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Montag, 7. Juli 2025

War da nicht mal eine Tür?


Mike Flanagans brilliante 2017er-Verfilmung von Shirley Jacksons The Haunting of Hill House hat einen kreatven Vorspann mit einem Bild, das sich bei mir eingebrannt hat: Der Grundriss des Hauses wird gezeigt, wobei die Wände und Türen sich immer wieder verschieben, neue Gänge formen und neue Blockaden bilden. Wer das konkret sehen möchte, kann sich unten den Vorspann anschauen.

Dieses Bild bin ich heute morgen nicht mehr aus dem Kopf losgeworden, als ich auf dem Weg zu meinem Psychiater war. Ich habe ihm das auch gesagt: Es hat sich für mich angefühlt, als ob ich die letzten vier Male immer einen anderen Weg vom Hauseingang zur PIA gehen musste - das ist ein ordentliches Stück zu laufen - und es ist auch tatächlich so. Und dann sehen die Wände plötzlich anders aus, und wo ich sonst nach rechts musste, sollte ich links abbiegen und und und... und tatsächlich jedesmal ein neuer Weg, und mein Arzt hat mir bestätigt, dass das nicht nur mein Eindruck ist, sondern dass es tatsächlich momentan so abläuft. 

Dazu kamen dann auf dem Weg vom Bahnhof zum Krankenhaus noch einige Baustellen auf dem Großflecken und dem Haart und ich hatte phasenweise ein bisschen Angst, einen neuen Weg gehen zu müssen und mich dann zu verlaufen wie bei'm ersten Mal. Aber das hat zum Glück alles geklappt, und es hat sich gelohnt, denn ich konnte einiges von meiner Seele loswerden. 

War also ein erfolgreicher Tag! 


 

Freitag, 23. Mai 2025

Stigmatisiert: Die Psychiater


Der Titel sagt es ja schon - nur hätte ich ihn besser als Frage formulieren sollen. Etwas in der Richtung "Warum werden Psychiater eigentlich so oft stigmatisiert?"

Warum spricht man nur hinter vorgehaltener Hand darüber, dass man zum Psychiater geht? Warum schaut man auf andere Menschen herab, die regelmäßig ihre Termine in der Psychiatrie wahrnehmen müssen? Warum geht so oft eine Gedankenkette an: "Psychiater = Seelenklempner =  mit dem Patienten stimmt etwas nicht = ich sollte mich lieber fernhalten"?

Ich denke mir das nicht aus - ich zitiere gern wieder eine Situation aus meiner allerersten Schule, ich bin noch Nulltsemester, stehe zusammen mit Kollegin A-Ha im riesigen Lehrerzimmer und sie stellt mir das Kollegium der Schule ein wenig vor. Total nett von A-Ha, dann fühle ich mich dort nicht ganz so fremd. Was mir damals noch gar nicht auffällt: Sie unterteilt in ihrer Beschreibung die KollegInnen in "Super nett, die helfen dir immer weiter, mit denen kannst du jederzeit sprechen" und in "Von denen solltest du besser die Finger lassen, großen Abstand halten, die sind nicht gut für dich, die haben selbst genug Probleme."

Ich habe das damals, vor dreizehn Jahren, tatsächlich nicht gemerkt und hatte auch keinen Sinn dafür, was für eine unmögliche und gemeine Art das ist, dem neuen Kollegen die Anderen vorzustellen. Dabei erwähnte A-Ha dann auch "Ah, da vorne, von der würde ich die Finger lassen. Die muss jeden Tag Antidepressiva nehmen, das ist eine ganz arme Person."

Rückblickend war das ein absolutes No-Go, aber es ist genau das, was passiert: Es ist kein Problem, zuzugeben, dass man Ibuprofen gegen seine Migräne nimmt, oder Clonidin als Blutdrucksenker oder Warfarin als Blutverdünner. Das ist eben so. Aber fragt Euch mal selbst: Wie viele Menschen haben Euch schon erzählt, dass sie ein Antidepresssivum (AD) nehmen, jeden Tag, Woche, Monat, vielleicht seit Jahren, vielleicht für immer? Man wird da gleich in eine Ecke geschoben.

