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Dienstag, 16. April 2024

Farewell, Toni.


Die Gewissheit kann eine schillernde Sache sein.

Seit ein paar Tagen habe ich es jetzt schwarz auf weiß, dass eine Rückkehr an die Toni-Jensen-Gemeinschaftsschule aussichtslos ist, Gründe unterliegen natürlich der Verschwiegenheit. Diese Nachricht hat mich richtig fertig gemacht. Depressiver Schub, Angst, angewiesen auf ein Anxiolytikum. Über die vergangenen neun Monate habe ich mich quasi an diesen letzten Strohhalm geklammert, dass ich wieder an die Schule zurück kann.

Ich wollte das unbedingt, auch wenn ich von manchen KollegInnen passive-aggressively angefeindet worden bin - das ist an jeder Schule so, und sobald ich erstmal weiß, welche KollegInnen mir wohlgesonnen sind, kann ich den Rest gut ausblenden. Ich wollte unbedingt meine SchülerInnen wiedersehen und sie zu ihren Schulabschlüssen bringen. Ich wollte unbedingt das Schularchiv weiterführen, und ich wollte unbedingt den Gesprächskreis für autistische SchülerInnen einrichten.

All' diese Pläne sind jetzt endgültig hinfällig.

Aber, wie gesagt, diese Gewissheit schillert, und auch in optimistischen Farben. Ich kann jetzt endlich von den Toni-Plänen loslassen und mich darauf vorbereiten, dass ich an eine neue Schule kommen werde. Ich kann das Dreieinhalb-Jahre-Paket von meinen Schultern loswerden, ich habe den Kopf etwas freier für wichtige Dinge, die anliegen. 

Es hat einige Tage gebraucht, in denen es mir mies ging und ich eigentlich mit niemandem reden wollte. Stattdessen nutze ich, wie so oft, jetzt den Blog als Output für meine Seelenwelt. Ich wollte ursprünglich ein paar KollegInnen namentlich verändert erwähnen, die mir besonders am Herzen lagen und die ich wirklich sehr vermissen werde - aber ich bin sicher, dass diese Menschen wissen, dass sie gemeint sind, und ich danke ihnen für ihren Rückhalt und ihre Bereitschaft, sich mit einer autistischen Lehrkraft, die nicht immer ganz einfach ist, auseinanderzusetzen. Und ich möchte meinen ehemaligen SchülerInnen danken für alles, was sie für mich getan haben, und für ihre Bereitschaft, diverse Unterrichtsversuche auszuprobieren, ohne zu meckern.

Ich werde Euch alle vermissen, eine Zeit lang. In meinem Herzen bleibt Ihr für immer.

Und ich wollte auch eigentlich eine Art "Urteil" abgeben über meine Zeit an der Schule, so wie ich das bei anderen Schulen auch ab und an getan habe - aber ich lasse es diesmal. Ich möchte nur auf eine Sache hinweisen: Das Kollegiumsklima, bzw. dessen Wandel, gibt es auch an vielen anderen Schulen, for better or worse

Farewell, Toni.

Freitag, 1. Dezember 2023

Tag 123 - Weihnachtsbasar: Danach


Schneechaos wäre vielleicht ein bisschen viel gesagt, aber der Wintereinbruch war trotzdem stark genug, dass Kiel gesagt hat, dass trotz Streiks der Straßenräumdienste kein Unterricht ausfallen wird. Es liege in jedermanns Eigenverantwortung, den Weg zur Schule sicher herumzubringen oder seine Kinder zuhause zu behalten. Also konnte gestern der Basar wie geplant stattfinden, auch wenn ich auf dem Weg dorthin ein paarmal in's Rutschen bekommen bin; immerhin war ich ausgeschlafen, weil ich - was ich sonst nie mache - nach den Morgennachrichten wieder in's Bett gegangen bin und weitergedöst habe, mit Hörspielen, die das Scheißwetter draußen ausblenden. Meine Hoffnung war, dass ich keine Weihnachtsstimmung zum Basar mitbringen sollte, denn das klappt bei mir nicht so richtig.

Genau genommen war ich mir noch nichtmal sicher, ob ich überhaupt dort ankomme. Die Busse Richtung Kieler Osten gerammelt voll, ich habe extra zwei Busse vorbei fahren lassen, aber irgendwie hat es dann doch geklappt.

Zum Glück! Auf dem Gelände meiner ehemaligen Schule war viel los, reichlich Kinder, die den schneebedeckten Berg vom Wasserturm herunterrodelten, und überhaupt viel zu viele Menschen, so dass mein Blick wieder nach unten auf den Boden gerichtet war. Ziel war das Foyer, zur 9a, bekannte Gesichter finden, und von da an war es einfach nur schön.

Ich habe mich wieder wie "zuhause" gefühlt. Überall ehemalige SchülerInnen, die mich grüßen, und mit denen ich in's Gespräch komme, aus allen Klassenstufen, die ich unterrichtet habe. Teilweise wurde ich per Handy ex absentia gegrüßt und auch Schüler, die ich nur einmal in einer Vertretungsstunde hatte, sind auf mich zugekommen und wir haben uns an die gemeinsame Zeit erinnert.

Ich hätte sie am liebsten in die Klassenräume geschickt und direkt weiter unterrichtet. Sie fehlen mir wirklich sehr, ich vermisse ihre Vielfalt, und auch ein paar KollegInnen, die ich gesehen habe, haben die Situation nicht einfacher gemacht. Am Ende bin ich sehr glücklich, aber mit zwei Tränen in den Augen, wieder vom Schulgelände gegangen, und wenn ich könnte - weil zum Beispiel jemand zum Sommer in den Ruhestand geht - würde ich mich direkt wieder dort bewerben. 

Miss u guys!

...so much...

Dienstag, 28. November 2023

Tag 120 - Weihnachtsbasar: Davor


Heute morgen habe ich mich fast zu Tode erschrocken, als ich das Fenster geöffnet habe und ein Dutzend Tauben, die davor gesessen hatten, auf einmal losgeflogen sind. Ich hatte sie überhaupt nicht gesehen, weil mein Blick viel faszinierter war von dem ersten Schnee der Saison. 

Ich werde jetzt nicht schon wieder ausbreiten, was ich von Schnee halte, das findet man hier im Blog bereits mehrfach. Das Timing ist aber sehr passend, denn am Donnerstag findet an der Toni-Jensen-Gemeinschaftsschule ein Weihnachtsbasar statt. Jedes Jahr wieder ist das eines der Highlights im Schulleben, habe ich gehört. Ich war bisher noch nie dort - ich kann mit Weihnachtsgedöns eben nicht so viel anfangen. 

Diesmal ist es anders, denn da ich nicht mehr an der Toni unterrichte, ist das eine schöne Gelegenheit, meine ehemaligen SchülerInnen mal wiederzusehen, und die ehemaligen KollegInnen, die ich vermisse, und für alles andere gibt es selektiven Mutismus

Ich freue mich tatsächlich darauf und werde mich gleich erstmal daran machen, meine Lederstiefel zu putzen und aufzupolieren. Damals in Kronshagen war das immer ein geliebtes Ritual vor der Lost Souls. Und bei Schneewetter sind diese Stiefel einfach großartig. Ich muss außerdem unbedingt daran denken, die Fingernägel zu lackieren (seit Monaten nicht mehr - generell kein gutes Zeichen), und vielleicht hole ich ja sogar den Kajal raus. 

Rising action...

Montag, 28. August 2023

Tag 28 - Schlüsselabgabe


Heute habe ich meine Schlüssel in der Schule abgegeben. Jemand sieht mich, strahlt mich an und fragt:

"Hey, geht's gut?"

Ich schüttele nur den Kopf.

"Oh, warum das denn?"

"Hmmm, warum das denn... ich bin zum siebten Mal in zwölf Jahren arbeitslos, nachdem es an meiner siebten Schule nicht geklappt hat. Das DLZP sendet meine Arbeitsbescheinigung nicht an die Agentur für Arbeit. Ich bekomme seit einem Monat kein Arbeitslosengeld. Ich bin nicht krankenversichert. Ich bekomme keinen Schwerbehindertenstatus. Ich habe meinen vierzigsten Geburtstag mit Psychopharmaka verbracht, weil ausgerechnet mein eigener Schulleiter mich vor dem gesamten Kollegium bloßgestellt hat. Wie geht es mir wohl?"

"..."

