Dienstag, 29. Oktober 2019
Back to Films
Neulich hat mich die große Buba darauf angesprochen, dass ich im Blog schon länger nichts mehr über Filme geschrieben habe - und sie hat Recht. Mir ist das gar nicht so bewusst geworden - natürlich nicht: Wenn ich mich kopftechnisch in eine Sache versenke, verschwinden andere Dinge aus meiner Wahrnehmung, und diese eine Sache war in den letzten Wochen mein zweiter Durchlauf der X-Files, nach wie vor horizonterweiternd.
Ich habe tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, eine weitere Serie anzuschließen - Xena: Warrior Princess - aber ich möchte endlich wieder etwas Neues haben. Ich komme wirklich nicht gut mit dem Gefühl klar, mir etwas anzuschauen, das ich schon gesehen habe, wenn ich nichts Neues dabei herausholen kann. Dann denke ich mir danach, dass ich meine Zeit verschwendet habe, mein Kopf fühlt sich nicht reicher an, nicht inspirierter, und ich frage mich, wozu ich das überhaupt getan habe. Ich hätte Besseres mit dieser Zeit anfangen können. Das Gleiche gilt für Videospiele - während ich in meinem Studium Final Fantasy V immer und immer wieder spielen konnte, brauche ich mittlerweile Neues, und bin immer auf der Suche.
So habe ich mich gestern und heute zwei Filmen zugewandt, die bei Netflix bzw. Amazon prime frei verfügbar waren. Über den spanischen Thriller Los Ojos De Julia (Julia's Eyes, 2010) verliere ich nicht allzu viele Worte, obwohl er sehr gut ist; interessanter fand ich den österreichischen Film Ich seh, Ich seh (2014), der auch internationale Aufmerksamkeit erregt hat (unter dem Kinokassen-füllenden Titel Goodnight Mommy).
Die Handlung ist ganz einfach: Zwei Zwillingsbrüder erleben die Rückkehr ihrer Mutter aus der Klinik - eine Schauspielerin, die eine Schönheits-OP hinter sich hat. Irgendwas an ihrem Verhalten scheint aber anders zu sein als sonst, und ganz langsam kommt der Verdacht auf, dass sich jemand an Mamas Stelle eingeschlichen hat. Dass der Kopf der Mutter noch komplett bandagiert ist, nährt natürlich die Fantasie der Jungen, ebenso wie ein Foto, auf dem sie ihre Mutter mit einer Frau entdecken, die genau wie sie aussieht...
Der Film erzählt sehr ruhig, minimalistisch und subtil. Wir sehen viele Szenen der Brüder, die in der Natur spielen, schwimmen, auf dem Trampolin springen, sich im Maisfeld verstecken. Und wir erleben, wie die Jungen Angst bekommen und nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Die Kritiker auf rottentomatoes.com nennen das "Dark, violent, and drenched in dread, Goodnight Mommy is perfect for extreme horror enthusiasts – or filmgoers who prefer to watch between splayed fingers."
Das ist psychologischer Horror, es fliegen keine Körperteile, alles ist eigentlich ganz harmlos, so wie damals in Hitchcocks Shadow of a Doubt (1943), der ebenso als Inspiration zu dienen scheint wie A Tale of Two Sisters (2003). Es tut gut, wieder neue Filme zu sehen, es tut gut, endlich wieder etwas voranzukommen.
Montag, 28. Oktober 2019
Face the Music
...sich den Konsequenzen stellen... |
Im Englischstudium habe ich einen Ausdruck kennengelernt, den ich wirklich großartig finde - wenn jemand Mist gebaut hat, oder was auch immer, then he has to face the music for his actions. Man muss die Konsequenzen tragen, bzw. die Verantwortung für das übernehmen, was man tut. Wir haben das damals im Journalistenenglisch gelernt - diese Übersetzungskurse waren Pflicht, ganz ähnlich wie in Latein die Exercitia Latina; es ging nicht nur darum, einen deutschen Text in die Fremdsprache zu übersetzen, sondern auch einen ganz bestimmten Stil zu treffen. Im Lateinischen sollten wir dem Stil Ciceros nacheifern, im Englischen mussten wir in diversen Kursen Journalese lernen. Und da taucht der Ausdruck immer mal wieder auf, das gibt eine peppige Schlagzeile her: Trump to Face the Music for Ukraine Affair (jaja, ich weiß, wir haben gelernt, dass richtig gute Schlagzeilen nicht mehr als drei Worte enthalten sollten ^^).
Und mir gefällt nicht nur der sprachliche Ausdruck, mir gefällt auch das Konzept dahinter. Ich muss für meine Handlungen Verantwortung übernehmen, und wenn ich Mist baue, dann muss ich mir das auch sagen lassen, auch wenn es unangenehm ist. Mir fällt auf, dass wirklich sehr viele Menschen durch die Welt stampfen, ohne Rücksicht zu nehmen - ich gehöre dazu, aber ich stehe zu dem Scheiß, den ich mache, und versuche nicht, das irgendwie schönzureden oder etwa zu leugnen. Mir tut der Blog in dieser Hinsicht ganz gut, weil mich immer mal wieder Nachrichten erreichen, die das, was ich hier veröffentliche, kritisch unter die Lupe nehmen. Es ist gut, wenn man darauf hingewiesen wird, dass man nicht immer Recht hat.
Warum ich gerade jetzt auf diesen Gedanken komme: Gestern haben Landtagswahlen in Thüringen stattgefunden, und wer das verfolgt hat, musste den zweiten Platz für die AfD miterleben. Daran mag man sich vielleicht mittlerweile gewöhnen, aber Thüringen ist ein Sonderfall, denn dort gibt es einen Spitzenkandidaten mit völkischem Gedankengut, der in Satiren gern mit dem Vornamen Bernd genannt wird, ich nutze einfach seine Initialen BH.
Es ist ein wenig erschreckend, dass sich fast jeder vierte Wähler für diesen BH entschieden hat, obwohl er ihnen nicht gut bekommen könnte. Es gibt da ein Buch von ihm, aus dem man im Internet erschreckende Zitate lesen kann, von denen der "Volkstod" noch zu den harmloseren Sachen gehört; prickelnder wird es, wenn man liest, dass dieser BH eine Politik der "wohltemperierten Grausamkeit" anstrebt. Ich finde nicht, dass Deutschland den BH tragen sollte, aber darum geht es mir gar nicht: Seitdem sein Buch erschienen ist, wird er immer wieder auf seine nationalistische Diktion angesprochen und zeigt dann, dass er die music eben nicht facen kann, indem er zum Beispiel keine Interviews gibt, schmallippig antwortet der Reportern komplett ausweicht. Ziemlich schwache Leistung.
Ich finde, dass dieser BH ein bisschen Musik gut vertragen könnte, so wie wir alle.
Samstag, 26. Oktober 2019
Unerwünschtes Verhalten löschen
vorweg: Dieser Beitrag könnte polarisieren, wie auch das Thema an sich. Und das ist auch gut so; Ihr seid herzlich eingeladen, Eure Meinungen dazu zu schreiben.
Projektwoche. Ich leite das Projekt Rollenspiele selbstgemacht für Schüler ab der achten Klasse. Eine kleine Truppe von elf Schülern hat sich eingetragen, viele aus der Mittelstufe, aber auch drei Schüler aus der Oberstufe. Ich genieße den ersten Tag in vollen Zügen: Hier spiele ich mein eigenes Rollenspiel Das Schwimmbad mit ihnen, um ihnen dann an den folgenden Tagen das Knowhow dafür an die Hand zu geben, damit wir am Ende der Woche alle Spiele zusammen spielen können.
