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Samstag, 19. August 2023

Tag 11&19 - Der vierzigste Geburtstag


Teil 1

Hallo Flo!

Heute ist mein Geburtstag, das bedeutet, dass Du in ein paar Tagen dran bist. Ich nulle, um Sir Peter Ustinov zu paraphrasieren: Ein Jubiläum ist ein Tag, an dem eine Null für eine Null von vielen Nullen gefeiert wird. Vierzig also. Ich verbringe den Tag wie immer seit einigen Jahren ganz allein und eher ruhig. Das macht mir nichts aus, im Gegenteil, ich empfinde das sogar als sehr angenehm, und da wären wir bei dem Grund, warum ich Dir schreibe.

Es ist gut zehn Jahre her, dass wir uns näher kennengelernt haben, damals wohnte ich in dieser miesen kleinen Wohnung mit der Kesseltherme für heißes Wasser; damals hast Du dich ein paarmal auf den Weg gemacht, um mich zu besuchen. Das war schön, das waren Highlights, die mir durch das Referendariat geholfen haben. Du warst damals fünfundzwanzig Jahre alt, und ich bildete mir tatsächlich ein, dass es damals einen klitzekleinen Unterschied zwischen uns in der Reife gab. Es wäre witzig, einmal zu sehen, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn wir beide zehn Jahre älter gewesen wären.

Wahrscheinlich nicht anders; boys will be boys. Wir würden Spaß haben, viel miteinander reden, und ich würde es wahrscheinlich genau wie damals schaffen, Dich immer wieder zu verletzen mit Kleinigkeiten, die ich Dir etwas zu direkt gesagt hatte. Und ich würde mich genauso wundern, dass Du trotzdem immer wiedergekommen bist. Du hast Dich weder von meiner Art abbringen lassen noch von Deinen Freunden und Deiner Familie, die Dir sehr deutlich gemacht haben, dass sie nicht wollen, dass wir Zeit zusammen verbringen. Weil ich ein Freak sei.

Wir konnten damals ganz offen darüber reden, vielleicht erinnerst Du dich. Und ich hatte Dir damals erklärt, dass es okay ist, dass sie so denken. Viele Menschen haben genau das über mich gedacht. Aber warum? Nur weil ich andere Kleidung getragen habe als sie? Sie hatten mich doch noch nicht einmal kennen gelernt - warum sind sie so schnell zu einem Urteil über mich gekommen? 

Weil ich anders bin, und viele Menschen reagieren mit Vorsicht, Angst oder daraus resultierendem Hass auf alles Unbekannte. Ich kenne das mein Leben lang, und bis vor ein paar Jahren konnte ich nicht verstehen, warum. Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen, warum bekam ich "trotzdem" immer diese Behandlung? Zu jeder Zeit gab es maximal eine Handvoll Menschen, mit denen ich richtig eng befreundet war. Im Lateinstudium ging das etwas leichter, weil da mehrere Freaks waren, ebenfalls anders, und das macht die Kommunikation vielleicht etwas leichter.

Genau wie Du sind sie bei mir geblieben. Ich merke das besonders drastisch, wenn ich an eine neue Schule komme und im neuen Kollegium viel über mich gelästert wird. Und es kommt kaum jemand auf mich zu mit dem Wunsch, mich etwas näher kennenzulernen und seine Meinung vielleicht zu ändern.

Oh, kleines Update, wenn ich schreibe "wenn ich an eine neue Schule komme" - ich habe noch immer keine unbefristete Stelle, ich habe mittlerweile an sieben verschiedenen Schulen unterrichtet. Ich würde gern sagen, dass meine Chance auf eine Planstelle in den letzten Jahren etwas gesunken sei, aber sie war immer schon niedrig, und leider kommt das auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht selten für Menschen wie mich vor. 

Unser Kontakt ist vor etwa sieben Jahren auf sehr unschöne Weise abgebrochen, und deswegen schreibe ich Dir jetzt, denn es gibt da etwas, das ich Dir seit Jahren mitteilen möchte - aber ich habe es immer wieder vor mir hergeschoben. Mal, weil ich dachte, dass ich es Dir lieber persönlich sagen würde, damit Du Fragen würdest stellen können, die Dir danach vielleicht in den Kopf kommen - mal, weil ich lange überlegt habe, wie ich Dir das mitteile - als Mail, als Brief oder vielleicht als Video auf einem USB-Stick.

Ich weiß, dass Du diesen Brief nicht lesen wirst, denn ich schicke ihn nicht an Dich. Es ist nur ein Beitrag für meinen Blog. Weil ich immer noch Angst habe, noch mehr Porzellan zwischen uns zu zerbrechen. Deswegen schreibe ich den Brief quasi als öffentlichen Tagebucheintrag, in dem ich ein paar Details auslasse, wegen privat und so. 