"Schlüssel. Schlüssel. Fernbedienung. USB-Stick. Noch Fragen? ... Gut."

Und damit habe ich diese Schule zum letzten Mal verlassen.

post scriptum: Ich bin nicht traurig oder wütend. Das war einfach nur eine extrem unangenehme Situation.

paulo post scriptum: Ich habe eben den Film "Deadstream" (2022) gesehen. Extrem witzige Horrorsatire auf Influencer und Followertum, ich habe sehr gelacht!

Donnerstag, 27. Juli 2023

Eine Geschichte von Fairness


vorweg: Der Text ist authentisch, manche Namen sind geändert.

Lieber Herr Kanter,

Ihre Mail erreichte mich am Samstag wie eine Insel im Meer eines Ertrinkenden. Sie hat mir viel Kraft gegeben und die Möglichkeit, meine Gedanken wieder zu fokussieren – einen klaren Kopf zu bekommen. Das ist für Autisten nicht immer leicht, angesichts des Chaos, das in der Welt da draußen herrscht.

Ich möchte mich vorweg für eine möglicherweise lange Mail entschuldigen – aber Sie haben gefragt, ob Sie irgendetwas tun können, wenn ich es denn wollte. Ja, ich will, ich möchte nichts so sehr, wie an der Toni bleiben zu können. Ich habe bisher an sieben Schulen gearbeitet, und die Chemie – Sie nennen es Puzzle-Passung – war nur ein einziges Mal so gut wie an dieser Schule. Ich weiß nicht, was man tun kann. Ich bin geistig behindert und in dieser Situation vollkommen hilflos. Was ich aber machen kann, ist, Ihnen ein wenig Hintergrundwissen zu meiner Lage zu geben. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen – ich schreibe gern, deswegen führe ich einen Blog. Ich nenne sie „Eine Geschichte von Fairness“, und sie beginnt mit Ihrem Sohn Steffen.

Ich weiß nicht, ob er Ihnen das erzählt hat; relativ früh im Schuljahr hatte ich den SchülerInnen eine benotete Textproduktion aufgegeben, quasi als Lernstandserhebung. Steffens Text las sich richtig gut – fast, als wäre er aus dem Internet kopiert worden. Ich habe den Text mit einer Sechs bewertet und Steffen einen kleinen Einlauf dazugeschrieben. Es ging in die Richtung, dass er seinen ersten Eindruck bei mir damit versaut hat. Aber wir waren alle mal Jugendliche, und deswegen habe ich ihm dazugeschrieben, dass der Text zwar null Punkte bekommt, dass dann aber Schwamm drüber ist, wenn er die Chance nutzt und sich im Unterricht ehrlich anstrengt und mir zeigt, dass das ein Kavaliersdelikt war.

Ich habe in über zehn Jahren Tätigkeit keinen Schüler erlebt, der sich das so zu Herzen genommen hätte. Steffen hat sich im Unterricht aktiv beteiligt, gemeldet, wann immer möglich. Im Laufe des Schuljahres ist er er auch mal nach der Stunde zu mir gekommen und hat ein bisschen erzählt, auch auf Englisch, und ist richtig aus sich herausgekommen.

Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit, Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu verurteilen und jedem eine weitere Chance zu geben. Das bedeutet es für mich, fair zu sein. Das ist für mich normal. Ich lebe nach buddhistischen Denkweisen, und da sind Freundlichkeit und Mitgefühl nur zwei der Grundsätze, die das Denken und Handeln beeinflussen.

Ich habe mein Leben lang so gelebt – ich habe im Studium versucht, hilfsbereit zu sein, wann immer ich konnte. Ich habe Latein und Englisch studiert; damals vor zwanzig Jahren hieß es noch „Mit Latein kannst du dir nachher deine Schule aussuchen“. Ich bin Autist, ich nehme das wörtlich, was Menschen sagen, also war ich davon ausgegangen, dass das stimmt. Meine Vertrauenslehrerin in der Oberstufe hat mir erzählt, dass es sich auch gut im Lebenslauf macht, wenn man sich an der Uni einsetzt, über Nebenjobs oder Ehrenämter. Auch das habe ich wörtlich genommen. Ich dachte, ein guter Lebenslauf hat einen Wert.

Ich wurde wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Klassische Altertumskunde der CAU Kiel und hatte dort als Sekretariatsunterstützung viel mit anderen Studierenden zu tun. Jeder, der ein Latinum für sein Studium brauchte, musste irgendwann durch unser Büro und an meinem Schreibtisch vorbei.

Das, und die Leitung der Fachschaft Klassische Philologie scheinen meinen Namen bekannt gemacht zu haben. Zumindest so bekannt, dass ich dann drei Jahre nacheinander in das Studierendenparlament gewählt worden bin. Als einer von einundzwanzig, und das bei über zwanzigtausend Studierenden, das müsste doch etwas heißen. Und so finden sich zwei Ehrenämter in meinem Lebenslauf wieder, fünf Jahre Fachschaftsvorsitz und drei Jahre Abgeordneter, zwei davon als Vorsitzender des Haushaltsausschusses.

Mir ist erst im Referendariat bewusst geworden, dass ich polarisiere. Ich wusste bis vor gut vier Jahren nicht, dass ich geistig behindert bin, nur, dass ich scheinbar ein Freak war. Das hat sich auf mein Referendariat so intensiv ausgewirkt, dass Cai Christophel, damaliger Schulartvorsitzender für Gymnasien im IQSH, unerwartetes viertes Mitglied in meiner zweiten Staatsexamensprüfung war. Mein Name schien bekannt zu sein; Herr Christophel hat mich nach der Prüfung gefragt, ob das IQSH meine Examensarbeit in seiner Bibliothek ausstellen dürfe, weil sie „vorbildlich“ gewesen sei.

Und dann war ich arbeitslos. Jeweils 1,9 im ersten und zweiten Staatsexamen, ein hervorragender Lebenslauf, und ich – ohne Arbeit. Das lag nicht am Stellenmangel, ich habe mich auf viele ausgeschriebene Stellen beworben und war bisher in siebzehn Auswahlgesprächen. Keine einzige Zusage. Keine einzige Begründung. Inzwischen sechsmal arbeitslos.

Jetzt endlich weiß ich, dass das an meiner Behinderung lag – zum Beispiel sage ich in diesen Gesprächen immer die Wahrheit, die aber meistens von niemandem gehört werden will. Ich bin auch viel zu offen in Unterhaltungen, damit können viele nicht umgehen. Und so habe ich hervorragende Voraussetzungen, Noten, Ehrenämter, eine dienstliche Beurteilung mit Eins, und aufgrund eines dreißigminütigen Auswahlgesprächs kaum eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt (sagt die medizinische Fachliteratur).

Ist das fair?

Die Schulen, die mich genommen haben, haben das immer aus einer Vertretungsnotlage heraus gemacht. Ich erfuhr immer die gleichen Reaktionen von begeisterten SchülerInnen und Eltern. Dass die Schulleitungen mich zu anstrengend empfanden, erfuhr ich natürlich nicht, denn darüber wird nur hinter geschlossenen Türen und erst recht nicht mit dem Betroffenen gesprochen; so ist leider unser Schulsystem.

Es gab da eine Schule, die anders getickt hat. Die offen war für das Queere an mir. Die Nordseeschule in St.Peter-Ording hatte einen Regionalschulteil, pädagogischer Brennpunkt, und das war genau mein Arbeitsfeld. Hier konnte ich Menschen helfen. Es hat von beiden Seiten gepasst, und man hätte mich dort gern unbefristet eingestellt.

Ich will ehrlich sein: Ich habe das Arbeitsverhältnis beendet. Irgendwann ging es um die Frage einer Zukunftsperspektive, denn ich bin immer von Kiel an die Westküste gependelt. Das hängt damit zusammen, dass ich mir im Studium, wo zuletzt alles so wunderbar lief, ein Leben aufgebaut hatte mit FreundInnen, die mich so akzeptierten, wie ich bin. Ich war froh, in einer Stadt zu leben und nicht mehr auf dem Land. Das war meine Welt, hier fühlte ich mich sicher.

Für einen Autisten gibt es im Leben nichts Wichtigeres als Sicherheit. Die Welt ist chaotisch und unvorhersehbar, und das macht einem Autisten Angst. Er denkt immer logisch und kommt nicht mit dem emotionalen Chaos und der Dummheit vieler neurotypischer Menschen klar. Er eckt an, sie alle sind ihm dankbar, dass er weiterhilft und sich wirklich für sie interessiert, aber nur die wenigsten möchten mehr mit ihm zu tun haben.