Die Schüler lassen sich von der spannenden und abstrusen Geschichte in den Bann ziehen, machen neugierig und kreativ mit und schaffen es schließlich, das Schwimmbad vor einem Terroranschlag zu schützen. Einer der Schüler ist besonders involviert, er scheint vollkommen in dieser Welt, die ich da geschaffen habe, absorbiert zu sein, begeistert, man kann sein Gehirn rattern sehen. Die erwachsene Frau neben ihm lächelt und freut sich für ihn. Sie ist seine Schulbegleitung, er ist ein Schüler mit dem Asperger-Syndrom.
Davon merkt man allerdings nichts. Fast nichts - er ist ganz ruhig und aufmerksam, aber wenn er etwas sagt und dabei von Anderen unterbrochen wird, dann wird er laut. Wenn er seine Gedanken nicht zu Ende führen kann, platzt er. Die drei Oberstufenschüler finden das erst witzig, dann creepy, und sind recht bald von ihm genervt. Es kommt, wie es kommen muss: Tag Zwei des Projektes, und nun sitzen hier nur noch acht Schüler. Die älteren Jungs sind nicht zurückgekommen, nicht heute, nicht für den Rest der Woche. Alle anderen sind wieder da, und so entfaltet sich ein tolles Projekt.
Die Sek II-Schüler haben es sich einfach gemacht: Der Typ nervt uns, das geht gar nicht, wir hauen hier ab. Damit wir Ruhe vor ihm haben, mit dem stimmt doch was nicht. Recht haben sie; nur noch einmal zur Erinnerung: Der Asperger-Autismus ist eine geistige Behinderung. Er sucht sich das nicht aus, plötzlich so laut zu werden, oder lieber allein zu arbeiten, er sucht es sich nicht aus, Andere zu nerven. Er kann oft nicht anders.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen, und nun komme ich zum Grund dieses Beitrags. Mir schwirrt seit meinem Besuch bei der Psychiaterin immer wieder der Begriff Therapie durch den Kopf. Ich benutze Suchmaschinen, schaue, was bei "Autismus Therapie" so herauskommt, und finde verschiedenste Ansätze - biomedizinische wie die Darmsanierung, aber auch verhaltenspsychologische wie die Applied Behavior Analysis (ABA). Soll alles darauf abzielen, den Autisten so gut wie möglich in die Gesellschaft zu integrieren. Man kann also versuchen, alles störende, unerwünschte Verhalten zu löschen, zum Beispiel mit einem Sanktionssystem. Das ist etwas altmodisch, wird aber immer noch praktiziert - Strafe bei zu lautem Reden, Belohnung, wenn der Aspi nicht auffällt.
Und das macht mir Angst. Der Wunsch, den Aspi "normalisieren" zu wollen. Das wirkt auf mich wie Umerziehungsmaßnahmen, und ich finde im Internet ein weit gefächertes Echo dazu. Da gibt es Menschen, die auf viele dieser therapeutischen Ansätze schwören, und solche, die das Verbiegen des Aspis ablehnen (oft die Betroffenen selbst oder deren Angehörige). Diese Umerziehungsmaßnahmen, suggerieren sie dem Aspi nicht, dass er irgendwas falsch macht und sich bessern muss?
Wäre es nicht auch eine Möglichkeit, zu akzeptieren, dass dieser Mensch eine Behinderung hat, und darüber aufzuklären? Seinen Mitmenschen klarzumachen, was es bedeutet, Aspi zu sein, und wie sich das im Verhalten widerspiegeln kann? Und von ihnen Akzeptanz zu erbitten? Meiner Meinung nach bedeutet Inklusion nicht, dass wir versuchen, die behinderten Menschen mit diversen Methoden möglichst normal zu machen, sondern sie mit ihrer Behinderung in die Gemeinschaft aufzunehmen und zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die Spastiken haben, oder Wutanfälle, oder viel zu laut reden, oder was auch immer.
Ich frage mich halt, was ich für eine Therapie machen sollte. Was ich tatsächlich gebrauchen könnte, wäre ein Medikament gegen die Panikattacken. Aber anstatt als Lehrer zu trainieren, unbedingt unauffällig zu sein, würde ich viel lieber Aufklärung im Kollegium leisten, und vor allem in meinen Klassen, damit meine Schüler darauf vorbereitet sind, wenn zum Beispiel mal ein Verbalausfall kommt. Damit sie wissen, dass ich in meiner Sprache keine Hemmschwellen habe, und dass es an dieser Behinderung liegen könnte. Damit sie wissen, wie sie damit umgehen können.
Ich weiß nicht, wie das bei Euch ist, aber ich habe in meinen I-Klassen immer offen darüber gesprochen, wenn ein neuer I-Schüler dazukommt, was bei ihm "anders" ist. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schüler aus I-Klassen wesentlich aufgeschlossener und sozialer im Verhalten sind als solche, die sich vor Menschen mit Behinderung in Sicherheit bringen "konnten" - wie meine drei Jungs in der Projektwoche.
Donnerstag, 24. Oktober 2019
Bushaltestellen-Kontemplation
vorweg: Vielen Dank für Eure anregenden Kommentare zum letzten Thema! Wenn man so wenig mit anderen Menschen macht, ist es richtig erfrischend, mittels Blog ein paar andere - oder auch ähnliche - Sichtweisen zu bekommen.
Heute bin ich zu Fuß unterwegs. Es ist grau draußen, aber nicht sonderlich kalt, und nur ein kleiner Tropfen hier und da. Da muss ich nicht den Bus nehmen, sondern verlasse meine Wohnung und gehe einfach an der Bushaltestelle vorbei und schaue den Wartenden zu. Es ist die Diesterwegstraße und die Wartenden sind um die Mittagszeit Schulkinder. Noch sehr jung, sie johlen, kreischen, spielen Tick, lachen, eine Soundkulisse, die ich schon beim Aufbruch oben in der Wohnung mitbekommen habe. Und ich frage mich, ob ich selbst gern noch einmal so jung wäre.
So unbeschewrt, so unbesorgt, so naiv, so fantasievoll. Sie müssen sich keine Sorgen darum machen, dass es nichts zu essen für sie gibt, sie bekommen viel Liebe und auch für neue Klamotten ist gesorgt. Mir ist natürlich klar, dass es unter diesen Kindern auch welche gibt, deren Kindheit nicht so behütet ist, die vielleicht nicht wissen, was es an diesem Tag zu essen gibt, bzw. ob es überhaupt etwas gibt. Oder ob sie diese Woche bei Mama oder bei Papa verbringen dürfen. Ich weiß, dass auch der Eine oder die Andere von Euch in der Kindheit nicht alles so selbstverständlich hatte.
Es geht mir um das mindset, die Gedankenkonfiguration in dem Alter. Ausgerichtet auf Neugier, Spaß haben, Farben, Spiele, noch kein Bewusstsein für Krankheit, Tod, unmenschliches Verhalten (homo homini lupus und so). Einfach fröhlich sein oder traurig, noch nicht so kompliziert zu denken, sich selbst das Leben noch nicht so schwer zu machen. Unabhängig sein von dem, was andere Menschen über einen denken. Laut dazwischenreden, den Spielplatz zu einem Mikrokosmos an Spaß werden lassen - so leicht zu beeindrucken, so gierig darauf, zu staunen. Ist doch irgendwie schön, oder?
Diese Gedanken begleiten mich, während ich der Buslinie Einundsechzig zu Fuß nach Hassee hinein folge. Und ein paar Stationen später wird mir dann bewusst, warum ich vielleicht doch nicht noch einmal jung sein möchte. Gleiche Situation wie vorhin: Ich komme an einer Bushaltestelle vorbei und beobachte die Wartenden, doch diesmal sind wir auf Höhe der Gemeinschaftsschule Hassee, und die Schüler sind deutlich älter.