Was ich schreibe, soll keine Rechtfertigung für mein Verhalten von damals sein, sondern eine Erklärung, damit wir nicht genau wie damals ratlos bleiben, was bei uns nicht geklappt hat. Kurz und schmerzlos gesagt: Ich bin geistig behindert, ich bin Autist und Du nicht.

Ich wäre damals nie auf so eine Erklärung gekommen, und das, obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon mehrere AutistInnen unterrichtet hatte. Autisten, das waren für mich immer diese empathielosen Menschen, die kaum reden und einem nie in die Augen schauen können. Mittlerweile weiß ich, dass das "Autismusspektrumsstörung" heißt und es sie in ganz unterschiedlichen Ausprägungen gibt, auch in vermeintlich unauffälligen wie bei mir. Was bedeutet das konkret? Jetzt kommt keine psychiatrische Auflistung von Symptomen, sondern nur ein paar Dinge, die für uns damals hilfreich zu wissen gewesen wären.

Ich sage Menschen in der Regel völlig unverblümt, was ich denke - und das kommt nicht bei allen gut an, gerade wenn ich sie auf vermeintliche Fehler ihrerseits hinweise. Dabei will ich damit eigentlich nur helfen - und dass ich nicht emotionslos bin, das haben wir damals recht gut gemerkt. Ich nehme die Welt nur anders wahr, sachlicher. Ich deute nicht in jede Kleinigkeit etwas hinein, was man zu mir sagt, und im Gegenzug meine ich alles, was ich sage, auch fast immer wörtlich. "Fast", weil ich bei meiner Diagnose "high functioning autism" mir Strategien überlegt habe, möglichst unauffällig zu sein. Ich beobachte, wie andere Menschen sich in Situationen "korrekt" verhalten und ahme es nach. Das hat so gut geklappt, dass in fünfunddreißig Jahren niemand auf die Idee gekommen ist, mich einmal zu einem Psychiater zu schicken. 

Nun wirst Du fünfunddreißig Jahre alt, und vielleicht möchte ich uns mit diesem Brief auch "closure" bringen, das Gefühl, dass alles in Ordnung ist und wir mit unseren Brennpunkten von damals abschließen können. Ich bin Autist und Du neurotypisch - quasi "normal". Und das hat zwischen uns für Missverständnisse gesorgt, wir haben uns gegenseitig verletzt. Es hat aber auch dafür gesorgt, dass Du bei mir geblieben bist - sei es nun wegen der Ausstrahlung meinerseits (Du hattest damals so etwas zu mir gesagt), oder - eher noch - weil Du auf Deine Weise ein anderer Mensch bist als viele Anderen.

Du hast Dir die Zeit und das dicke Fell genommen, mich näher kennenzulernen, und so ist es nicht zu dieser Ablehnung gegenüber dem Unbekannten gekommen. Du bist ein aufgeschlossener Mensch, offen und neugierig; nicht jeder kann das von sich behaupten, und das war ein Glück für uns. Wie damals meine SchülerInnen (wir wollen ja politisch korrekt sein, woke eben ^^): Die haben mich wenigstens vier bis fünf Wochenstunden lang kennengelernt und nicht nur vom Hörensagen, und sie waren fast immer ganz auf meiner Seite, das hat mir viel Kraft gegeben, wenn Eltern oder Schulleitungen mir aufgrund Hörensagens die Hölle heiß gemacht haben, eben weil ich so ein unkonventioneller Lehrer bin.

Du nicht - und dafür möchte ich mich aufrichtig bedanken. Ich hoffe, dass Du dir diese Offenheit bewahren kannst, Menschen nicht nach dem Äußeren zu beurteilen. Der Spruch mit dem Buch und Cover kam damals öfters von Dir ;-) Und letzten Endes sind wir damals nicht auseinander gegangen, weil es zwischen uns nicht funktioniert hätte - das hat nur die Probleme verstärkt, die wir damals aufgrund des Drucks von der "Außenwelt" hatten. Der war für uns beide schwer auszuhalten.