Deswegen war mir mein Kieler Lebensumfeld so wichtig geworden und ein Grund, St.Peter-Ording zu beenden, mit weinenden Augen auf beiden Seiten. Ich musste etwas in Kielnähe finden, sonst würde mein Leben komplett auseinanderbrechen. Und dann begannen die vielen Schulwechsel. Jedesmal wieder, nachdem ich mich in einem Vertretungsjahr an Vieles gewöhnt hatte – die Gesichter, die Stimmen, die Gebäude, die Wege, die ich zu gehen hatte, den Stil der Schule – all' das ist dann wieder weggebrochen, nachdem die Schulleitung zu der Meinung gelangt war, ich sei zu kompliziert und man wolle lieber eine Fließbandlehrkraft haben.

Das wirkt sich auf mein Privatleben aus, in dem es seit sechs Jahren bergab geht. Meine Wohnung ist kaum noch bewohnbar, ich bekomme Krankheiten, von denen ich noch nie gehört hatte, weil ich es nicht mehr geschafft habe, die normalen Lebensabläufe auf die Kette zu kriegen. Wenn ein Autist unter Stress steht – zum Beispiel, wenn ihm sein Lebensumfeld weggerissen wird – dann funktioniert er nicht mehr. Ich bin wirklich am Ende mit den Nerven.

Natürlich will ich das Gute an dieser harten Zeit nicht herunterspielen – ich weiß jetzt endlich, dass ich geistig behindert bin, habe seit einigen Wochen mein fachärztliches Gutachten und der Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung läuft.

Aber die Toni-Jensen-Gemeinschaftsschule braucht kein Englisch.

Unser Schulleiter scheint sich nicht zu erinnern, dass ich mich bereits vor neun Jahren einmal an der Toni vorgestellt hatte – weil eine Kollegin überzeugt war (und immer noch ist), dass das die richtige Schule für mich ist, und dass ich der richtige Lehrer für diese Schule bin; da wären wir wieder bei der Chemie und dem Puzzle angekommen. Damals war kein Bedarf.

Als ich dann vor vier Jahren für eine Vertretung vorstellig wurde, durfte ich einen Satz hören, der ein direkter Schlag in die Magengrube war: „Wie kann es denn sein, dass jemand mit ihren Referenzen noch keine Stelle gefunden hat?“ Ich hätte fast an Ort und Stelle angefangen zu weinen, habe dann aber nur geantwortet „Fragen sie sich das noch einmal, wenn sie mich in ein paar Jahren von der Schule verabschieden.“ 

Das war vor vier Jahren. 

Als konnte man die Zukunft vorhersehen.


Donnerstag, 13. Juli 2023

Zündende Idee


Die Meditation gestern hat mir richtig gut getan, denn irgendwann ist mir eine richtig gute Idee gekommen. Eine dieser Ideen, die mir im Studium ein paar der besten Beiträge (nach meinen Maßstäben) für die Saturnalien eingebracht haben. Es geht um den Abschiedsgruß für die Toni, wenn es denn beschlossene Sache ist. 

Das Problem ist: Dr Hilarius in diesem Zustand ist zynisch. Er würde einen Beitrag schreiben, der in alle Richtungen austeilt, egal ob "verdient" oder nicht. Der alles mit sich runterziehen würde. Und weil das schädlich für mich ist und unfair für alle Anderen, mache ich das nicht, sondern werde die Sommerferien zum Schreiben nutzen. Ich werde die Zeit brauchen, denn das Ding wird zwar nicht lang, ist aber recht komplex konzipiert. Außerdem weiß ich, dass meine Schulleitung mir morgen nicht den Platz einräumen würde, das live zu machen: es gibt bereits ein paar Kollegiums-Verabschiedungen und die KollegInnen haben sich ihre Sommerferien nach dieser für alle harten Phase redlich verdient.

Das Schreiben wird anstrengend, weil dieser Abschiedsgruß zur Abwechslung mal auf meinem Mist wachsen wird. Es ist leicht, eine Nummer von zum Beispiel dem großartigen Georg Kreisler abzuwandeln, auswendig zu lernen und vorzutragen. Das hatten wir an der Toni schon; diesmal soll es etwas Eigenes sein. Ich werde nichts weiter zum Inhalt sagen, aber einen Tipp möchte ich geben, worum es gehen wird - die Freaks unter Euch bekommen vielleicht eine kleine Vorahnung:

Boldrini.

Das Schreiben hilft mir außerdem, meine Gedanken auf etwas Anderes zu fokussieren als auf die Art und Weise, wie seitens gewisser Personen in den letzten Jahren mit mir kommuniziert wurde. "Gewisse" heißt nicht alle, und ich hoffe sehr, dass eine ganz bestimmte Mutter aus der Elternschaft diesen Beitrag liest, denn sie hat mir in den vergangenen zwei Monaten sehr viel Kraft und Rückhalt gegeben, und das, obwohl sie keiner Fürsorgepflicht nachkommen müsste. Im Buddhismus wäre man von ihr begeistert.

Ich freue mich riesig darauf, diese zündende Idee umzusetzen und meinen Kopf auf andere Gedanken zu bringen. Am Ende werdet Ihr diesen Gruß natürlich hier im Blog zu sehen bekommen, wenn Ihr denn wollt, und er wird der gesamten Schulgemeinschaft zugehen. Und auch, wenn die Gefahr besteht, einen Ab-mit-Schaden-Text zu schreiben, wie es mir hier schon einmal passiert ist, und auch wenn sich für mich persönlich die letzten dreieinhalb Jahre wie pure, nervenaufreibende Zeitverschwendung anfühlen (es ist leider so, und die Schulleitung weiß auch, warum), und auch wenn sogar mein Psychiater mir sagt, dass ich bitte Lehrer bleiben soll (und mich das Nachdenken darüber und die Angst vor neuer Ablehnung in einem unbekannten Kollegium Einiges an Kraft kostet), wird es diesmal anders, mit ehrlichem Lächeln und Zwinkern. Und wenn sich dadurch dann jemand angegriffen fühlen wird, sollte dieser Jemand sich im Anschluss einmal fragen, warum das so ist.

Let's go, noch fast leeres Word-Dokument! Ba-DAMM-da. Da-Da-DAMM!

Donnerstag, 2. März 2023

"..tagtag."


Beginnen wir mit einem Kurzen, Asperger pur natürlich. Heute war Schulentwicklungstag, kurz SET. Zu meiner Schulzeit waren das noch SchiLF-Tage, schulinterne Lehrerfortbildung, und für die SchülerInnen waren sie vor allem Eines: Ein schulfreier Tag! 

Dieser Tag, an dem dann also die LehrerInnen in der Schule an der Schule arbeiten - und ich bin jedesmal zusammengezuckt, wenn jemand den Begriff "SET-Tag" benutzt hat, ganz besonders im Schriftlichen. Das Aspi kommt nicht vorbei an der Tatsache, dass das T in SET bereits für -tag steht. Als Akronym geschrieben:

Schul-

Entwicklungs-

Tag

Wenn dann jemand also den "SET-Tag" beschwört, meint er oder sie offensichtlich den allseits bekannten Schulentwicklungstagtag. An solch' kleinen, pedantischen Spitzfindigkeiten können Aspis sich wunderbar aufhängen, einer meiner Brüder könnte Bände davon singen, wenn er sich mal erinnerte, wie oft er als Klugscheißer bezeichnet wurde.

Aber abseits davon war das ein ganz toller SET: Ich habe das Archiv vorangebracht, den neuen Plan umgesetzt und Akten umgewuchtet, geräumt, ausgeschildert, dabei tolle Lernmaterialien für ein Fach gefunden, die mal bestellt, aber nie abgeholt wurden. Und ich konnte zum Glück ohne diese nervigen Pausen arbeiten, ganz konzentriert.

Es ist noch ein weiter Weg bis zum in Ansätzen perfekten Archiv, aber die Arbeit heute hat sich richtig gelohnt.

Voller Erfolg an diesem Tagtag!

post scriptum: Ich hoffe ernsthaft, dass "Everything Everywhere All At Once" (2022) alle der elf Academy Awards abräumt, für die der Film nominiert wurde. Ich schaue ihn gerade zum vierten Mal, und ja, er ist überfordernd, chaotisch, nomen est omen, aber brillant durchdacht und ein toller Film darüber, was es heißt, eine Mutter zu sein. Kommt nicht so oft vor, dass ein Science Fiction-Film Frontrunner der Oscars ist...