Sie sind wesentlich stiller. In sich gekehrter, nachdenklicher, die Gedanken drehen sich um Sex, Liebe, Drogen, wer bin ich, wer will ich sein, was denken meine Mitschüler von mir? Mobbing, kein Bock auf Schule, auf der Suche nach Transgression, im Konflikt mit den Eltern, Zigarette im Mundwinkel, Nasenpiercing, Ohrlöcher. Anfangen zu realisieren, dass es Schlechtes in der Welt gibt, nicht mehr ganz so leicht in's Staunen kommen, den eigenen Körper hassen lernen. Die Zukunft konfrontieren, bald wird die Unterstützung von Mama und Papa zu Ende sein, bald muss ich mir selbst all' diese Dinge des täglichen Lebens verdienen.
Von Unbeschwertheit ist da nicht mehr ganz so viel. Sicherlich, manche machen aus ihren Teenagerzeiten high life in Tüten, aber nur weil sie etwas flamboyanter sind, heißt das nicht, dass sie keine eigenen düsteren Gedanken mit sich herumtragen. Der Film Super Dark Times (2017) hat diesen Wandel, diese Initiation von der Unschuld hin zur Realität sehr treffend und verstörend umgesetzt.
Und darauf kann ich dann doch verzichten. Klar, jetzt ist meine Gedankenwelt mehr von Sorgen geprägt, von Unsicherheiten, und pure Unbeschwertheit habe ich kaum noch - und auch wenn sich das ändern könnte, falls ich jemals unbefristet beschäftigt werden sollte, so ist mein Kopf deutlich offener für negative Gedanken. Aber dadurch lerne ich, das Positive mehr zu schätzen, intensiver zu genießen, und das macht das Leben dann wieder zu einem echten Abenteuer mit einem Lächeln im Mundwinkel.
Dienstag, 22. Oktober 2019
Siebenundzwanzigtausend
Mensa-Days |
Vor recht genau sechzehn Jahren habe ich die erste universitäre Vorlesung meines Lebens besucht. Ich fühlte mich klein und dumm, ungebildet, gegenüber diesen gescheiten Herren und Damen, die die Lehre an der Universität voranbringen. Und um mich herum waren viele orientierungslose Erstis, genau wie ich. In Latein gab es im Wintersemester Zweitausenddrei fünfundvierzig Neueinschreibungen! Ich darf das mit einem Ausrufezeichen notieren, denn das waren damals gewaltige Mengen, wie mir meine Grammatiktutorin erzählte - sie selbst natürlich ein höheres Semester, und als sie damals angefangen hatte, gab es gerade einmal fünfzehn Erstsemester in Latein.
Es gab obligatorische Vorlesungen, die die Seminarräume und Hörsäle sprengten. Ich weiß noch sehr gut, wie Dr. Jens-Peter Becker den Raum Zweihundertfünfundzwanzig in der Leibnizstraße Zehn regelmäßig zum Bersten brachte, Sitzen auf dem Fußboden inklusive. Und von der Vorlesung zum Grundkurs Englische Sprachwissenschaft fange ich gar nicht erst an, der Saal der OS75 war gerammelt voll.
Leider gerammelt voll mit Studenten, von denen sich neunzig Prozent eigentlich überhaupt nicht für englische Sprachwissenschaft interessierten. Die diese Vorlesung und den Grundkurs nur besuchten, weil es in ihrem Lehrplan stand. Und wenngleich Rebekka Klingshirn (née Mösenfechtel) und Susanne Hackmack sich alle Mühe gegeben haben, den teilweise sehr trockenen Stoff für junge Erwachsenen peppig aufzubereiten, führt kein Weg drumherum: Sehr viele der jungen Menschen waren einfach fehl am Platz.
Und das ist ja auch vollkommen normal. Erstmal herausfinden, was man überhaupt machen möchte, darauf wird an manchen Schularten meiner Meinung nach zu wenig vorbereitet, gerade an den Gymnasien fehlen Praxisanteile in den Oberstufen.
Naja. So haben wir damals jedenfalls gestopft gesessen, unseren Kakao aus dem Getränkeautomaten getrunken, um gegen die Kälte da draußen anzugehen, und haben zugehört. Und am Ende der Seminare sind viele von uns mit dem Bus Richtung Heimat-WG gefahren - weil es Kiel ist: nass, kalt, dunkel, ungemütlich, und damals gab es noch Linien wie 81/82, damals ist noch die 22 die Olshausenstraße entlang gefahren, man hat versucht, so viele Studenten zu befördern, wie es nur irgendwie ging, aber es nützte nichts: Gerade zu Seminarpausen waren die Busse brechend voll, und ich würde mein drittes Auge verwetten, wenn ich denn eines hätte, dass einige von Euch auch einmal in einem Bus gestanden haben, der an einer Haltestelle einfach vorbeigefahren ist, weil es drinnen und draußen viel zu voll war.
Wir waren damals soooo viele Erstsemester. Der pure Wahnsinn, die Uni konnte das mit ihren Kapazitäten kaum wuppen. Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hatten damals über einundzwanzigtausend Studenten, und die Mittagszeiten in den Mensen waren Beweis dafür.
Und dann höre ich neulich in den Regionalnachrichten, dass die CAU mittlerweile auf siebenundzwanzigtausend Studenten angewachsen ist. Natürlich habe ich die Neubauten verfolgt, zum Beispiel den neuen Bioturm in der Leibnizstraße, und natürlich habe ich verfolgt, wie die Buszeiten auf der OS deutlich intensiviert worden sind, neue Schnellbusse sind hinzugekommen, selbst der Stadtteilbus Linie 6 fährt jetzt mit Gelenkwagen, und es kann nicht nur an dem Doppeljahrgang gelegen haben.
Um meine Psychiaterin zu ziteren: Der Trend geht dahin, das Abitur zu verschenken. Dass viel mehr Schüler an die Universitäten gehen, ist ein bundesweites Phänomen. Eigentlich ja schön, aber genau diese jungen Leute fehlen den vielen Ausbildungsbetrieben in unserem Land. Wo sind die Tischler, wo sind die Handwerker, wo sind die Bäcker, wo die Köche, wo die Elektroinstallateure? Haben viele junge Erwachsene Angst, sich die Hände schmutzig zu machen? Wird ihnen durch einen niedrigeren Schwierigkeitsgrad im Abitur suggeriert, sie alle seien für ein Studium an einer Universität geeignet?
Ich sehe diese Entwicklung problematisch - wie geht es Euch?
Montag, 21. Oktober 2019
Langsam reicht's
Heute war in Schleswig-Holstein der erste Schultag nach den Herbstferien, die Busse wieder dementsprechend voll morgens und um die Mittagszeit. Und langsam kommt mir der Gedanke, dass es reicht mit der Arbeitslosigkeit.
Dabei ist das nicht selbstverständlich: Als man mir mitgeteilt hat, dass man mich für eine unkompliziertere Lehrkraft vor die Tür setzt, ist eine Welt zusammengebrochen, und ich war heilfroh, dass ich mehr als ein Jahr durchgehend gearbeitet und damit Anspruch auf Arbeitslosengeld I hatte. So konnte ich die freie Zeit nutzen, um meinen Kopf ein bisschen besser zu verstehen, die Dinge in Bewegung zu bringen. Das ist jetzt erledigt. Ich hatte die Befürchtung, dass ich Diagnose und Arbeit nicht parallel wuppen könnte, aber mittlerweile ist der Kopf frei genug.
