu früh ab Diesterwegstraße los, am Hauptbahnhof kaufe ich mir noch zwei Hefte mit Logikrätseln, ich brauche manchmal einfach brain food. Und da steht der Zug auch schon bereit, auf Gleis Vier, der Regionalexpress nach Hamburg, Abfahrt zwei Minuten nach neun, es ist zwanzig vor, passt. Der Zug wird recht voll, ich suche mir einen schönen Einzelplatz mit reichlich Ablagefläche, auf der ich Rätsel lösen kann, und vertreibe mir die Zeit. Neun Uhr zwei, ich höre durch das Fenster die altbekannte Lautsprecherdurchsage. "DING-DONG.. Abfahrt Regionalexpress nach Hamburg Hauptbahnhof. Bitte von den Türen fernbleiben." Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie der Zug abfährt.

Von außen. Zwei Gleise weiter.

Und ich bleibe in meinem Zug stehen. Nichts bewegt sich. Es dauert ein paar Momente, aber nach und nach recken sich die Köpfe der anderen Fahrgäste und jeder realisiert, dass er nicht im Regionalexpress RE Sieben nach Hamburg sitzt, Abfahrt neun Uhr zwei - sondern im RE Siebzig nach Hamburg, Abfahrt neun Uhr fünfundzwanzig. Die Anzeige am Bahnsteig war falsch. Es dauert ganze fünf Minuten, bis endlich eine Durchsage von der Zugführerin kommt, die uns erklärt, dass wir im falschen Zug sitzen und sie sich nur dafür entschuldigen kann und dann noch irgendwelches Anschlusszüge-Bürokratiergehege.

Eigentlich sollte ich gerade psychisch labil sein und unter Stress stehen. Aber ich entspanne mich. Nichts ist entspannender als das anzunehmen, was kommt. So langsam scheine ich den Satz des Dalai Lama zu verinnerlichen. Ich bleibe ruhig, ich kann nichts an der Situation ändern, und natürlich habe ich kein Smartphone bei mir, kann also auch nicht in der Klinik anrufen und Bescheid geben - dann kann ich die Zeit auch weiter genießen und habe schmunzelnd an meinen Rätseln weitergearbeitet.

Gut zwanzig Minuten später sind wir dann ja auch losgefahren, und mit strammem Fußmarsch in Neumünster diesmal direkt richtig, ohne mich zu verlaufen, bin ich gerade mal vier Minuten nach zehn in der PIA angekommen und kann in's Wartezimmer gehen, Termin klappt. 

Dass sich dann doch alles verspätet hat und ich die Konferenzen nicht mehr geschafft habe, war irgendwie sekundär, denn das Gespräch mit meinem Psychiater hat mir diesesmal richtig gut getan. Er hat mir geholfen, andere Blickweisen zu finden und das meiner Wahrnehmung nach grausige Gespräch mit meinem Schulleiter besser zu verstehen. Eine Menge gedankliche Klarheit am Ende eines solchen Termins ist viel wichtiger und mehr wert als jedes Medikament, das ich mitnehme (wird aber natürlich ausprobiert).

Das war ein irrer Dienstag; als ich im Zug aus dem Fenster geschaut habe und realisiert habe, wie mein Zug da vom anderen Gleis abfuhr - für einen Moment habe ich mich gefühlt wie in einer Folge der klassischen Twilight Zone (1959). Das musste hier festgehalten werden.

Sonntag, 28. Mai 2023

Geschafft!


Ich fange diesen Beitrag sicherheitshalber an mit dem, was ich nicht geschafft habe: Ich bin immer noch nicht offizell als schwerbehindert eingestuft. Auch in der Wohnung bin ich noch nicht so viel weiter, wie ich gern wäre.

Der letzte Monat gehörte den Abschlussprüfungen. Das ist aufregend für mich - jetzt sehe ich, ob ich die Kiddies einigermaßen gut darauf vorbereitet habe, beziehungsweise ob sie meine Tipps umgesetzt haben. Das ist jetzt geschafft, inklusive der Korrekturen, und es gab zum Glück keine unerwarteten Totalausfälle. 

Dann kamen die sprachpraktischen - also mündlichen - Prüfungen. Auch hier wieder mit einem kleinen Bammel meinerseits: Was tue ich, wenn es in der Prüfung nicht weitergeht? Wenn ein Prüfling nur vor sich hinstammelt? Immerhin habe ich eine Zweitprüferin neben mir, aber trotzdem: So muss es sich angefühlt haben, als Frau Zimmermann mein Englischexamen abgenommen hat.

Auch das ist geschafft - wobei der Hauptpapierkram jetzt vor mir liegt, für das Feiertagswochenende: Unsere Schule wurde für eine Vollerhebung der Ergebnisse ausgesucht. Das bedeutet, wir müssen jedes einzelne Ergebnis jeder einzelner Aufgabe jedes einzelnen Prüfling im ESA und MSA, Deutsch, Englisch und Mathe auflisten. Na denn man tau.

Auch geschafft ist ein wenig digitale Bürokratie - ich hatte geschrieben, dass ich keine Möglichkeit finde, an das Deutschlandticket in Papierform zu kommen; die Sannitanic hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich das auch als Jobticket bekommen kann, als Mitarbeiter des Landes Schleswig-Holstein. Ich wollte nett zurücklächeln und ihr klarmachen, dass ich auf diesen bürokratischen Berg keine große Lust habe - ich hatte die Einführung des Jobtickets mitverfolgt - aber sie hat mir gleich einen praktischen Link dazugeschickt und eine Personalnummer weiter hatte ich die Bestätigung, dass ich das DE-Ticket für sechzehn Euro fünfzig im Monat erhalte, ab Juni (siebzehn Tage Vorlaufzeit bei Papier). Aber ob das klappt?

Immerhin muss ich mir jetzt keine großen Sorgen mehr machen, dass ich ab Donnerstag - Junibeginn - ohne Fahrschein dasitze. Natürlich habe ich die Nachrichten verfolgt, in denen es hieß, dass viele Menschen ihr Deutschlandticket nicht zu Beginn der Laufzeit erhalten hätten. Ich habe es hier, als PDF, und kann es mir bei Bedarf jederzeit frisch ausdrucken. ÖPNV-flexibler geht kaum, und ich muss keine Zugfahrt zu meinen Eltern oder zu meinem Psychiater mehr extra bezahlen.

Rückblickend ist also eine ganze Menge geschafft, und das freut mich, weil die Abschlussprüfungen meinen Kopf vollkommen in Beschlag genommen haben. Ich fühle mit allen HSP da draußen mit, falls es ihnen genauso erging. Das sind eben alles kleine Existenzen, die an dieser Prüfung hängen, und nicht einfach nur richtig-falsch-ankreuzen. Wenn mir jemand im ESA-Monolog erzählt, wie die Familie aus Syrien geflohen ist und mitansehen musste, wie ein Kind die Straße runter zerbombt wurde, dann finde ich das erstmal natürlich hochspannend, aber das geht mir auch an die Nieren. Ganz anders als die teilweise harmlosen Monologe im MSA, in denen über Fashion oder Landleben versus Stadtleben gesprochen werden sollte.

Jetzt kommt nur noch der Abschluss für das Bürokratiergehege. Und noch zwei Klausuren übernächste Woche, die ich irgendwie im Rekordtempo korrigieren muss - nicht ganz einfach in der Oberstufe. Egal.

Auf in die Schlacht!


post scriptum: ...und ein riesiges Dankeschön an meine beiden Mitprüferinnen, ohne die das sicherlich nicht so reibungslos geklappt hätte! :-)