Mittwoch, 10. Juni 2020

Special Interest


"[Aspergers] have remarkable ability in a chosen area of expertise. (...) The special interest is more than a hobby and can dominate the person's free time and conversations. (...) We know that the amount of time and resources dedicated to the special interest can cause considerable disruption to the daily life of the person with Asperger's syndrome. (...) The interest is often a solitary and intuitive activity, pursued with great passion (...) 'Facts are important to us because they secure us in what is otherwise a very unstable world' (...)
The third most common interest is public transport systems. This can include memorizing all the stations on a subway system (...) [and modern] interests in computer games and Japanese animation as well as science-fiction films.
[A child with AS] visited a theme park and was taken on his first roller-coaster ride. The emotional experience of acceleration and falling was extremely exhilarating for him and he insisted that he spent most of the day at the front of the roller coaster, screaming, not with fear but pleasure. (...) He subsequently developed a special interest in roller-coaster rides and, when we met, gave me a fascinating and detailed 'lecture' on the history and different types of roller coasters. He was only eight years old."

(Attwood, Tony: The Complete Guide to Asperger's Syndrome, London 2007, S.184-195)


Angefangen hat es am vergangenen Freitag.

Eigentlich ein ganz normaler Tag, an dem ich gerade in einem Videospiel versunken war, als es an der Tür raschelte und klapperte - der Postbote hat einen Luftpolsterbrief eingeworfen, und ohne draufzuschauen war mir der Inhalt klar. Es hat gute fünf Wochen gedauert, bis die Bluray von The Haunting of Hill House (2018) aus den USA ihren Weg zu mir gefunden hat. Etwas umständlich, aber es musste sein: Ich war bereits total begeistert von der Serie, als ich sie mir mehrfach bei Netflix angeschaut habe, allerdings ist es ein bekanntes Problem, dass das Bild bei Netflix etwas dunkler ist als ursprünglich gefilmt. So kommt es vor, dass in dunklen Szenen überhaupt nichts zu sehen ist, obwohl eigentlich zumindest Silhouetten erkennbar sein müssten.

Bei einer Serie, die im Bereich des gothic horror spielt, kann das problematisch sein, denn viele Szenen spielen des Nachts, in dunklen Räumen, in denen sich plötzlich Dinge bewegen oder Geister erscheinen. Ärgerlich, wenn man das als Zuschauer nicht sehen kann, und deswegen wollte ich ein physical release der Serie haben. Das war leider nur per Import zu erhalten. Nun ja, denke ich mir, ich kann mir ja einfach mal die erste Episode anschauen, allein schon um zu sehen, ob es tatsächlich Unterschiede hinsichtlich des Bildes gibt.

"Unterschiede" ist leicht untertrieben - es hat sich angefühlt, als würde ich eine völlig neue Serie entdecken, mit brillanter SHD-Qualität und wunderschöner Musik im Surroundsound. Genau das hatte ich mir so sehr gewünscht, und damit hat mein Aspi-Heaven begonnen; es ist nämlich an diesem Wochenende so Vieles zusammengekommen.

Meinen ersten Kontakt mit Shirley Jacksons Roman von Neunzehnhundertneunundfünfzig hatte ich während meiner Schulzeit in der Oberstufe. Ich wollte einen gruseligen Film sehen, der nicht eklig ist, kein Splatter, keine fliegenden Körperteile und so weiter (das hat dann später zu meiner Projektarbeit geführt, in der ich untersucht habe, wie ein Film Spannung erzeugen kann). Die Fernsehzeitung hatte mir Bis das Blut gefriert (1963) empfohlen. Ich kannte den Originaltitel nicht, wusste nicht, dass es sich um eine Romanverfilmung handelt, das war alles irrelevant, aber das Filmerlebnis hat sich mir eingeprägt, denn das war wirklich unheimlich.

In den folgenden zwanzig Jahren habe ich mich dann wieder und wieder mit dem Roman The Haunting of Hill House beschäftigt. Ich habe mich über Shirley Jackson informiert, ich habe fast all' ihre Werke gelesen, ich habe mir die zweite Haunting-Verfilmung angesehen (vom Regisseur Jan de Bont, 1999), ich bin über die berühmte Kurzgeschichte The Lottery gestolpert und Jackson hat einen festen Platz in meinem Literaturherzen gefunden.

Nun kann man vielleicht nachempfinden, was für ein Gefühl von Glück es in mir auslöst, wenn ich mir diese Serie in perfekter Bild- und Klangqualität anschauen kann. Und dann kam da dieser Moment... manchmal, wenn ich einen Film richtig beeindruckend finde, informiere ich mich über den Regisseur. Okay, fast immer. Und der Regisseur der neuen Haunting-Verfilmung ist Mike Flanagan, offensichtlich einer der wichtigsten Regisseure der Horror-Gegenwart. Ich habe dann das ganze Wochenende und die folgenden Tage bis gestern damit verbracht, mir seine Filme anzuschauen (von denen ich drei schon kannte, aber nicht realisiert hatte, dass es Flanagan-Filme sind); sein Frühwerk hat mich besonders interessiert, und wer mal einen Geschmack für ihn bekommen möchte, dem empfehle ich den Kurzfilm Oculus Chapter 3: The Man With The Plan (2006), der auf Youtube frei verfügbar ist und etwa eine halbe Stunde läuft.

Während dieser Tage ist mein Horrorherz richtig warm geworden, Dinge wie Essen oder Zeugnisberichte sind in den Hintergrund gerutscht, ebenso wie Kontakte zu Freunden. Ich denke, dass es genau dieses Verhaltensmuster ist, was Tony Attwood im obigen Zitat beschreibt: Mein Spezialinteresse, besonders mit neuem Öl in's Feuer, lässt alles Andere in den Hintergrund rücken. Das mag auch bei Menschen ohne Behinderung auftreten, aber selten so, dass dadurch die Tagesroutine durchbrochen wird und notwendige Dinge vernachlässigt werden.

Das sind dann die Phasen, in denen es heißt "Man hört und sieht ja gar nichts von dir!" - und das tut mir wirklich Leid, aber zur Beruhigung kann ich dann sagen, dass es nicht daran lag, dass es mir schlecht ging, sondern dass ich mich im Aspi-Heaven befunden habe.

Es gibt wesentlich Schlimmeres.

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