Außerdem konnte ich die Zeit nutzen, um ein zweites Mal The X-Files anzuschauen, manches etwas besser zu verstehen, ein richtiger Genuss. Auch das ist erledigt. Und auch wenn es immer wieder neues Material gibt, mit dem man sich beschäftigen kann, muss ich feststellen, dass ich nichts dagegen hätte, wieder zu unterrichten und vernünftige Arbeitstage zu haben; ich fühle mich einfach unterfordert.
Ich habe hier Mittel gegen die Unterforderung, und so habe ich heute nach einer langen Pause endlich wieder Thomas Pynchons Gravity's Rainbow (1973) zur Hand genommen und im Bus weitergelesen, und ich bin fast gestorben vor Lachen und frage mich, warum das Buch so lange beiseite lag. Ja, es ist anspruchsvoll, nervenaufreibend, neunhundert Seiten, die eine gewaltige Aufmerksamkeitsspanne fordern, aber die Belohnung ist reichlich, und ich glaube, ich werde mich morgen mal wieder mit Slothrop in den Mittelwerken versenken, am Ende des zweiten Weltkrieges, während der Konstruktion der V-2-Rakete, und mich schlapplachen über Passagen wie
There was a technician namend Urban,
Who had an affair with a turbine.
"It's much nicer", he said,
"Than a woman in bed,
And it's sure as hell cheaper than bourbon!"
und parallel die Serie The Terror (2018) beenden, man könnte das als historisches Drama einordnen, weil es um zwei Schiffe im neunzehnten Jahrhundert geht (wer kommt eigentlich auf die Idee, zwei Expeditionsschiffe Terror und Erebus zu nennen???), die eine Passage von Großbritannien nach Indien oder China suchen, dann allerdings im Packeis festfrieren - und dann endet auch schon das historische Drama, und das psychologische setzt ein. Kälte, Paranoia innerhalb der Crew, Krankheit, absterbende Zehen, Alkoholismus, Sex unter Matrosen, wenn man erstmal die etwas zähen ersten vier Folgen gesehen hat, schreibt Matt Zoller Seitz, dann lohnt es sich, denn es ist in der Tat verdammt atmosphärisch und spannend, und erinnert ein kleines bisschen an Wolfgang Petersens Das Boot (1981). Hat schon seinen Grund, warum Ridley Scott das Projekt finanziert hat. Und ich finde es angenehm, dass es eine Event Series ist, also eine abgeschlossene Serie, die nicht zum endlosen weiterschauen verlocken kann. Ich mag es, wenn Serien Anfang und Abschluss haben, denn ich habe keine Lust, in Seriensucht zu verfallen, nach Art von "Naja, eine oder zwei Folgen kann ich ja schnell noch schauen".
Kommt gut in die Schulzeit, liebe Leute, hoffentlich gehöre ich bald wieder dazu! Und: Keinen Lippenpflegestift in der Waschmaschine waschen, nur so am Rande.
Samstag, 19. Oktober 2019
Patriotismuss ich das verstehen?
Ein Freizeitpark in den USA, Kings Island, Zweitausendelf. Kurz vor zehn Uhr morgens, viele Besucher sind bereits auf der Main Street verteilt, obwohl die meisten Bereiche des Parks und die Attraktionen erst ab zehn Uhr zugänglich sind. Unter diesen Menschen befinde ich mich, habe meine Parkkarte in die Hosentasche gesteckt, Diamondback-Cap auf, Sonnencreme verteilt, bereit für Adrenalin. Und dann, zwei Minuten vor zehn Uhr passiert das Unvermeidliche: Die amerikanische Nationalhymne dröhnt aus allen Parklautsprechern bis in die hinterletzten Winkel, und alle Amerikaner stellen sich aufrecht hin, nehmen ihre Mützen ab, halten ihre Hand auf das Herz und singen ihre Zeilen mit. Nicht euer Ernst, ist mein erster Gedanke. Der zweite: Das hier sind die USA. Und aus Rücksicht nehme ich zumindest mein Cap für die Dauer der Hymne ab.
Die Anekdote habe ich hier im Blog schon häufiger verteilt, und es geht mir eigentlich auch gar nicht um die Vereinigten Staaten, sondern um die dahinter steckende Denkweise, die sich in wesentlich mehr Ländern dieser Erde wiederfindet. Vielleicht in allen. Und ich kann bis heute nicht nachvollziehen, was es mit diesem Patriotismus auf sich hat.
Lassen wir die sprachlichen Überlegungen beiseite. Warum es nicht Matriotismus heißt. Was eigentlich mein Vaterland ist, wenn mein Vater im Ausland geboren wurde. Und ich verstehe noch nicht einmal, warum man überhaupt stolz auf sein Vaterland sein soll. Immer wieder, bei Aufmärschen bestimmter politischer Richtungen, die in den Nachrichten übertragen werden, sehe ich stolze, aufrecht marschierende Deutsche, Deutschland über alles, und alles Nicht-Deutsche hat hier nichts zu suchen. Lassen wir auch die rechten Denkweisen beiseite; warum sollte ich mich mit Deutschlandflagge zeigen wollen, was ist so toll an Deutschland? Und lässt Patriotismus mich denken, dass andere Länder nicht so toll sind?
Sind diese Denkweisen nicht austauschbar? Wenn ich in Spanien leben würde, wäre ich dann stolz auf Spanien? Oder in Japan? Und wie verhält sich das mit dem Patriotismus, wenn ich auswandere?
Geht es einfach nur um's Prinzip, oder hat Deutschland irgendwas besonders Tolles? Sicher, das Sozialversicherungsystem. Gesetzliche Krankenversicherung. Gleichzeitig lässt es mich nicht in einem dramatisch unterbesetzten Beruf zu (Grundschullehrer), weil ich vor sechzehn Jahren ein unpassendes Schulfach studiert habe.
Muss ich Patriot sein? Wenn ich nicht stolz darauf bin, in meinem Heimatland zu leben, werde ich dann schief angeschaut? Ehrlich gesagt bin ich ganz froh darüber, dass ich zum Beispiel nicht zu den Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes gehöre. Wird Patriotismus von manchen Menschen als Ausrede dafür benutzt, Ausländer zu hassen? Gegen Minderheiten zu sein?
Ich verstehe nicht, was Patriotismus ist, worauf er sich begründet und wie er sich in meinem Verhalten niederschlagen könnte? sollte? müsste? Whatever.
Freitag, 18. Oktober 2019
Therapeutischer Schuhputz
Herbst |
Der Herbst ist angekommen, grau, nass, kalt, zwischendurch ein wenig Sonne, und wenngleich ich ein Sommermensch bin, hat die dunkle Jahreszeit auch ihre Vorteile. Man kann sich eine schöne, heimelige Atmosphäre einrichten, die Heizung aufdrehen und sich wohlfühlen. Und einen ganz anderen Vorteil habe ich heute erleben dürfen; ich habe schwarze Lederschuhe und war damit neulich unterwegs, und irgendwie muss ich durch matschiges Terrain gegangen sein, denn die Schuhe waren richtig dreckig. Kaum zuhause, habe ich sie abgewischt und weggestellt.
Dann ist mir allerdings etwas eingefallen, was ich lange vergessen zu haben schien: Im Studium habe ich mit schöner Regelmäßigkeit meine Lederstiefel, Schuhe etc. mit Schuhcreme gepflegt und auf Hochglanz poliert. Die sahen wirklich immer super aus! Und dann habe ich bei'm Nachdenken festgestellt, dass ich zum letzten Mal vor fünf oder sechs Jahren meine Schuhe bearbeitet habe.