Donnerstag, 26. Januar 2023

Jungs, die kuscheln...


...und sich gegenseitig den Bart kraulen. Deswegen liebe ich diesen Job.

Heute war der letzte Schultag vor den Zeugnissen - für Einige wird es morgen das böse Erwachen geben, wenn sie schwarz auf weiß sehen, dass sie vielleicht im ersten Halbjahr doch einmal den Arsch hätten hochbekommen sollen, um für die Schule zu arbeiten. Andere waren bereits heute überrascht, was sie sich für gute Noten erarbeitet haben - sowas sehe und höre ich gern.

Es geht aber gerade nicht um die Zeugnisse, sondern den heutigen Schultag, der echt schön war. Richtung Nachmittag etwas ruppiger, aber trotzdem gut. Mein Grundkurs in Neun hat heute richtig gut mitgemacht. Das war eine tolle Doppelstunde, weil sie sehr authentisch war: Prüfungsvorbereitungen für den ESA, für das Fach Englisch, aber auf Deutsch. Wir wiederholen, wie man Fragen formuliert, und fragen uns gegenseitig aus, für die Dialogaufgaben, und die haben mitgemacht! Alle! Ich war total begeistert, erste Stunde die dröge Grammatikwiederholung, zweite Stunde dann die praktische Anwendung, und das hat Spaß gemacht.

Und ich realisiere immer mehr, dass viele SchülerInnen zuhause überhaupt keine Grenzen aufgezeigt bekommen oder dass Eltern überfordert sind. Ich habe SchülerInnen, die sich unglaublich viel rausnehmen, und dann kann man auch mal sehr laut oder im Gespräch unter vier Augen sehr streng und deutlich werden - so dass sie erstmal komplett wütend sind und dichtmachen.

Thekla hat mir damals erklärt "Wenn du das machst, verlierst du sie. Dann wirst du ihnen scheißegal." - und sie hat Recht, deswegen mache ich die strenge, harte Tour auch erst, wenn die Kiddies einigermaßen wissen, wie ich ticke, und wenn sie mich für sich akzeptiert haben. Denn dann trifft es - und dann sind sie in der nächsten (oder übernächsten) Englischstunde auch nicht mehr wütend, und man kann wieder auf die spaßige Tour arbeiten. Muss zwischendurch halt mal knallen (bildlich gesprochen, ich sehe schon die Beschwerden).

Und dann gab es tolle Szenen über den Tag verteilt - eine Lerngruppe sollte flash plays schreiben, in Gruppenarbeit mit nur zwanzig Minuten Vorbereitungszeit eine winzige Szene um die zwei Minuten kreieren - und zwar so, dass ich danach das Publikum fragen konnte, inwiefern es sich um eine genretypische Szene der gothic fiction handelt. Die haben das begeistert mitgemacht, damit hatte ich nicht gerechnet - ein Genuss!

Und was war noch? Zwei Schüler, die nebeneinander sitzen - im Unterricht - der eine kuschelt sich an den anderen, der andere krault ihm den Bart. Ich finde es grandios, dass man an unserer Schule so eine Hetero-Bromance ausleben kann (und vielleicht ist da ja auch ein Fünkchen Wahrheit drin), das wäre an vielen anderen Schulen undenkbar.

Ich liebe diese Schule!

post scriptum: Und ich habe einen neuen "spannenden" Schüler am Haken. Mal sehen, was die nächsten Gespräche und Beobachtungen so ergeben. Die große Buba weiß ganz genau, was das bedeutet.

Dienstag, 13. Dezember 2022

all peopled out


"I'm all peopled out."

Temple Grandin ist ein bekannter Name in der Asperger-Szene, und von ihr habe ich (via Tony Attwood) diesen grandiosen Ausdruck gelernt. Es tut gut, etwas endlich mal mit Worten beschreiben zu können, was einen über die Jahrzehnte begleitet und immer wieder auftritt. Dieser Artikel dürfte auch für HSPs interessant sein, denn sie kennen das Prinzip der Reizüberflutung nur zu gut.

Wenn ich morgens in die Schule gehe, bin ich ausgeglichen. Mein Unterrichtsplan steht. Ich weiß genau, mit welchen Lerngruppen ich welche Inhalte behandeln möchte. Das Drehbuch ist quasi geschrieben und muss jetzt nur noch ablaufen. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, und deswegen "probe" ich bestimmte Gesprächsfetzen, die auftauchen könnten, schon vorher auf dem Schulweg im Kopf und zuhause in den Selbstgesprächen.

Es läuft dann auch weiterhin alles nach Plan ab: Ich erfriere an der Bushaltestelle mit meinem Rätselheft in der Hand, Kapuze über den Kopf zum Abschotten, nicht nur gegen die Kälte. Im Bus wird weiter gerätselt, mein Drehbuch läuft ohne Probleme ab. Dann heißt es irgendwann: "Nächste Haltestelle - Tiefe Allee." Damit endet meine Sicherheit. Das ist nämlich die vorletzte Bushaltestelle vor meinem Schul-Stop. Das Rätselheft wird eingepackt und es geht los. Zum ersten Mal schaue ich, wer noch mit mir aussteigt, jetzt sehe ich bekannte Gesichter, und die Schule kommt immer näher, und mit ihr tausend Menschen, die sie beleben.

Jeder einzelne Kontakt mit einem anderen Menschen kann für einen Autisten Probleme bedeuten, denn diese Menschen kennen mein Drehbuch nicht und verhalten sich einfach nach ihren eigenen Drehbüchern (so soll es ja auch sein). Ich nehme das wahr als Unberechenbarkeit. Ein kleines "Hey Tobi!" oder "Herr Homann, haben wir sie Donnerstag?" bringt mich raus. Ich bin jetzt im Daueralarmzustand, und versuche mein Drehbuch mit all' diesen menschlichen Transaktionen in Einklang zu bringen. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, eben weil unvorhergesehene Sachen auftauchen, und ich muss irgendwie den Überblick behalten.

Und das schlaucht.

Nach jeder Stunde muss ich sondieren, wo ich in meinem Drehbuch bin, muss schauen, was verändert wurde, welche Menschen ohne Vorwarnung hereingeplatzt sind - ich muss das alles verarbeiten, damit ich in die nächste Stunde wieder (einigermaßen) ausgeglichen starten kann. Und dieses "Runterfahren" brauche ich jede. einzelne. Stunde. In Freistunden gehe ich in den Ruheraum, der ist perfekt für sowas, das federt zumindest die unmittelbaren Eindrücke ab (irgendwann lernt man im Lojong auch sowas wie "Meditation-to-go", ohne großen Zeitaufwand).

Am Ende des Schultages bin ich allerdings fertig. Zu viele Menschen haben mich in diese oder jene Richtung gerissen (gar nicht bösartig gemeint), und ich atme auf, wenn ich zuhause bin. Ich schließe die Tür, trete in meinen safe space ein, kapsele mich vollkommen von der Außenwelt ab, keine Mails, keine Nachrichten, gar nix, denn ich kann nicht mehr.

"I'm all peopled out."

Ich brauche eine Regenerationsphase ohne Menschen, in der ich mein Drehbuch überarbeiten und die Stabilität und Sicherheit in meiner Welt wieder herstellen kann. Das braucht Zeit - wir sprechen hier von Stunden. Denn, klar, wenn alles abgesichert ist, kann ein hochbegabter Aspi viele Dinge souverän erledigen - aber eben jene Sicherheit gerät durch den Kontakt mit anderen Menschen immer wieder in's Wanken. Allein schon das Bewusstsein, dass ich es mit vielen neurotypischen Menschen zu tun habe und überall mal wieder Missverständnisse auftauchen könnten, setzt mir zu.

Um dem Ganzen einen positiven Touch zu geben: Langsam bekomme ich das Gefühl, dass ich die Menschen an der Toni kenne. Natürlich nicht bis in's Innere, aber ich weiß, welche Menschen dort sind, ich kann mich besser auf den Schultag vorbereiten, mein Drehbuch mit der Zeit etwas flexibler gestalten. Sowas braucht offensichtlich Jahre - das hat bisher nur an der Nordseeschule in St.Peter-Ording geklappt.

Ihr kennt das, mit diesem Overload - Shutdown-Prinzip?

Mittwoch, 21. September 2022

Sent To Destroy

Vorher...