Ein einziger Mensch in meinen einundvierzig Jahren hat mir offen von seiner AD-Verschreibung erzählt. Ich fand das sehr spannend, und als er gemerkt hat, dass ich ihn deswegen nicht verurteile, hat er mitr alles über die Sonnen- und Schattenseiten berichtet, und am Ende meinte ich zu ihm, dass es total super ist, dass es ADs gibt, die einem manchmal wirklich den Tag retten können. T, so hieß das Medikament abgekürzt, das er bekommen hat, und es hat aus ihm einen anderen Menschen gemacht. T, so heißt auch das AD, das ich jeden Morgen nehme.

Und ich habe kein Problem damit, über das Kortison gegen die colitis ulcerosa zu sprechen, oder das Metamizol gegen die Kolikschmerzen - aber über das AD rede ich eher selten, und über das Beruhigungsmittel noch seltener, denn sobald es an den Kopf geht, an Probleme mit dem Gehirn, scheinen viele Menschen misstrauisch zu werden und lieber vier Schritte rückwärts auf Abstand zu gehen, so wie A-Ha damals.

Das ist einfach nur shayze.

Vor ein paar Tagen hatte ich wieder meinen regulären Termin bei'm Psychiater. hingegangen bin ich ein wenig gekrümmt, ein wenig lustlos - nach Hause gefahren bin ich aufrecht, mit einem Lächeln und dem Gefühl, dass es alles zwar nicht "un-schlimm" ist mit Colitis und Reflux und Neurodermitis und Autismus, aber dass man sich alles zurechtdrehen kann, dass man damit besser umgehen kann.

Ich bin so stolz auf meinen Psychiater, und auch die Menschen im Wartezimmer haben mehrfach erwähnt, wie toll sie ihn finden. Ja, man muss Zeit mitbringen, manchmal viel Zeit, aber was er dann bewirken kann, ist einfach toll. Und dabei geht es mir nicht in erster Linie darüm, dass ich am Ende ein neues Rezept für meine Medikamente bekomme - es geht darum, dass mir im Büro jemand gegenübersitzt, der mich ernst nimmt und Interesse an meiner Situation zeigt. Kein "Migräne? Ja, ich habe manchmal auch schlimme Kopfschmerzen" oder ähnlicher Schwachfug.

Warum habe ich das Gefühl, ich müsste Angst haben und aufpassen, wenn ich über meinen Psychiater rede? Er kann so viel Positives bewirken und wird trotzdem so stigmatisiert? Whatever, wer meint, auf ihn oder mich herabschauen zu müssen, dem wünsche ich, dass er oder sie nicht selbst in die Position kommt, dass herabgeschaut wird.

post scriptum: Eine Weichflasche mit Flüssigwaschmittel geht in der vollen Einkaufstüte auf. Willkommen im Wochenende, hier brauche ich was, um den Blutdruck runterzufahren...

Freitag, 18. Oktober 2024

Viele gute Nachrichten


Wir sind in den Ferien angekommen. Ist das nicht toll? Erst recht nach dem letzten Beitrag, der klargemacht hat, dass ich komplett durch bin - ferienreif. Total voll mit Eindrücken und total kaputt. Dass die Stunden heute in der fünften Klasse richtig Spaß gemacht haben, rundet den Übergang in die Ferien wunderbar ab.

Dabei war das alles gar nicht so sicher: Am Mittwoch hätte ich eigentlich bei'm Psychiater sein sollen, aber weil mal wieder alles spontan anders gekommen ist als geplant, ist mein Tag zusammengebrochen und ich fast auch. Ich hätte nämlich vom Arzt mein neues Rezept für die Medikamente bekommen sollen, und ich war darauf angewiesen, denn der Donnerstag sollte ein langer Tag mit sehr vielen Menschen und zahllosen Eindrücken werden - da kann es helfen, eine halbe Tablette zu nehmen, damit ich nicht irgendwann komplett dichtmache.