Dann kam das Überlegen: Woran könnte das liegen, dass im Studium die Stiefelpflege eine Selbstverständlichkeit war, seit meinem Dienstbeginn aber so gar nicht mehr stattgefunden hat? Die Lehrkräfte unter Euch werden sich sicher denken, dass der Schulstress das in den Hintergrund gerückt hat. Ich glaube nicht, dass es daran liegt, denn ich mache mir mit Schule nicht zuviel Stress - zu irgendwas muss ein schnell denkender Kopf ja gut sein.
Ich könnte mir vorstellen, dass es an der allgemeinen Situation liegt: Als ich noch in den Kronshagener Bergen gewohnt habe, war meine Situation immer abgesichert. Ich hatte immer einen festen Weg unter den Füßen, nämlich mein erstes Staatsexamen zu erreichen, das es nun nicht mehr gibt. Selbst im Referendariat hatte ich einen sicheren Weg und musste mir darüber keine Gedanken machen. Ich konnte mich auf andere Sachen konzentrieren.
Seitdem ich nun aber von einer Schule und einer Arbeitslosigkeit zur nächsten tingele, fällt es mir nicht mehr so leicht, mein Leben in den Griff zu bekommen. Dieser Umstand, dass ich nicht weiß, wann ich endlich wieder diesen sicheren Weg unter meinen Füßen habe (a.k.a. unbefristete Beschäftigung), scheint dafür zu sorgen, dass ich unglaublich Vieles schleifen lasse.
Klar, das könnte etwas mit Autismus zu tun haben, aber ich vermute mal, das ist ein ganz normales Phänomen, oder? Dass ich mein Leben erst wieder vernünftig auf die Reihe bekommen kann, wenn ich wieder auf dem gesicherten Weg bin?
Jedenfalls hat mir der Herbstdreck und das damit verbundene Schuheputzen das einmal wieder vor Augen geführt, und ich überlege mir jetzt einmal kleine Tricks, um zu verhindern, dass ich den Halt verliere. Die Erinnerungs-Tafeln in der Wohnung helfen schon ein ordentliches Stück weiter, und auf die Wartung-Tafel ist jetzt auch Chuck die Pflanze gekommen, um rechtzeitig neue Düngestäbchen einzusetzen, damit die Palme nicht ganz ohne Nährstoffe ist. Ach ja, und interessant zu sehen, wie sich CdP nach und nach hier einlebt - die Palme richtet ihre Blätter nach dem Sonnenlicht aus, und da ein Palmwedel quasi "mit dem Rücken" zum Fenster steht, haben sich dort einzelne Blätter ganz nach innen zusammengeklappt.
Spannend. Und nachher Hackbraten mit der großen Buba.
Mittwoch, 16. Oktober 2019
vollkommen übERfordert
Mehr als schwarz und weiß |
vorweg: "Demnächst" (Eugen Roth)
Ein Mensch spricht mit dem Freunde fern:
Sie sähn sich - endlich! - wieder gern!
Doch eh sie ganz die Glut entfachen,
Um gleich ein Treffen auszumachen,
Verlöschen eilig sie die Flammen:
"Wir rufen demnächst uns zusammen!"
Sie haben auch, nach drei, vier Wochen,
Am Telefon sich neu besprochen;
Und sie vereinen die Entschlüsse,
Daß man sich demnächst sehen müsse.
So trieben sies noch manches Jahr -
Bis einer - ohne Anschluß war.
Im Kopf fünf Schritte und drei Stunden weiter - einige von Euch kennen das. So konzentriert weiter, dass man von dem Hier und Jetzt nur die Hälfte mitbekommt und es sehr schwer fallen kann, "den Moment zu genießen". Für mich ist es, als würde ich mit meinen Aktionen ein Drehbuch abarbeiten, das ich fünf Schritte und drei Stunden früher geschrieben habe. Das klappt auch, solange das Drehbuch sich genau so entfaltet, wie ich es mir überlegt habe. Ich weiß nicht, ob es Autisten da draußen auch so geht, und ob das ein Grund dafür ist, dass sie komplett ausrasten können, wenn die Dinge unvorhergesehen laufen - Stichwort mangelnde Flexibilität, und so.
Einer der letzten schönen Herbsttage, etwas Sonne, etwas Wind, noch nicht wirklich kalt, und ich ziehe mich an für einen kleinen Spaziergang nach Gaarden. Hin und zurück insgesamt eine Stunde frische Luft, großartig, und natürlich die Bewegung dazu, immerhin ein kleiner Ausgleich für das Herumsitzen in der Wohnung. Und trotzdem: Als ich unten die Ampel zur anderen Straßenseite überquere und zu meiner Linken die Bushaltestelle sehe, wabert durch meinen Kopf der Gedanke, dass ich ja zumindest bis zur Hummelwiese mit dem Bus fahren könnte, sonst dauert das so lange. Mein Blick wandert auf die digitale Anzeige, und ich sehe, dass der nächste Bus in drei Minuten kommt, naja, warum eigentlich nicht? Und ich will gerade zur Bank gehen, da merke ich, wie jemand auf der anderen Straßenseite ebenfalls zur Bushaltestelle möchte, in schwarz gekleidet, und mir zuwinkt und über das ganze Gesicht strahlt. Ich merke, dass Er es ist, und die Gedankenzüge entgleisen für dreieinhalb Sekunden in einem maelstrom of consciousness...
...nein, nicht jetzt, warum steht er da, scheiße, was mache ich jetzt, wir haben uns mehr als zwei jahre nicht gesehen, und ich habe ihm seit einem dreivierteljahr nicht geantwortet, weil ich endlich ohne ihn gut zurechtkomme, naja, dann kann ich doch jetzt mit ihm zusammen auf den bus warten, endlich einmal in den arm nehmen, endlich für einen winzigen moment "satt" sein, ich winke mal zurück, schaue dann aber wieder stumpf auf den boden vor mir, ich muss etwas schneller gehen, ich muss hier weg, hilfe, hoffentlich spricht er mich nicht an, und warum muss ich plötzlich grinsen, warum strahle ich über das ganze gesicht, nur weg hier...
...und ich gehe immer schneller, bekomme gerade noch aus dem Augenwinkel mit, dass Er warten muss, weil gerade viel Verkehr die Straße blockiert. Mein Blick bleibt stumpf auf den Fußweg gerichtet, wie immer, wenn ich das Gefühl habe, dass ich weg muss, nur dass ich diesmal nicht an Fibonacci denken kann, und ich frage mich, warum ich mich so sehr freue, ihn einfach nur für zwei Sekunden gesehen zu haben, ich kann das nicht einordnen. Warum schafft Er es immer noch, mich so aus dem Konzept zu bringen?
Doch irgendwie ist es mittlerweile anders. Klar, ich bin total überfordert, aber ich habe nicht mehr das Bedürfnis, ihm noch an diesem Abend zu schreiben, ihn auf dieses "Ereignis" anzusprechen. Und es ist mir in dem Moment auch nicht so wichtig, was Er wohl denken mag, darüber, dass ich ohne anzuhalten einfach weitergehe, ohne die Gelegenheit zu nutzen, ihn anzusprechen, ohne die Chance an mich zu reißen, dass Er endlich einmal ohne seine Freundin mit mir reden kann. Ich laufe schnurstracks nach Gaarden weiter, aber das Lächeln bekomme ich für den Rest des Tages nicht mehr von meinem Gesicht.
Das ist jetzt eine Woche her, und es hat dafür gesorgt, dass ich über eine Woche nichts Neues hier im Blog geschrieben habe, weil ich meine Gedanken nicht vernünftig konzentrieren konnte. Ich frage mich oft, wie es sein kann, dass so ein Moment mich immer noch so stark berühren kann. Ein Mensch, der "weg" ist. In den ersten Tagen nach diesem Wiedersehen hatte ich häufiger den Wunsch, endlich wieder mit ihm reden zu können. Das Gefühl, dass Er mir zur Zeit doch irgendwie fehlt. Nun ist es noch ein paar Tage später, und mir ist wieder bewusst geworden, dass ich zur Zeit andere Fokuspunkte im Leben habe, dass ich nicht die Bereitschaft habe, mich ihm jetzt intensiver zu widmen.