Morgen geht es rund - in einer Fließbandaktion. Vielleicht sogar Möbius, wenn ich meine Mithelfer so positioniere, dass sie mir endlos helfen können, das Schularchiv aufzuräumen. Ich war ein bisschen erschrocken, heute Vormittag, als mir bewusst geworden ist, wie viel aus dem Archiv zu vernichten ist. Ich habe an alle Stapel, die in die Tonne sollen, einen roten Zettel geheftet. Ich muss morgen definitiv nochmal mit meiner stellv.SL vorher durchgehen, dass ich die Schuldatenschutzverordnung, Paragraph Zehn Löschung, richtig verstanden habe.

Wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle, dann habe ich morgen um die zehn Schüler, die mir helfen: Einzeln in's Archiv, Stapel von mir übernehmen, die Treppe hoch und in die Tonne werfen, wieder anstellen. Und wenn nichts mehr zu vernichten ist, habe ich hier einen Eimer mit Schokoriegeln, in den jeder Helfer dann einmal ganz tief reingreifen darf.

Sauber aufgereiht - mein Aspi-Herz hüpft!

Spannend! Ich darf endlich wieder dirigieren! Da kommt mir gleich die Saturnalien-Thalia hoch, die hol' ich aber so vor, wie ich dat brauche. Irgendwie musste ich heute die ganze Zeit an diesen Song von Combichrist denken, der immer mal wieder auf der Lost Souls läuft - Sent To Destroy. Ich wurde in's Archiv geschickt, um ungefähr die Hälfte davon zu zerstören. 

Let's vernicht!



Freitag, 16. September 2022

Endlich!!


Diese Woche hatte ich in der Schule einen ganz tollen Moment - ich habe von Schülern einen Kommentar zu meinem Kollegiumsfoto gehört. Dabei ging es mir gar nicht so sehr um den Kommentar selbst, sondern um die Tatsache, dass ich endlich an der Kollegen-Fotowand zu finden bin. Nach dreieinhalb Jahren hat mich das komplett umgehauen. Jetzt fühlt es sich wirklich so an, als ob ich zur Schule gehöre. Und da ich eher der visuelle Typ bin, macht dieser Anblick am Glaskasten unter der Verwaltung für mich eine ganze Menge aus.

Was für ein toller Wochenausklang!

Mittwoch, 6. Juli 2022

Der Archivar


Überall auf der Welt geht es gefühlt bergab - in den USA spaltet ein rechter oberster Gerichtshof die Nation und kassiert nach und nach diverse Rechte wieder ein, für die Jahrzehnte lang gekämpft wurde. Wenn es in diese Richtung weitergeht, dann laufen die Amerikaner sehenden Auges in einen zweiten Bürgerkrieg. In Großbritannien tritt ein Viertel der Regierung zurück, weil Boris Johnson nicht mehr ist als eine Schießbudenfigur - die sich weigert, sich abschießen zu lassen. Und wir alle wissen um den Krieg in der Ukraine und welche Auswirkungen das auf jeden Einzelnen von uns haben wird.

Und dennoch geht es mir gerade sehr, sehr gut. Endlich kommen die Dinge in Bewegung. Endlich geht es los, Projekte laufen an, es kommt eine Lust auf, das Schulleben mitzugestalten. Der Autismus-Gesprächskreis ist gebucht, zusammen mit einem Schüler entwickeln wir in den nächsten Wochen ein konkretes Konzept. Eine Stunde auf'm Spektrum klingt wie eine Selbstverständlichkeit für diese Schule.

Und ebenso geht es mit dem Archiv endlich weiter, heute habe ich die erste Hälfte der Inventarisierung gemacht. Leider komme ich über die Ferien nicht in die Schule rein, so muss die zweite Hälfte auf den August warten, genauer gesagt auf meinen Geburtstag. Fein. Mein Geburtstagsgeschenk: Akten vernichten - so sie denn abgelaufen sind. 

Einige Sachen sind definitiv abgelaufen - da liegen zum Beispiel Klausuren, dicke Stapel mit einem Zettel "entsorgen 2015" und dergleichen. Es geht auch noch älter: Wir haben noch Nachrichtenblätter des Ministeriums von Neunzehnhundertneunundvierzig bis Siebzig. Ob die erst noch entnazifiziert werden müssen (im Sinne des Atomzerfallsprozesses)? Und bevor jemand kreischt: Ja, ich weiß, dass wir Neunzehnhundertneunundvierzig keine Nazis mehr an der Macht hatten. Aber die Idee fand ich drollig, kam von einem Kollegen.

Dass Aufräumen Spaß macht, das hatte ich viele Jahre nicht mehr gefühlt. Endlich komme ich wieder auf die richtige Spur.

Freitag, 1. Juli 2022

"Lach' doch mal!"


Verehrte Damen und Herren, damit hätten wir den letzten Schultag eines außergewöhnlich aufregenden Schuljahres überstanden. Die Verabschiedungen heute mit sehr viel Herz, Witz und Musik, dem Bewusstsein, dass ein toller Kollege in den Ruhestand geht, und dem Bewusstsein, dass ich nicht gehen muss. Was dann auf der Dienstversammlung auch nochmal extra gesagt worden ist - das war unerwartet für mich, und während die Kollegen dafür applaudiert haben, dass ich bleiben kann, ist mir kribbelig unwohl geworden und ich habe krampfhaft aus dem Fenster geschaut. Ein neues Gefühl, naja, man lernt nie aus.

Und danach zu meiner stellvSL und ein bisschen die Lerngruppen und Aufgaben im nächsten Jahr sondiert, und ich muss wirklich die scheiß Fröhlichkeit aus meinem Gesicht etwas verloren haben, denn als ich mit ihr über symmetrisch und gleichmäßig im Schrank ausgerichtetes Geschirr herumgenerdet habe, meinte sie "Nun lach' doch mal", und mir ist erst in jenem Moment aufgefallen, wie beschwert ich in der letzten Zeit in der Schule unterwegs war. 

Kann jetzt alles wegfallen. Und ich in die Ferien, und Anfang nächster Woche mache ich endlich dieses verdammte Archiv fertig! ;-)

KOMMT GUT IN DIE FREIE ZEIT!

post scriptum: Und heute gibt es das Staffelfinale "Stranger Things" - vier Stunden, ich bin gespannt!

Donnerstag, 30. Juni 2022

Gelassen


Ich hatte ja sowas von keine Lust auf heute. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich immer noch auf einem riesigen Sportfeld, ich etwa dreizehn Jahre alt, die pralle Sonne brennt runter, es gibt keine Schattenplätze, Mittagshitze, und es dauert ewig. Handballturnier. Eines der schlimmsten (leider wiederkehrenden) Events meiner Kindheit, ich schwitze, ich möchte nicht, ich hab Angst, abgeworfen zu werden, mein Kreislauf kollabiert, ich sehe weiße Sterne.

Genau das habe ich für heute kommen sehen, aber nützt nix, ich bin für "meine" Sieben A dort, Aufsicht und anfeuern bei'm Fußballturnier des siebten Jahrgangs. Wie passend, dass mir gestern der neue Logiktrainer in's Haus geflattert ist (war eine wunderbare Idee, ihn zu abonnieren, ich habe massenhaft Rätsel, um die Zeit totzuschlagen). Und ich kannte den Sportplatz bisher noch nicht, aber er ist eigentlich echt gut, komplett von hohen Bäumen umgeben, es gibt Schattenplätze und einen angenehmen Wind.

Und so habe ich einen entspannten Vormittag verbracht, Kids zugejubelt, toll, zwei der Extrapreise gingen an die A. Rätsel gelöst, mit einem Schüler über The Talos Principle herumgenerdet und als Quittung jetzt doch einen Sonnenbrand eingeheimst. Ich hatte Sonnencreme mitgenommen, aber nicht benutzt, weil ich voll in the zone war und nicht daran gedacht habe. Jetzt gibt es ein kaltes Ölbad, das hilft ungemein, denn: Sonnenbrand plus Neurodermitisschub ist eine Tortur. Pure Folter.

Aber ich kann das alles gelassen hinnehmen, denn ich habe eine Perspektive.

Mittwoch, 29. Juni 2022

Vielleicht ein bisschen schlauer


Und damit geht die diesjährige Projektwoche zu Ende. Ich habe ein paar sehr interessante neue SchülerIn kennengelernt. Wie auch schon an der Berufsschule finde ich es toll, Menschen im Kurs zu haben, die sich wirklich für Filme interessieren. So kann man ein wenig herumnerden und bekommt auch selbst neue Impulse. Und natürlich freut es mich immer wieder, einen neuen Schüler on the spectrum zu treffen.