Und weil das also nicht geklappt hat, ist genau das Gegenteil eingetreten, eine ordentliche Panikattacke. Wie soll ich an das Rezept kommen? Wie soll ich den Donnerstag gut überstehen?? Ich war unglaublich erleichtert, nachdem per Mailwechsel sich ein Weg finden ließ, die Medis noch am Abend zu bekommen. Ich war so unglaublich erleichtert, und damit war der Donnerstag kein großes Problem mehr.

Und die nächste gute Nachricht: So wie es aussieht, kann mein Vertrag nach den Ferien bis zum Ende des Halbjahres verlängert werden. Vielleicht mit weniger Stunden - das werden wir sehen. Aber ich bin unglaublich glücklich, denn ich habe mich in diese Schule verliebt und so langsam gewöhnen die Kids sich endlich an diesen komischen Lehrer. Schon wieder ein Lehrerwechsel wäre für sie die absolute Hölle. Also bitte Daumen drücken, dass die Verlängerung so durchgzogen werden kann, wie geplant; ich freue mich über jede weitere Woche an unserer Schule.

Und die (vorerst) letzte gute Nachricht: Die große Buba kommt! Pünktlich zu den Ferien reist sie nach Kiel, und wir haben uns lange nicht gesehen - ich hätte es zwischendurch nervlich nicht geschafft, die neue Schule war zuviel für mich. Es wird wieder Zeit zum Reden, Spielen und Pomsen (jeder möge sich selbst denken, was damit gemeint ist).

Kommt gut in die Ferien, Ihr Lieben!

Montag, 25. März 2024

Besuch bei'm Psychiater und das Stigma


Freitag

Ich nehme so gut wie nie Filmempfehlungen von anderen Menschen an - und davon bekomme ich als Lehrer reichlich von meinen SchülerInnen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich gute Filme liebe. Die meisten Jugendlichen haben in dem Alter noch kein Gespür dafür, was ein "guter" Film ist, weil ihnen die Vergleichswerte fehlen. Also empfehlen sie mir, was sie selbst toll finden. Und das höre ich mir dann höflich an, setze es aber nicht um.

Anders ist es, wenn die große Buba mir einen Film empfiehlt, denn ich glaube, sie gibt sich sehr viel Mühe, mich als Autisten wirklich zu verstehen, und auch zu verstehen, was mir echte Freude bereitet - dafür liebe ich sie, denn das ist ein hartes Stück Arbeit, was auch immer wieder Enttäuschungen mit sich bringt. Und selbst bei der großen Buba brauche ich manchmal sehr lange, bis ich einem Filmtipp auch wirklich nachgehe.

Dass jemand mir einen Film vorschlägt und ich direkt bei'm Nachhausekommen das Teil auf Netflix suche, finde und mir direkt anschaue, sowas gab es bis heute nie. Aber... vielleicht sollte ich am Anfang anfangen, am Beginn eines sehr erleuchtenden, aufregenden Tages, der in mir eine tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit hervorgerufen hat.

Definitiv nicht Zufriedenheit mit der Deutschen Bahn. Denn ich hatte heute um halb zehn morgens meinen Termin bei'm Psychiater, und ich bin auf den ÖPNV angewiesen, und das Deutschlandticket als Chipkarte works like a charm. Also gehe ich heute um viertel nach acht zu Gleis fünf, auf dem der Regionalexpress nach Pinneberg bereit steht.