Ich dachte im Studium öfters, ich sei verliebt gewesen. Dass aber ein Mensch, den ich seit über zwei Jahren nicht gesehen oder gelesen habe, mit einem so kurzen Blick eine so starke emotionale Reaktion hervorrufen kann, das hatte ich noch nie.
Vielleicht sollte der Moment einfach die Erinnerung daran sein, dass man Menschen nie ganz aufgeben sollte - und dass manche Dinge eben viel Zeit brauchen können. Vielleicht werden wir ja irgendwann unser Demnächst haben.
post scriptum: Es ist doch ein drolliger Zufall, dass ich an genau jenem Tag zum ersten Mal die Vorhängeschlösser an der Gablenzbrücke bemerkt habe. Das scheint sich zu einem Klassiker zu entwickeln, zwei Menschen lernen sich kennen, verlieben sich und als Zeichen des Bundes hängen sie ein Vorhängeschloss an die Stahlseile. Es sind wirklich einige Schlösser, manche haben ein Herz darauf, scheinen extra für diesen Zweck produziert worden zu sein (ist ja auch ein klassischer Topos), andere Schlösser sind vollkommen verrostet, so dass man auf ihnen nichts mehr erkennen kann... ich habe den gesamten Neubau der Gablenzbrücke in meinem Studium miterlebt - als ich an die Uni gekommen bin, gab es damals noch die alte, enge Brücke, auf der früher die Straßenbahn gefahren ist. Ich frage mich, ob Kiel irgendwann tatsächlich die seit vielen Jahren diskutierte Stadtbahn (egal in welcher Form) bekommen wird, und wie die Gablenzbrücke dafür bearbeitet werden müsste, denn die Verbindung der beiden Fördeufer ist eine klassische Aufgabe der Straßenbahn damals gewesen.
Dienstag, 8. Oktober 2019
Choice (Kurzgeschichte)
...was am Ende bleibt... |
"...nehmen wir nun Abschied von dir." - und damit wird der Sarg ganz langsam in seine Grabstelle hinabgesenkt. Es regnet, ein Herbsttag, und nicht viele Menschen sind auf dem Friedhof zusammengekommen. Vier Menschen, in schwarz gekleidet, die Abschied nehmen. Kaum ist der Sarg ganz hinabgelassen, tritt einer nach dem anderen an das Grab heran. Sie sagt ein paar kaum verständliche Worte, er schweigt und lässt eine Schaufel Sand auf den Sarg niedergehen. Der dritte schaut nur kurz nach unten und geht direkt wieder auf Abstand. Zuletzt spricht der Pfarrer den Segen. "Amen."
"...nehmen wir nun Abschied von dir." - und damit wird der Sarg ganz langsam in seine Grabstelle hinabgesenkt. Die Sonne scheint, ein eiskalter Wintertag, doch trotz der beißenden Kälte haben sich unzählige Menschen zusammengefunden, um Abschied zu nehmen. Es dauert, bis jeder, der etwas sagen möchte, seinen Worten Ausdruck verleihen kann. Jeder wirft eine Schaufel Friedhofserde auf den Sarg, und unter dem Stimmengewirr kann ich keine eindeutigen Worte heraushören. Erst, als die Pastorin den Segen spricht, wird es ruhig. "Amen."
Zwei Beerdigungen, zwei Szenen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, und sie haben nur eine einzige Gemeinsamkeit. Der Verstorbene ist auf beiden Beerdigungen, in beiden Szenen dieselbe Person. Der Verstorbene bin ich.
Ich atme tief durch und lehne mich zurück. Ich habe jetzt intensiv genug auf die beiden Bildschirme geschaut. "Haben sie eine Entscheidung getroffen?" fragt mich der Leiter des Instituts für Entscheidungen. Ich schließe die Augen. "Lassen sie sich nicht drängen, diese Enscheidung will gut überlegt sein, denn schließlich stirbt man nur einmal im Leben." Ich versuche, zu verarbeiten, was ich gerade gesehen habe.
"Denken sie daran, es geht nicht darum, für welche Beerdigung sie sich entscheiden. Es geht um diese andere wichtige Frage, der sie sich zur Zeit stellen müssen." Ich atme nochmals tief durch. "Und es ist wirklich nichts während der Prozedur aufgezeichnet worden? Sie haben keine Ahnung, um welche Entscheidungsfrage es hier für mich eigentlich geht?" "Nein, das ist schließlich unsere Geschäftsidee. Sie bekommen nur eine kleine Entscheidungshilfe, und da unsere Technologie völlig unabhängig vom Kunden und seiner Frage immer nur die beiden potentiellen Beerdigungszeremonien anzeigt, haben wir keinerlei Informationen oder Zugriff darauf, mit welcher Entscheidung sie sich konfrontiert sehen. Wir wissen nur, dass es sich um eine wichtige Entscheidung handelt - sonst wären sie sicherlich nicht zu uns gekommen."
Die Gedanken kreisen durch meinen Kopf. Seitdem ich dieses seltsame Kopfband für die Analyse anlegen musste, scheinen meine Gedankentore weit geöffnet zu sein, egal, ob ich das möchte oder nicht. Jeglicher Schutzmechanismus abgeschaltet. Zum Glück kann ich das Teil gleich wieder ablegen. Ich versuche mich auf meine Entscheidung zu konzentrieren, damit die Bilder auf den Monitoren nicht verfälscht werden. Ich möchte geliebt werden. Ich möchte im Kreise aller meiner Freunde und Verwandten sterben. Ich möchte nicht so unbedeutend sein, dass nur drei Menschen auf meiner Beerdigung erscheinen. Ich möchte anerkannt werden. Ich möchte nicht allein sein. Und daher lege ich meine Hand schließlich auf den rechten Bildschirm, und ein warmes Gefühl durchfährt mich. Ich kann geradezu spüren, wie sie alle Abschied von mir nehmen werden, wenn es denn einmal so weit ist...
...und daher unterschreibe ich endlich den Vertrag, der schon so viele Wochen auf meinem Schreibtisch liegt. Meine Chance, in der Karriereleiter aufzusteigen, nach vorne zu kommen. Das viele Nachdenken hat ein Ende, und ich bin wirklich froh, dass es diese neue Technologie gibt. Wer könnte mir eine bessere Entscheidungshilfe geben als ein Blick auf mein zukünftiges Ich? Ich freue mich schon sehr darauf, in der Firma noch besser integriert zu werden, meinen Freundeskreis zu vergrößern, mehr Rückhalt zu bekommen. Kein unauffälliger, ungeliebter Niemand mehr zu sein. Endlich werden sich die Menschen für mich interessieren, und dieses Bild der Videoprojektion verlässt mein geistiges Auge nicht so schnell. Das behalte ich im Blick, das ist ein Ziel, auf das ich hinarbeiten kann. Auf das es sich hinzustreben lohnt.
Es dauert nicht einmal eine Woche, bis mein erster Vertrauensvorschuss vor meiner Wohnung steht, ein fabrikneuer BMW in glänzendem Schwarz, und ich entscheide mich direkt für eine Fahrt über das Land - einfach nur fahren. Einfach nur die Freiheit genießen, aus den Boxen dröhnt ein Psybient-Soundtrack, der mein Gefühl vom Freisein noch weiter verstärkt. Ein Song klingt gerade aus, und ein Sprachsample schallt durch das Wageninnere - ein paar Sätze, die ich fast schon auswendig mitsprechen kann: "Because we simply cheated ourselves the whole way down the line. We thought of life by analogy with a journey, with a pilgrimage, which had a serious purpose at the end, and the thing was to get to that end - success or whatever it is, or maybe heaven after your death. But we missed the point the whole way along. It was a musical thing, and you were supposed to sing or dance while the music was being played." Ach ja? Und was ist so falsch daran, auf ein tolles Ende hinzuarbeiten? Der Technik sei Dank! Und ich drücke das Gaspedal tiefer...