Wir haben eine bunte Filmauswahl geschaut, diskutiert, und wie das Tafelbild zumindest in Ansätzen zeigt, sind wir zu der Feststellung gekommen, dass die Frühzeit des Films sich eigentlich noch nicht um Vielfalt geschert hat; Tod Brownings Freaks (1934) war da schon eine echte Ausnahme. Auf der anderen Seite werden heutzutage nicht nur noch vielfältige Filme produziert, es gibt immer noch Filme wie It Follows (2014), die minimalistische Züge aufweisen und vielleicht auch gerade wegen ihrer Einfachheit gut wirken. Dieser Film hat übrigens (nicht zuletzt wegen des offenen Endes) eine interessante Diskussion in Gang gesetzt - ich werde ihn definitiv in meinen Schulkanon aufnehmen, als coming of age-Film, der gleichzeitig nochmal als Warnung vor AIDS verstanden werden darf.

Allerdings bin ich nicht zufrieden mit meiner Planung. Das war am Ende nicht rund, und ich hätte definitiv mehr Zeit investieren sollen - wobei vermutlich nicht die Zeit das Problem war, denn ich habe sehr viel über diese Projekttage nachgedacht. Ich hätte mein Konzept doch lieber umfangreich verschriftlichen sollen, dann hätte ich ein paar Stolperfallen bemerkt.

Trotzdem hat es mir Spaß gemacht, und ich hoffe, die SchülerIn sind vielleicht ein bisschen schlauer aus dem Projekt gegangen. Sie sind jetzt definitiv Experten im Bechdel-Test, und ich könnte mir gut vorstellen, dass sie in Zukunft mehrere Filme hinsichtlich ihrer Repräsentation von Frauen abklopfen werden. 

Morgen Sportfest. Not my cup of tea, aber ich werde meine Siebener beaufsichtigen und anfeuern, und vielleicht finde ich ja einen Schattenplatz.

Die Ferien nahen!

Montag, 27. Juni 2022

Stuhlkreis For Breakfast & Meltdown vor der Klasse


vorweg:

Freitag, 24.06.2022, 18:04 Uhr

Wie fange ich nur an? Wo? Kopf. Gegen Außenwelt abschirmen. Shutdown, nur ich, nur Musik, nur denken.

20:46 Uhr:

Sehr schönes period drama (siebzehntes Jahrhundert England, post-Cromwell, Thema Emanzipation der Frau) angeschaut, hat geholfen, den Kopf etwas runterzubringen ("Fanny Lye deliver'd", 2019). Bin aber immer noch prä-Meditation, Bad wartet, kaltes Wasser dürfte gegen den Neurodermitisschub helfen. Wird definitiv The Orb werden, gleich.

23:28 Uhr:

Ich muss zuerst ein paar Menschen von heute kurze Nachrichten schicken, Verhalten erklären, Rückmeldung zum Projekttag schicken blablabla. Der Blogeintrag muss warten (wobei der Insider natürlich weiß, dass der Eintrag parallel im Kopf bereits geschrieben wird).

Samstag, 25.06.2022, 12:57 Uhr:

Geschlafen bis jetzt trotz 30°C in der Wohnung die ganze Nacht über. War wohl nötig. Jetzt erstmal "Frühstück" und Google News. Ich sehe das schon kommen: Ich werde den eigentlichen Blogartikel, den Account vom Freitag inklusive meiner Zukunftsperspektive erst morgen tippen. Passt schon, in meinem Kopf schreibt er sich bereits voran, und die Hausarbeit für das zweite Staatsexamen habe ich auch am letzten Abend vor Abgabe runtergeschrieben. Erstmal richtig wachwerden, mit Otts Skylon als sanftem Begleiter - geht nichts über etwas Dub am Morgen. Mittag. Whatever.

13:45 Uhr:

Und dann fällt "Roe". Und dann gibt es mal wieder ein Attentat auf einen schwulen Club, diesmal in Oslo, zwei Tote. Alles weit weg von hier, aber das erschüttert mich. Einmal raus, in die Stadt gehen, ich brauche Luft, und lese Lois Duncans "Gallows Hill" weiter, um den Geist durchzulüften.

19:00 Uhr: 

Ich zerfließe, aber Therapie ist parat. Interessant, wie mein Gehirn einen Eintrag zur Massenhandtuchwäsche schreibt (ist in einer Dachgeschosswohnung nötig) und gleichzeitig weiter den wirklich wichtigen Beitrag im Hintergrund tippt. Es ist irre, was das menschliche Gehirn alles leisten kann!

23:11 Uhr: 

Und jetzt die Ankündigung, dass "Obergefell" kippen wird - damit wird die Ehe für alle in den USA wieder Geschichte. Grauslig. Einziger Lichtblick gerade die Erkenntnis, dass dieser ganze Tagebuchkram als Metaebene in einem vorweg: kursiv gesetzt wird und ich endlich den eigentlichen Beitrag beginnen kann.


Freitagmorgen. Um halb sechs klingelt der Wecker, ich habe nur vier Stunden geschlafen, aber eine Koffeintablette macht mich arbeitsfähig. Heute lese ich mal keine News direkt nach dem Aufstehen, sondern schaue, ob mein Tagesplan immer noch steht: Acht bis Dreizehn Uhr erster Projekttag Vielfalt im Film, Vierzehn Uhr Abschiedsfeier der MSA-Kids, dann schnell nach Hause: DrS, mein Psychiater in Neumünster hat mir ein Zeitfenster von Dreizehn bis Sechzehn Uhr angeboten für ein Telefonat. Ich habe Panik, und ich bin aufgeregt, und ich fürchte, dass ich nach den ganzen Schulsachen mich doch wieder um das Telefonat drücken werde.

Aber gerade deswegen hat er mir ja vorgestern noch eine zweite Nachricht geschickt, in der er meine Telefonangst anerkennt und mich ermutigt, es trotzdem zu tun, und ich könne gar nichts falsch machen, im Gegenteil, wenn, dann sei er es, der etwas falsch mache, wenn er nicht die richtige Hilfe und Auskunft gebe. Whatever, compartmentalizing, das kommt später. Jetzt den Bluray-Player einpacken, und die Filmtasche, alle sechsunddreißig Filme sind drin. Ach so... sollte ich den Ablauf des Projekttags vielleicht noch einmal aufschreiben? Ich mache es, zur Beruhigung, aber eigentlich habe ich alles im Kopf.

Wo ist nur die Schachtel mit den name tags and clips, ich wollte mir doch so ein schönes Namensschild zurechtbasteln, nachdem ich den Schülern das am Dienstag aufgegeben hatte. Scheiße. Ich kann sie nicht finden, und da hilft es auch nicht, die gleiche Suchroute in der Wohnung dreimal abzugehen. Vielleicht liegen sie im Auto. Zeit läuft weg, Aufbruch.

Projektgruppe ist vom Tag der Vorbesprechung ein wenig geschrumpft, aber sie sehen alle startbereit aus. Sollte eigentlich mit einem Stuhlkreis beginnen, aber sie haben sich schon anders hingesetzt, whatever. Zick zack, Vielfalt, Mind Map, machen wir mal eine Timeline an's Whiteboard, notieren bahnbrechende Filme in Sachen Technik. Beide Freaks-Filme geschaut, SchülerIn brauchten nicht lang, um zu bemerken, dass die "normalen" in den Filmen negativ wirken aufgrund ihrer Abneigung gegenüber den Andersartigen, passt. 

Dazwischen halbe Stunde Frühstückspause. Wie es nun mal ist, gehen die meisten zu Rewe, das ist eine Tradition an dieser Schule. Irgendwie werde ich das vermissen, SchülerInnen zu begegnen, die heimlich in der großen Pause in den Supermarkt wollen, obwohl sie noch in der Sek I sind, und sie zurückzupfeifen. Wir bleiben zu dritt im Raum, mein Autist aus Neun, ein weiterer Schüler und ich, und wir reden ein bisschen über Autismus und so ganz nebenbei finde ich heraus, dass auch der zweite Schüler im Raum Autist ist, und so nerden wir ein bisschen rum über die Vor- und Nachteile einer frühen Diagnose. Ja, es gibt Nachteile. Nicht jetzt, nicht hier. Viel wichtiger bleibt mir im Kopf hängen, dass ich nicht der Einzige im Raum bin, der in seiner Kindheit fasziniert der Waschmaschine zugeschaut hat. Rain Man. Das scheint echt ein Klassiker zu sein.