Ist ja seltsam. Niemand sitzt drin, oder... doch, da hinten sitzt auch jemand. Aber warum stehen noch so viele Menschen auf dem Bahnsteig? Ich könnte natürlich einfach jemanden fragen, aber ich bin Autist und vermeide es, fremde Menschen anzusprechen. Also gehe ich noch einmal zur Tür, schaue draußen auf die Anzeigetafel - aber alles sollte eigenlich stimmen, und so suche ich mir einen Sitzplatz im Untergeschoss in Fahrtrichtung, links am Fenster natürlich. Ich hole meine Logikrätsel heraus und vertreibe mir die Zeit, bis ich sehe, dass die Menschen sich draußen in Bewegung setzen. Sie alle gehen zurück zum Eingang des Hauptbahnhofs, okay, what the ...? Ich bekomme Angst. Werde ich hier jetzt gleich auf ein Abstellgleis gefahren und komme nicht mehr aus dem Zug? Panisch renne ich zur Tür, zwar mit Rucksack, aber meinen schönen Regenschirm von Samsonite hat jetzt die DB. Und ja, ich weiß, es gibt da ein Fundbüro, aber das sind fremde Menschen, also kaufe ich mir lieber einen neuen. Von der gleichen Art natürlich.

Immerhin lande ich jetzt auf dem richtigen Bahnsteig, wo angezeigt wird, dass sich die Abfahrt um eine Viertelstunde verzögert. So what, ich habe einen kleinen Zeitpuffer, bevor ich im Krankenhaus sein muss. Und dann fängt auch endlich alles an, richtig zu funktionieren. Ich esse einen Schokoriegel - Zucker als Entzündungsförderer eigentlich nicht so gut, aber ich brauche etwas Energie für den Tag, die große Buba sagt Edhergighie.

Ich habe mich sehr auf diesen Termin gefreut, denn der letzte ist drei Monate her. Es hat einfach terminlich nicht besser gepasst; und während ich einmal bei einem monatlichen Besuch schon dachte, dass es eigentlich kaum Neues zu berichten gibt, waren drei Monate dann doch zuviel, vor allem, weil sich in meiner beruflichen, gesundheitlichen und familiären Situation viel getan hat in dieser Zeit, und nichts davon wirklich zum Positiven. Vielleicht sind anderthalb bis zwei Monate derzeit eine gute Frequenz für uns. Ich habe das aus verschiedenen Psychologieserien gelernt, dass man das je nach Bedarf umstellen kann und sollte, immer im Sinne des Patienten, und ich muss einfach mal konstatieren: Ohne den Rückhalt meines Psychiaters wäre ich in dieser Welt, an diesem Punkt angekommen, vollkommen aufgeschmissen. Meine lieben Eltern würden so gern helfen, aber ich brauche fachliche und rechtliche Hilfe, das heißt, es müssen Fachleute ran.

Ich möchte wirklich jedem, der ein starkes Gefühl davon hat, er könne auf dem Autismusspektrum sein, empfehlen, einen Platz bei einem guten, spezialisierten Psychiater zu bekommen. Auch wenn es eigentlich gerade nicht nötig scheint - irgendwann werden Probleme kommen, aus unterschiedlichsten Gründen (zum Beispiel, weil die Eltern sterben), und dann ist man hilflos und allein gelassen. Ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich mir im Kopf gerade ein paar wenige KandidatInnen vorstellen kann, denen das vielleicht helfen könnte. 

Bringt den Mut auf, sucht Euch einen Diagnoseplatz! Möglichst jetzt, denn die Vorlaufzeit ist unglaublich lang. Bei mir hat es - wenn mich die Erinnerung nicht trügt - anderthalb Jahre gedauert bis zum ersten Termin. Die PsychiaterInnen sind einfach komplett überlastet, und dabei können sie im Leben eines autistischen Menschen so viel Gutes bewirken, und das auch schon komplett ohne Medikamente, indem sie einen geschützten Raum zum Reden bieten. 

Bitte geht diesen Schritt. Auch wenn der Gedanke nagt "Nö, betrifft mich ja nicht unbedingt, brauche ich gerade eigentlich nicht wirklich" - die Fachliteratur bestätigt: Irgendwann im Leben werden wir AutistInnen Hilfe brauchen, und wenn wir noch so sehr high-functioning (a.k.a. Asperger) sind.