[die Jahre gehen in's Land]
"...nehmen wir nun Abschied von dir." - und damit wird der Sarg ganz langsam in seine Grabstelle hinabgesenkt. Die Sonne scheint, ein eiskalter Wintertag, doch trotz der beißenden Kälte haben sich unzählige Menschen zusammengefunden, um Abschied zu nehmen. Kein Wunder - denn endlich können sie ihm alles sagen, was sie jahrelang mit sich herumgetragen hatten, aus Angst vor Konsequenzen. Es dauert, bis jeder, der etwas sagen möchte, seinen Worten Ausdruck verleihen kann. Jeder wirft eine Schaufel Friedhofserde auf den Sarg, und unter dem Stimmengewirr lassen sich keine eindeutigen Worte heraushören. Erst, als die Pastorin den Segen spricht, wird es ruhig. "Amen." Dann ein Räuspern in der Menge. "Und fick dich!" - "Du egozentrisches Arschloch!" - "Sklaventreiber!" - "Du hast irgendwann echt deinen eigenen Zug verpasst." - "Passt ja, wo er sich doch immer für den Zugführer gehalten hat." - "Ich frage mich, was aus ihm so einen Mistkerl gemacht hat..."
Seine Wahl vielleicht?
Disclaimer: Das Zitat stammt nicht aus meiner Feder, sondern von dem britischen Philosophen Alan Watts.
Montag, 7. Oktober 2019
Allein, und das ist auch gut so
Allein - und trotzdem glücklich? |
vorweg: Dieser Beitrag ist schon ein paar Monate alt. Allein = OK scheint ein immer wiederkehrendes Thema zu sein.
Ostern, wie es im Bilderbuch steht: Es ist sonnig, warm, die große Buba ist drüben bei ihrer Familie und sie feiern Ostern, wie so viele Familien es tun. Dass ich mit der Grundbedeutung von Ostern nichts zu tun habe, versteht sich bald von selbst. Für mich sieht es quasi wie eine weitere Gelegenheit für Kommerz aus, Osterpralinen, Karten, Geschenke, kauft, Leute, kauft! [genau wie mit Weihnachten jetzt gerade, nicht wahr?]
Ich verbringe den Großteil des Tages heute so, wie ich es seit längerer Zeit am liebsten tue: Allein. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie mir in meiner Jugend suggeriert worden ist, dass das falsch sei - in irgendeiner Weise nicht in Ordnung: "Du musst doch mal rausgehen!" - "Du musst doch mal was mit Freunden machen!" - "Du kannst doch nicht die ganze Zeit allein sein!" - jedesmal ohne, dass mir dafür nachvollziehbare Gründe gegeben worden wären.
Dennoch habe ich geglaubt, dass es so ist - weil ich es so oft gehört habe und immer dieser vorwurfsvolle Ton dabei war, oder vielleicht war es auch wieder nur mein Watzlawick-Ohr, und fast schon krampfhaft versucht, mich möglichst häufig mit Freunden zu verabreden, damit niemand etwas Schlechtes von mir denkt. Die Zwänge, denen man sich als Jugendlicher unterwirft. Und ich kann ja nicht die ganze Zeit allein sein, das geht ja gar nicht.
Irgendwann ist mir ein Phänomen aufgefallen: Ich habe mich mit jemandem verabredet, in ein paar Tagen, aber wenn dann der Tag gekommen ist, habe ich gar keine Lust, rauszugehen. Aus Höflichkeit mache ich das dann doch (zumindest manchmal - die Sannitanic hat sich an meine Absagen gewöhnt).
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich realisiert habe, dass ich tatsächlich allein sein darf und das Alleinsein sogar genießen darf. Hat ja auch seine Vorteile: Ich stoße nicht so vielen Menschen vor den Kopf mit meiner viel zu direkten Art, ich muss mich an niemandes Verhalten anpassen, ich muss auf niemanden Rücksicht nehmen, ich kann mich selbst verwirklichen.
Die große Buba ist der einzige Mensch, der - für gewöhnlich - eine Dauereintrittskarte bei mir hat. Irgendwie haben wir uns aufeinander eingespielt, viel zu gut. Ich muss mich bei ihr nicht verstellen, und das macht so einen gemeinsamen Abend richtig angenehm.
Ich glaube, es war das Wort "müssen", das diesen Beitrag angetrieben hat. "Du musst doch mal was mit Anderen unternehmen!" - ich versuche, diesen Satz aus meinem Lehrerrepertoire zu streichen, und wenn ich einen Schüler unterrichte, der sich ganz allein wohlfühlt, dann werde ich ihn nicht mit Krampf in irgendwelche Gruppen bringen.
post scriptum: Jetzt, wo es mittlerweile doch deutlich kälter wird, wird mir bewusst, dass ich "Chuck die Pflanze" das Winterhalbjahr über lieber in der Wohnung unterbringen sollte, anstatt im Bad. Das wird im Winter nämlich eiskalt, weil ich dort nicht heize. Ich hoffe, CdP stellt sich nicht so an mit dem Umzug ^^
Sonntag, 6. Oktober 2019
Chuck die Pflanze
Wenn Du diesen Titel verstehst, dann bist Du - alt. So wie ich. Und nerdiger geht es wohl kaum noch. Wenn Du allerdings denkst, dass der Titel eine Anspielung auf LeChuck sein soll, den Geisterpiraten aus Monkey Island, dann kennst Du dich in Adventures aus - aber ein Klassiker könnte Deinem Repertoire noch fehlen: Maniac Mansion. Das war der erste Auftritt von Chuck die Pflanze, die dann als Insiderwitz durch diverse Lucas Arts-Spiele gewandert ist. Fast so kultig wie Zak McKrackens Goldfisch Sushi im Glas.
Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass ich ewig nichts Grünes in der Wohnung hatte - das war damals in meiner WG ganz anders, da hatte ich Rankpflanzen, die über meine Regale gewandert sind, und sie haben es erstaunlich lange überlebt. Dann kamen Jahre ohne Zimmerpflanzen und mir hat gar nichts gefehlt - aber irgendwann ist mir im Bad der leere Fleck neben der Waschmaschine aufgefallen, und dann wurde es Zeit für eine Pflanze, ganz bewusst schön groß, weil ich gern im Kontakt mit Chuck die Pflanze leben möchte. Jetzt muss ich mir noch gründlich Pflegehinweise organisieren, und dann schauen wir mal, wie viele Tage - und Nächte - ich mit CdP verbringen kann ;-)
und die Nachtlicht-Variation |
Donnerstag, 3. Oktober 2019
Feierlaune (WEG HIER!!!)
Par-TAY anyone? |
Tag der Deutschen Einheit, und in diesem Jahr hat Schleswig-Holstein ja auch guten Grund zum Feiern (Vorsitz, rundes Jubiläum und so) - und da lässt sich das Land zwischen den Meeren nicht lumpen: Der ÖPNV in Kiel und die Bahnen in SH sind heute kostenlos, die Läden im Zentrum geöffnet, und der Effekt lässt nicht lange auf sich warten: Eine völlig überfüllte Kieler Innenstadt. Völlig überfüllte Busse auf den Hauptlinien (11, 6X, 10X, 50X, praktischerweise nach dem Samstagsfahrplan), jeder erwachsene Mensch entweder mit fünfzig Kindern an jeder Hand oder dabei, Selbstgespräche zu führen, wenn sie mit ihrem Knopf im Ohr reden - oder beides simultan. Absolute Überforderung für mich.