Ich könnte mit den beiden noch weiter über Autismus reden, das ist so wunderbar entspannt, endlich mal darf ich davon ausgehen, dass meine Gesprächspartner das meinen, was sie sagen, und muss da nicht viel grübeln. Echt erleichternd. Vielleicht sollten wir eine autistische Gesprächsrunde in der Schule einrichten.

Whatever, geht jedenfalls weiter im Programm, und dann muss ich ihnen nur noch die Filmtasche zeigen und dann können sie sich ihre Filme

"DU! JETZT! ZUM CHEF!"

Was macht die kleine Hummel hier? Ich kann nicht jetzt

"LOS! NICHT DENKEN!"

"Das ist scheiße, das ist richtig scheiße gerade", fahre ich sie vor der Gruppe an.

Gedankenzüge entgleisen, was mache ich hier, ich gehe mit der Hummel in den Verwaltungstrakt und sie erklärt mir auf dem Weg, dass er mich an der Schule behalten möchte. Dass ich bleiben kann. 

Ich bin absolut überfordert, weiß gar nicht, wie ich diese Info verarbeiten soll, die Hummel setzt mich auf die Wartebank vor'm Chefbüro. Ich werde reingerufen, und tatsächlich. Ich kann ein Jahr verlängert werden, ich kann das kaum begreifen und werde gefragt, ob ich wohl ein weiteres Jahr an der Schule bleiben möchte, äh, ja? Nur noch warten bis Montag, dann wissen wir, ob alle Ampeln grün sind, aber das wird klappen.

Ich gehe mit einem Gefühl von frei zurück zu meinen Leuten, die letzte Stunde des Projekts erlebe ich wie in Trance, der Kopf längst nicht mehr bei Vielfalt im Film. Ende, raus auf den Schulhof, durchatmen. Es ist unglaublich heiß, und ich freue mich schon auf meinen Backofen äi käi äi Wohnung. Ich muss noch eine Stunde warten für die Abschiedsfeier, aber ich will meine Kids unbedingt mal in schick sehen. 

Und schick erscheinen sie. Wow, ich erkenne meine SchülerInnen kaum wieder! Ein Schüler mit wehenden Haaren und Sakko wie ein polnischer Pianist, eine Schülern mit Make Up, ondulierten Haaren und Kleinem Schwarzen sieht auf einmal total erwachsen aus, ich kann mich gar nicht satt sehen an diesen jungen Menschen, die plötzlich so etwas wie Seriosität zeigen. Ich genieße die Feier, die Vorträge und alle schwitzen, es sind gefühlt vierzig Grad in der Banane und der Blick wandert immer wieder zur Uhr, vierzehn Uhr dreißig, ich würde gern die Zeugnisübergabe sehen, aber ich muss aufbrechen.

Das Zeitfenster für das Telefonat mit DrS ist nämlich nicht unendlich groß. Ab nach Hause, fünfzehn Uhr. Ich habe einen Job. Bilder von der Verabschiedung. Alles kreist im Kopf und ich rufe leicht panisch DrS an, den ich vorher noch nie gehört habe und ich weiß gar nicht, wie dieses Gespräch werden wird und hoffe, er führt mich da gut durch.

Tut er. Wir sprechen knapp fünfzig Minuten, in denen mir bewusst wird, dass ich endlich ernst genommen werde. DrS lässt mich aus meinem EGO-Buch vorlesen, alles Mögliche an Verhaltensauffälligkeiten und er sagt, dass da schon einige sehr eindeutige Dinge dabei sind, und dass er mich gern als Patienten aufnehmen möchte. Ist allerdings nicht so leicht, ambulant ist er ausgebucht wie so viele andere auch, nicht wahr, Brit Wilczek, die mir in diesem Gespräch schon wieder über den Weg läuft. Was nützt mir eine ganz tolle Frau, wenn sie keine Zeit für mich hat. Aber DrS ist dran an der Sache und wird versuchen, einen Stationsplatz für mich zu bekommen. Das könnte alles etwas zeitaufwändig werden, könnte aber auch schon nach einer Woche abgeschlossen sein. Wir verabreden uns für Mitte August, dann kann er mir vielleicht sagen, ob eine freie Stelle aufgetaucht ist. 

Telefonat beendet. Noch mehr Leichtigkeit. Ich fange an zu heulen, vor Freude, weil plötzlich alles weitergeht. Ich kann ein weiteres Jahr an der Toni bleiben, und ich habe einen Psychiater in Neumünster, der nach einem Platz für mich sucht (passt gut, dass er Oberarzt einer Fachklinik dort ist), auch wenn ich Kieler bin und der Einzugsbereich eigentlich Neumünster ist. Die Projektwoche ist gestartet. 

Tausend Gedanken verschmelzen zu einer Art Sturm im Kopf, ich brauche eine gründliche Meditation. Soll ich darüber heute im Blog schreiben? Dafür reicht die Zeit nicht, das dürfte ein etwas längerer Eintrag werden. Aber worauf warten? Okay, ich fange definitiv heute an mit einem Blogeintrag darüber. Erstmal nur stream of consciousness. Wie fange ich nur an?

Freitag, 24.06.2022, 18:04 Uhr:

Wie fange ich nur an?

Donnerstag, 9. Juni 2022

Der letzte Zaubertrick


Heute war die letzte Stunde in meinem Englischkurs im siebten Jahrgang, in der wir Are You Afraid Of The Dark? geschaut haben. Perfektes Timing: Es war die letzte Episode der zweiten Staffel, diesmal ging es um einen Zauberer, der einen Nachfolger für sich gesucht hat. Genau wie geplant haben wir also zwei Staffeln der Teenie-Gruselserie in einem Schuljahr geschaut, jeden Donnerstag eine Folge mit ein, zwei Ausnahmen.

Und es hat funktioniert; die Schüler haben die Midnight Society kennengelernt, die Gruppe Teenager, die sich jede Woche am Lagerfeuer trifft, um sich unheimliche Geschichten zu erzählen. Das hatte Wiedererkennungswert. Auch das Bewertungssystem war aufschlussreich - nicht wirklich überraschend, aber jetzt habe ich es mal schwarz auf weiß erlebt: Die Episoden, die ich richtig großartig finde - aufgrund ihres Plots, aufgrund ihrer warnenden Botschaften - sind bei den Kiddies eher mittelmäßig gut angekommen. Besser waren die leicht verdaulichen Folgen mit oberflächlicherem Charme; warum haben Teenager es immer mit unheimlichen Clowns? Warum fahren sie so darauf ab? Und Episoden, die total durchgeknallt sind und inhaltliche Anschlussfehler haben: In dem Alter schauen viele Schüler darüber hinweg, das wird nicht wahrgenommen.

Ich bleibe bei dieser "Unterrichtsmethode", und bleibe dabei, dass das für die Jahrgänge Sieben, Acht und Neun wunderbar geeignet ist. Pures Sprachbad, Englisch, keine Untertitel, und Fragen und Antworten zwischendurch natürlich auch einsprachig Englisch. 

Jetzt stehe ich allerdings vor einem Problem: Die SchülerInnen haben mich gefragt, ob wir auch mal einen "richtigen" Horrorfilm schauen könnten. Und ich Idiot habe zugesagt, ich habe ihnen versprochen: "Bevor ich euch als meine Schüler abgebe, schauen wir einen klassischen Horrorfilm zusammen" - ich verspreche Schülern sonst nie etwas, auch generell nie, weil ich weiß, dass ich es aufgrund meiner Verpeiltheit nicht halten kann. Und ich bin davon ausgegangen, dass ich diesen Englischkurs in den nächsten Jahren weiterführen werde - so dass in meinem Kopf dann ein Horrorfilm am Ende der zehnten Klasse stand, wenn sie sechzehn sein würden.

Daraus wird nichts. Also sondiere ich morgen mit ihnen zusammen mal meinen Kopf nach einem familienfreundlichen Horrorfilm. Davon gibt es einige, und ein paar davon sind gar nicht so schlecht. The Babadook? A Quiet Place? Poltergeist? Ich schaue mal, dass ich etwas finde, was sie mit einem Grinsen nach Hause gehen lässt.