Aber zurück zum heutigen Besuch, und ich merke gerade, ich muss den Artikel morgen weiterschreiben, denn es war ein sehr langer Tag und ich habe das alles immer noch nicht verarbeitet. Keine Sorge, das mit den Filmen kommt noch, ich schreibe morgen weiter!

(...)

Let's go. Natürlich werde ich hier nicht vom konkreten Inhalt des Gesprächs schreiben, sondern etwas abstrahieren und mich vor allem darauf konzentrieren, was das bei mir ausgelöst hat. Könnte auch für meinen Psychiater interessant sein, vielleicht liest er das jetzt gerade. Falls ja, hier nochmal: DANKE für Freitag!

Natürlich hat es gut getan, nochmal die Rückschläge aus dem Januar und Februar Revue passieren zu lassen, die Ablehnung des Schwerbehindertenstatus und das Verbot, eine Vertretung an einer Schule zu übernehmen (ich habe bis heute keinerlei Entschuldigung aus dem Ministerium bekommen). Es hat mir nämlich wieder etwas Mut gemacht zu wissen, dass ich eigentlich nichts falsch gemacht habe, sondern dass das Problem im System liegt.

Ebenso hat es sich gut angefühlt, über Themen zu sprechen, zu denen ich einen Bezug habe, und so sind wir zwischendurch auch wieder bei'm Thema Filme angekommen, genauer Filme über Autismus. Es gibt so viele Filme, die Autismus darstellen wollen - vielleicht nicht als Thema, aber in einem ihrer Charaktere - und sich dabei auf Klischees berufen, die mit der Breite des Spektrums überhaupt nichts zu tun haben, oder sie stellen Autismus als etwas Drolliges dar, über das man lachen kann. Davon gibt es eine ganze Menge. Seltener sind authentische Darstellungen von Autismus-Spektrums-Störungen. 

Eine dieser authentischen Behandlungen findet man im Film The Reason I Jump, der auf dem gleichnamigen Buch des nicht-sprechenden autistischen Jugendlichen Naoki Higashida basiert. Im Film werden die Leben verschiedener Familien rund um die Welt beleuchtet, in den USA, Afrika, Indien, Australien, um zu zeigen, dass es die mutistischen AutistInnen überall gibt, und dass sie überall dieselbe Zurückweisung von neurotypischen Menschen erfahren. Es kommen auch ihre Eltern zu Wort, die sehr eindringlich erzählen, wie sie unter den Anfeindungen ihrer Kinder zu leiden hatten und immer noch haben. Der Film bringt durch seine subjektive Kamera das Erleben eines Menschen auf dem Spektrum sehr eindrucksvoll rüber und ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Akzeptanz und Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Mein Psychiater hat sich den Titel notiert, und mir im Gegenzug ebenfalls einen Film genannt, der das Thema Autismus zwar nicht in den Mittelpunkt stellt, dessen Hauptfigur aber eindeutig als Autist codiert ist. Der norwegische Film Elling, damals oskarnominiert als bester ausländischer Film, zeigt die Situation zweier neurodiverser Freunde, die durch das norwegische Gesundheitssystem irgendwie in die Gesellschaft integriert werden (bei uns würden sie eher allein gelassen, um selbst klarzukommen), nachdem Ellings Mutter verstorben ist und er nicht mehr auf ihre Hilfe und Führung bauen kann.

Diese Situation ist leider nur allzu realistisch: Was ist, wenn Deine Eltern sich um Dich ein Leben lang gekümmert haben und Du plötzlich als autistischer Mensch auf Dich allein gestellt bist? Meine Eltern werden nicht ewig leben und ich habe einen Bruder, der noch weiter zurück liegt auf dem Weg, auf sich allein gestellt zu sein, als ich. Irgendwie müssen wir es schaffen, dass er nicht irgendwann plötzlich wie Elling vor dem Nichts steht und komplett verkümmert, wenn es keine Unterstützung mehr von Mama und Papa gibt.

