"I'm all peopled out."
Temple Grandin ist ein bekannter Name in der Asperger-Szene, und von ihr habe ich (via Tony Attwood) diesen grandiosen Ausdruck gelernt. Es tut gut, etwas endlich mal mit Worten beschreiben zu können, was einen über die Jahrzehnte begleitet und immer wieder auftritt. Dieser Artikel dürfte auch für HSPs interessant sein, denn sie kennen das Prinzip der Reizüberflutung nur zu gut.
Wenn ich morgens in die Schule gehe, bin ich ausgeglichen. Mein Unterrichtsplan steht. Ich weiß genau, mit welchen Lerngruppen ich welche Inhalte behandeln möchte. Das Drehbuch ist quasi geschrieben und muss jetzt nur noch ablaufen. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, und deswegen "probe" ich bestimmte Gesprächsfetzen, die auftauchen könnten, schon vorher auf dem Schulweg im Kopf und zuhause in den Selbstgesprächen.
Es läuft dann auch weiterhin alles nach Plan ab: Ich erfriere an der Bushaltestelle mit meinem Rätselheft in der Hand, Kapuze über den Kopf zum Abschotten, nicht nur gegen die Kälte. Im Bus wird weiter gerätselt, mein Drehbuch läuft ohne Probleme ab. Dann heißt es irgendwann: "Nächste Haltestelle - Tiefe Allee." Damit endet meine Sicherheit. Das ist nämlich die vorletzte Bushaltestelle vor meinem Schul-Stop. Das Rätselheft wird eingepackt und es geht los. Zum ersten Mal schaue ich, wer noch mit mir aussteigt, jetzt sehe ich bekannte Gesichter, und die Schule kommt immer näher, und mit ihr tausend Menschen, die sie beleben.
Jeder einzelne Kontakt mit einem anderen Menschen kann für einen Autisten Probleme bedeuten, denn diese Menschen kennen mein Drehbuch nicht und verhalten sich einfach nach ihren eigenen Drehbüchern (so soll es ja auch sein). Ich nehme das wahr als Unberechenbarkeit. Ein kleines "Hey Tobi!" oder "Herr Homann, haben wir sie Donnerstag?" bringt mich raus. Ich bin jetzt im Daueralarmzustand, und versuche mein Drehbuch mit all' diesen menschlichen Transaktionen in Einklang zu bringen. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, eben weil unvorhergesehene Sachen auftauchen, und ich muss irgendwie den Überblick behalten.
Und das schlaucht.
Nach jeder Stunde muss ich sondieren, wo ich in meinem Drehbuch bin, muss schauen, was verändert wurde, welche Menschen ohne Vorwarnung hereingeplatzt sind - ich muss das alles verarbeiten, damit ich in die nächste Stunde wieder (einigermaßen) ausgeglichen starten kann. Und dieses "Runterfahren" brauche ich jede. einzelne. Stunde. In Freistunden gehe ich in den Ruheraum, der ist perfekt für sowas, das federt zumindest die unmittelbaren Eindrücke ab (irgendwann lernt man im Lojong auch sowas wie "Meditation-to-go", ohne großen Zeitaufwand).
Am Ende des Schultages bin ich allerdings fertig. Zu viele Menschen haben mich in diese oder jene Richtung gerissen (gar nicht bösartig gemeint), und ich atme auf, wenn ich zuhause bin. Ich schließe die Tür, trete in meinen safe space ein, kapsele mich vollkommen von der Außenwelt ab, keine Mails, keine Nachrichten, gar nix, denn ich kann nicht mehr.
"I'm all peopled out."
Ich brauche eine Regenerationsphase ohne Menschen, in der ich mein Drehbuch überarbeiten und die Stabilität und Sicherheit in meiner Welt wieder herstellen kann. Das braucht Zeit - wir sprechen hier von Stunden. Denn, klar, wenn alles abgesichert ist, kann ein hochbegabter Aspi viele Dinge souverän erledigen - aber eben jene Sicherheit gerät durch den Kontakt mit anderen Menschen immer wieder in's Wanken. Allein schon das Bewusstsein, dass ich es mit vielen neurotypischen Menschen zu tun habe und überall mal wieder Missverständnisse auftauchen könnten, setzt mir zu.
Um dem Ganzen einen positiven Touch zu geben: Langsam bekomme ich das Gefühl, dass ich die Menschen an der Toni kenne. Natürlich nicht bis in's Innere, aber ich weiß, welche Menschen dort sind, ich kann mich besser auf den Schultag vorbereiten, mein Drehbuch mit der Zeit etwas flexibler gestalten. Sowas braucht offensichtlich Jahre - das hat bisher nur an der Nordseeschule in St.Peter-Ording geklappt.
Ihr kennt das, mit diesem Overload - Shutdown-Prinzip?
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