Das hat allerdings insofern ganz gut gepasst, als dass ich meinen täglichen Spaziergang mit dem Marsch in die City verbinden konnte und keinen Bus nehmen musste. Ich weiß nicht, wie oft ich Fibonacci im Sophienhof diesmal durchgehen musste, oftmals ist das schlimmste Gedränge irgendwo bei Sechshundertzehn überstanden.
Alle gehen heute feiern, naja, gefühlt alle. Das Polizeiaufgabot in der Innenstadt ist gewaltig, kein Wunder, alles zwischen Hauptbahnhof und Landtag ist heute ein wunderbares Ziel für Anschläge, so dass eine Mutti heute zu ihrer Tochter meinte - ungelogen: "Lucy, wenn wir irgendwo Menschen sehen, die sich vermummt haben, dann gehen wir ganz schnell auf die nächste Toilette!" Irgendwie witzig, wenn es nicht traurige Realität wäre, und auch diese riesigen Granitsäcke sind heute wie Pilze aus dem Boden geschossen, um die Fußgängerzonen zu schützen.
Dieser Feierwahn (heute sind unglaublich viele Schülercliquen mit Alkohol im Gepäck unterwegs) erinnert mich an meine Schulzeit - ab einer gewissen Jahrgangsstufe gehörte die Frage "Wochenende feiern?" zum Standardrepertoire, und für viele meiner Mitschüler war das Pahlazzo der Partytempel schlichtweg. Dithmarschen halt. Und irgendwie ist bei mir der Eindruck hängen geblieben, dass sehr viele Menschen hauptsächlich auf Parties gehen, um sich mit psychoaktiven Substanzen zu berauschen, Alk zum Beispiel. Fair enough.
Ich war nie auf auch nur einer dieser Feiern, weil mich das nie gereizt hat, und das tut es auch heute nicht. Die Musik, die da läuft, die interessiert mich schon lange nicht mehr (zur Schwarzen Szene kommen wir gleich), tanzen kann ich auch zuhause. "Ja, aber da kann ich mich endlich mal in der Freizeit mit ein paar Kumpels (ohgott, ich habe erst Mupels geschrieben) treffen", sagt mir Jan, weil er's kann. Vollkommen nachvollziehbar, aber ich treffe mich so gut wie nie mit anderen Menschen. "Und sie fühlen sich wohl damit", fragte die Psychiaterin, und ich sagte "Ja". Das finde ich deswegen interessant, weil mir in meiner Jugend und vor allem dann Richtung Studium immer wieder Menschen gesagt haben "Du musst doch mal was mit anderen Leuten unternehmen", und ich habe nett gelächelt und gesagt "Joah", heute verneine ich das einfach.
Ich bin nicht so sehr an Menschenmengen interessiert, und die einzige Party, die ich freiwillig besuche, ist die Lost Souls, weil da Menschen wie ich herumlaufen - nicht, dass ich irgendjemanden davon ansprechen würde - weil da Musik läuft, die ich mag, und wenn nicht gerade irgendein floorfiller läuft, dann habe ich da meinen kleinen, gemütlichen Tanzquadratmeter, und das reicht. Mehr mache ich auch auf dieser Party nicht. Ich esse nichts, ich trinke nichts, ich unterhalte mich mit niemandem, sondern tanze je nach Kondition zwei bis drei Stunden durch und dann gehe ich wieder.
So hat halt jeder Mensch seine eigene Vorstellung vom Feiern. Und damals dachte ich, dass mit mir was nicht stimmt, weil ich nie in's Pahlazzo mitgehen wollte, wenn jemand gefragt hat. Heute weiß ich, dass das OK ist.
Und Euch einen schönen Dritten Oktober!
Dienstag, 1. Oktober 2019
Autobahn-Sulli
1986 geschlossen, ich war drei Jahre alt, als wir auf der neuen Brücke daneben vorbeigefahren sind - Sulli anyone? |
Autobahn-Sulli - was sich anhört wie das debile Gebrabbel eines nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Sechsundneunzigjährigen auf dem Weg in die geschlossene Anstalt, ist in Wahrheit das unverständliche Gebrabbel eines noch nicht ganz zurechnungsfähigen Sechsjährigen auf der Autofahrt zum regulären Besuch bei'm Hautarzt.
Wer von Euch ebenfalls Neurodermitiker ist (und nicht war, denn die Erkrankung ist nicht heilbar) - und jetzt vielleicht überhaupt keine der Symptome mehr ertragen muss - kann sich womöglich noch gut an seine Kindheit erinnern, in der er vielleicht mit ebenso stark ausgeprägter Symptomatik zu kämpfen hatte wie ich: Pusteln, Flechte, Schuppen, Entzündungen, blutige Kratzer, Verkrustungen - für Eltern eine gewaltige Herausforderung, zumindest damals, wenn man auf dem Land lebte und ein guter Kinder-Facharzt seine Praxis eine Autostunde entfernt hatte.
Viele, lange, mühselige Autofahrten. Und jedesmal über den Nord-Ostsee-Kanal (NOK). Damals noch über die alte NOK-Hochbrücke bei... irgendwo bei Beldorf in der Nähe. Heute über das neue, ästhetisch doch deutlich langweiligere Bauwerk. Und das war nicht die einzige Brücke der A Dreiundzwanzig. Und aus irgendeinem Grund war ich ungaublich fasziniert von der Architektur dieser Brücken, besonders von den Bogenkonstruktionen. Genau wie bei Bahnfahrten: Tunnels und Brücken waren unglaublich spannend, auch wenn ich schon zum xten Mal durch diesen Tunnel oder über jene Brücke gefahren bin.
Ich war so fasziniert von dieser Brückenkonstruktion, dass mir dazu wohl das Wort "Autobahn-Sulli" eingefallen sein muss. Und nicht einfach nur als einmalige Wortkonstruktion eines Kindes, das zuviel redet; meine Mutter weiß bis heute, und erinnert mich auch bis heute daran, wie ich immer, wenn wir an einer bestimmten Brücke vorbeigekommen sind, "Autobahn-Sulli" gesagt habe.
Nun sind kreative Wortexperimente bei Kleinkindern nicht ungewöhnlich, aber meistens haben sie einen Bezug zur Realität - oder nicht? Eltern, fühlt Euch angesprochen, denn Ihr kennt diese Sachen wie "Nudel-Nam", und irgendwie kann man sich das ja auch erklären - denn "mjamjamjam" ist weit verbreitet. Allerdings kann ich mir bis heute nicht erklären, wie ich auf "Autobahn-Sulli" gekommen bin; der einzige Ansatz, der sich mir bietet: Ich habe schon früh viel gelesen, und es kann sein, dass ich das Wort "Säule" bereits irgendwo gelesen hatte, und wenn man an diesen Bogenkonstruktionen mit senkrechten Stützstreben vorbeifährt, könnten die tatsächlich wie Säulen ausgesehen haben.
Ich muss bei der Geschichte immer an das Konzept der Synästhesie denken - dass mehrere Sinne sich gegenseitig beeinflussen, dass man zum Beispiel Farben hören kann - ich hatte einmal darüber geschrieben (Ich hör' nur Bahnhof).
Haben Eure Kinder auch scheinbar unerklärliche Wortgebilde anzubieten, die sie mit einer solchen Beharrlichkeit immer wiederholen? ;-)
Abonnieren
Posts (Atom)