So habe ich mir also Elling notiert. Wie schon oben erwähnt: Normalerweise nehme ich keine Filmtips von anderen Menschen an. Aber zum einen ist mein Psychiater auf AutistInnen spezialisiert und kennt sich wirklich gut aus, und zum anderen trifft der Film leider gerade einen Nerv. So bin ich also nach unserem Termin nach Hause gefahren und habe den Film direkt auf Netflix gefunden und angeschaut, und war ziemlich begeistert.

Da wird mir bewusst, dass ich in der Linkliste links noch keinen Reiter mit der Designation Autismus im Film habe, das sollte ich bald mal ändern, um dort die Namen von Filmen einzustellen, in denen diverse Formen der Autismus-Spektrums-Störung authentisch und nicht klischeehaft dargestellt werden. Das könnte zur Aufklärung beitragen, und vielleicht glauben es mir die Leute ja irgendwann, dass ich geistig behindert bin, ohne mich erstmal zu gaslighten.

Das war ein toller Besuch bei'm Psychiater, in jeder Hinsicht, und drei Monate ohne waren definitiv zu viel. Ich wünsche jedem Menschen auf dem Spektrum so einen Ansprechpartner. Und zum Schluss noch ein Aspekt aus schulischer Seite (betrifft aber auch die Gesellschaft allgemein):

Ich finde es sehr bedauerlich, dass die Psychiatrie bei uns so stigmatisiert ist. Viele trauen sich nicht zuzugeben, dass sie regelmäßig zum Psychiater gehen - und wenn sie es tun, dann kommt die Häme aus dem Hinterhalt. An einer Schule meinte eine Kollegin zu mir: "Und das da vorne ist Frau XY, aber mit der solltest du lieber nicht reden, die nimmt Antidepressiva, das ist eine ganz arme Person." - und ja, das war der exakte Wortlaut; auch wenn es schon über zehn Jahre her ist, habe ich das nie vergessen. Es ist beschämend, wie Lehrkräfte hinter dem Rücken ihrer KollegInnen über ihre Mitmenschen reden. Kaum eine Schule ist frei davon; ich war bisher an sieben, und nur an der Nordseeschule in St.Peter-Ording war es anders - kein Wunder, dass sie zur Perspektivschule erklärt wurde, denn da ziehen alle Lehrkräfte zusammen an einem Strang, um SchülerInnen in schwierigsten Situationen eine Lebensperspektive aufzuzeigen. Ein völlig anderer spirit als an den meisten Gymnasien. 

Und ja, die "ganz arme Person" war an einem Gymnasium - aber hier kein Schulart-Bashing, denn es geht um den Segen, den ein geistig behinderter oder psychisch kranker Mensch erfahren kann, wenn er von der Psychiatrie betreut wird. In den Köpfen so vieler Menschen herrscht der Gedanke, dass es etwas Negatives ist, bzw. dass ein Mensch etwas Schlechtes getan haben muss, um eines Psychiaters zu bedürfen. Dass er ein schlechter Mensch sei. Es wird von oben herab über Menschen in psychiatrischer Betreuung gesprochen, auf eine Weise, die für Betroffene extrem schmerzlich sein kann. Ich weiß, wovon ich rede, denn es gibt garantiert einige ehemalige KollegInnen an verschiedenen Schulen, die das hier zu Gesicht bekommen und sich darüber aufregen, dass ich hier oversharing betreibe. Face facts: Es ist so, und es ist an fast jeder Schule so. Ich hoffe, niemand von Euch glaubt, in einem harmonischen Kollegium zu arbeiten - es sei denn, es ist tatsächlich harmonisch - zum Beispiel an kleineren Schulen, Grundschulen, Förderzentren oder Perspektivschulen.

Menschen können es einfach nicht lassen, schlecht über andere Menschen zu reden.

Elling ist auf Netflix verfügbar.

Weitere authentische Filme auf dem Spektrum: The Reason I Jump, The Imitation Game, The Speed Cubers, BenX, The Queen's Gambit - die Liste wird bald links auftauchen und noch mehr Titel beinhalten ;-)