Diese Schüler nach zweieinhalb Jahren abgeben zu müssen... das trifft in's Herz.

Freitag, 22. April 2022

Too Much (Good Hair Day)


Dr Hilarius: Gutartig! :D Ich kann ab morgen wieder in die Schule! Darauf muss ich jetzt nochmal in's Bett, ich habe nur vier Stunden geschlafen (...)

Die große Buba: Huch! Damit hab ich nicht gerechnet, das ist ja .... Huch

Dr Hilarius *sinngemäß*:  Ich verstehe Deine Antwort überhaupt nicht.

Da hätten wir mal wieder einen dieser Fälle, in denen ich nicht verstehe, was die große Buba mir mitteilen will. Netterweise hat sie es mir erklärt: Sie war überrascht, dass ich so freudig släsch gelassen mit der Nachricht des Arztes umgehe, dass alles in Ordnung ist - ich hatte nämlich aufgrund der Ähnlichkeit der Symptome damit gerechnet, dass ich wieder für einige Wochen ausfalle, und hatte auch fast schon im Geiste meinen Fernunterricht vorbereitet. Und eigentlich ist es für einen Aspi doch völlig überfordernd, wenn dann plötzlich alles anders kommt, und eigentlich braucht er dann doch erstmal Zeit für sich, um das zu verarbeiten.

Recht hat sie natürlich! Aber ich war gestern total glücklich, dass alles okay ist und ich heute wieder in die Schule gehen konnte und, wie das freitags bei mir ist, all' meine Schüler wieder sehen konnte. Die Überforderung kam heute. Und das noch vor dem Anruf bei'm Psychologen.

Ich habe meinen Schülern gesagt, dass ich mich riesig freue, sie wiederzusehen - weil das wirklich so ist. Ich habe mich einfach wunderbar dabei gefühlt, wieder vor ihnen stehen zu können. Ich will wirklich an diese Schule kommen. Und zumindest ein großer Teil der Schüler will das auch, egal, wie nervig ich bin. Und diese Erkenntnis hat mich heute nach der vierten Stunde überrollt, wie eine Flutwelle aus Emotion. In meinem Kopf der Gedanke "Ich muss an diese Schule kommen". 

So funktioniert das Aspi-Gehirn: Mir ist die Sachlage klar - wenn keine Stelle zur Verfügung steht, und keine freien Stunden, dann muss ich die Schule verlassen. Und trotzdem kann mein Gehirn nur auf dieser Einbahnstraße "Ich muss an diese Schule" denken. Dann tun solche Sätze weh wie "Du solltest dich seelisch drauf vorbereiten, dass du gehen musst" oder "Denk dran, dass es vielleicht nicht klappt" oder "Häng' dich doch jetzt nicht zu sehr rein". Denn all' das kann ein Aspi nicht. Umdenken. Neu planen. Whatever, ich schreibe mich hier gerade down the rabbit hole, aber es illuminiert, wie der Tag für mich gelaufen ist.

Und dann versteht man vielleicht auch (nicht), warum ich den Psychologen um einen Gesprächstermin in der nächsten Woche bitte.

Es ist einfach zu viel. Ich bin ein visueller Typ - allein das Aussehen einiger Schülerinnen und Schüler hat mich heute umgehauen. Ein Schüler, der sich die Haare länger wachsen lässt - und das sieht sogar cool aus! Schülerinnen, die zum ersten Mal mit Make-Up arbeiten. Ich möchte all' diese Jugendlichen unbedingt weiter auf ihrem Weg begleiten!

Nur ein Schultag. Nur drei Stunden. Aber alles zuviel. 


Meditation

Mittwoch, 16. Februar 2022

LGBTQ-Angebote an Schulen

Auch mal die Regenbogenseite beleuchten

In Amerika ist gerade in einem Bundesstaat ein Gesetz verabschiedet worden, das spöttisch "Don't say gay-bill" genannt wird. Es beschließt, dass bestimmte Themen im Schulunterricht nichts zu suchen haben - einfach ausgedrückt: Lehrerzensur. Nicht über Rassismus reden, nicht über Homosexualität reden. Ein weiterer Nagel in meinem Sarg der Auswanderung in die USA.

Aus diesem Anlass habe ich mich gefragt, ob wir eigentlich an unserer Schule ein Angebot für Mitglieder der LGBTQIA+-Community haben. Das wäre doch mal etwas, was man starten könnte: Ein wöchentliches Angebot, vielleicht eine Art Redekreis, jedenfalls ein Ort, an dem Schüler und Lehrer in einem geschützten Umfeld offen über alles reden können, was mit LGBTQ zu tun hat. Wenn ein schwuler Lehrer und eine lesbische Lehrerin dabei sind, wenn wir zur Unterstützung vielleicht auch die Schulsozialarbeit in's Boot holen könnten, das wäre super!

Ich würde den Jugendlichen einfach gern eine Möglichkeit geben, über das Thema zu reden. Ich möchte einem heterosexuellen Schüler seine Homophobie nehmen können. In der Schule eine Gay-Straight-Alliance aufbauen... Schüler unterstützen, die ihre Trans-Identität nach und nach entdecken... und als Schule ein Zeichen zu setzen, ihnen zu signalisieren, dass sie OK sind, so wie sie sind. In Gus Van Sants Elephant (2003; anlässlich des Columbine High School massacre gedreht, bei dem genau dieses Thema eine Rolle gespielt hat) wird eine solche Gruppe an einer amerikanischen High School gezeigt, und ich fände es toll, wenn das auch bei uns ganz selbstverständlich sein könnte.

Habt Ihr an Euren Schulen ein solches Angebot?

Mittwoch, 9. Februar 2022

Die Crux des Aspi-Bloggers


Ich muss umdenken. Es ist schade, dass mein Blog den Schulleitungen mehr Stress als nötig bringt, das war bisher an allen Schulen so. Da melden sich zum Beispiel besorgte Eltern, die nachfragen, ob Dr Hilarius vielleicht ein Neonazi sei, weil er einen Artikel über Leni Riefenstahl geschrieben hat. Natürlich wurde der Text nicht gelesen, sonst hätte es überhaupt keinen Grund zur Sorge gegeben. Es reicht, wenn Menschen sehen, aha, dieser Lehrer postet ein Bild von einem Nazi. Ob er womöglich selbst Nazi ist?

Ich kann nichts für die Dummheit der Menschen, und es tut mir unendlich leid, dass die Schulen immer wieder mehr Arbeit als nötig haben, die Eltern zu beruhigen.

Allerdings ist es nicht immer nur Dummheit, die die Menschen zu Vorverurteilungen führt. Es ist auch ein Klassiker dabei, das ganz normale Missverständnis. Missverständnisse sind einer der Hauptgründe, warum ich in meiner Freizeit nur wenig mit anderen Menschen mache. Keine soziale Interaktion bedeutet kein Missverständnispotential. Sehr entspannend, gerade wenn man sich Jahrzehnte lang einreden lässt, dass man selbst Schuld daran hat.

Die Missverständnisse resultieren sehr oft daraus, dass ich die Dinge so sage und schreibe, wie ich sie meine. Da ist kein Subtext dabei; you can take my words at face value, sagt man im Englischen. Das ist typisch Aspi: Die Dinge wörtlich meinen und auch wörtlich verstehen. Bei meinen Blogeinträgen ist nichts zwischen den Zeilen zu lesen - zumindest nichts beabsichtigt. Viele Menschen haben aber die Neigung, überall Dinge hineinzuinterpretieren, und das ist für einen Lehrer-Blogger ein Problem: Die potentiellen Leser kennen mich nicht, wissen nicht, dass ich die Dinge genau so meine, wie ich sie schreibe. Und oftmals wollen die Eltern etwas finden, was mit mir nicht stimmt - das ist leider Realität. Also interpretiert man etwas in die Beiträge hinein und wendet sich mit seinen Sorgen an die Schulleitung.

Und trotzdem möchte ich unbedingt am Blog festhalten, weil das eine der grundlegenden Hilfen für mich gewesen ist, seitdem mein Leben bergab gerutscht ist. Ich sollte in Zukunft besser keine Geschichten aus der Toni erzählen, egal, ob das frei verfügbares Wissen ist. Ich finde das sehr schade, weil ich gern über Unterrichtssituationen und Pädagogik schreibe. Ich werde versuchen, das in Zukunft allgemein, ohne Bezug zu realen Situationen zu schreiben. Kann sein, dass ich das nicht schaffe.

Time will tell.