Ich hoffe, mit dieser Erklärung kann ich Dir ein wenig von Deinen Schuldgefühlen nehmen, dass Du es zwischen uns zerbrochen hast. Ich weiß jedenfalls, dass es mir viele dieser Schuldgefühle genommen hat, ich weiß, dass es aufgrund der Kommunikationsprobleme zwischen einem Autisten und einem neurotypischen Menschen diese "Streits" gab, die nie stark genug waren, um zu verdecken, dass wir tatsächlich Freunde waren - und vielleicht immer noch sind. Meinerseits auf jeden Fall. Ich trage fast immer, wenn ich rausgehe, den Anhänger mit mir, und hin und wieder fragen SchülerInnen auch mal nach, was es damit auf sich hat ;-) Und es hängt auch immer noch das große Bild in der Wohnung, von unserem "Fotoshoot" mit meinem Bruder damals. 

Ich bin jedenfalls nach allem glücklich, dass wir uns kennengelernt haben, denn es hat mir so viel über mich selbst verraten. So hast Du es damals auch formuliert, auf Dich selbst bezogen. Eine Ähnlichkeit gab es dabei - wir haben beide gelernt, inwiefern unser Verhalten andere Menschen verletzen konnte, und haben versucht, bessere Menschen aus uns zu machen.

"Bessere Menschen", was für ein blöder Ausdruck. Als müsste man einen Soll erfüllen, um ein guter Mensch zu sein. Ich glaube immer an das Gute im Menschen.

Danke, Flo, dass Du auch so geglaubt hast, und sicherlich auch immer noch glaubst. Behalte Dir das bei! Und vielleicht siehst Du unsere gemeinsame Zeit damals ja auch inzwischen mit etwas anderen Augen, schon weil Du etwas "reifer" greworden bist, und damit bin ich wieder bei dem Käse von oben mit dem Alters- und Reifeunterschied zwischen uns. Du bist nun etwas älter, als ich es damals war. Würdest Du nun Dinge anders machen als damals? Wer weiß das schon...

Happy Birthday!

Mit vielen lieben und dankbaren Grüßen,

Dr Hilarius 

ps.: Immer fleißig an's "Putzen, putzen" denken" :D 

 

Teil 2

Wie verbringe ich meinen vierzigsten Geburtstag? Ehrlich gesagt, habe ich darüber erst nachgedacht, als die große Buba am Vorabend da war. Tag wie jeder Andere, oder? Ach warte mal, diesmal ja mit einer Null, als ob das etwas Besonderes wäre. Wird mein Leben jetzt irgendwie anders?

Ich meine mich zu erinnern, wie ich an meinem dreißigsten Geburtstag mit der Tante in Husum in einem Café war, und ich glaube, ich meinte damals, dass mein Leben sich etwas aufregender anfühlte - dass ich gespannt sei auf alles, was in den Dreißigern passiert, und dass ich wie ein neugieriger Entdecke darauf zu gehe.

Inzwischen habe ich viele Antworten gefunden, teilweise auf Fragen, die ich mir gar nicht gestellt habe. Ich fühle mich nicht ganz so entdeckerig-neugierig, im Gegenteil, ich fühle mich ein kleines bisschen müde. Ich vermute mal sehr stark, dass das mit meiner beruflichen und privaten Talfahrt zusammenhängt.

Immerhin fühle ich mich aber optimistisch. Nicht, dass ich einen unbefristeten Job finde, und erst recht nicht, dass ich verbeamtet würde. Auch nicht, dass ich rechtzeitig mein Arbeitslosengeld bekomme. Kleine Schritte gehen: Erstmal optimistsch sein, dass ich vielleicht doch noch meinen Schwerbehindertenstatus bekomme.

Aber auch realistisch bleiben. Mir wird jetzt noch übel, wenn ich an die vielen Mitmenschen denke, die mir gesagt haben, okay, dann hat das jetzt an der Schule nicht geklappt, aber nächstesmal bewerbe ich mich als Schwerbehinderter, und dann bekomme ich endlich meine Stelle - und dann kam die "Ablehnung" vom LaSD.

Ich hasse solche "Versprechungen", die sich dann als leider falsch herausstellen. Deswegen ist einer der Gedanken im Buddhismus, dass das Leben leichter ist, wenn man sich keine Hoffnungen macht - denn die haben immer das Potential, zu Enttäuschungen zu führen.

Ich wollte Einiges in den Ferien machen, ich wollte meine Eltern besuchen, in den Hansa-Park fahren, ich wollte in Hamburg mit der S-Bahn fahren und endlich mein Bad auf Vordermann bringen. Während manchmal einfach das Wetter in diesem Sommer dagegen war, lag es teilweise auch an eben jenen Enttäuschungen, die mich jedesmal wieder in eine Art Schockstarre versetzt haben. Ich habe es satt, aber ich kann eben auch nichts dagegen tun. Nichts gegen unser Schulsystem (oder zumindest Aspekte davon) und nichts gegen Teile unserer social security.

Auch wenn ich meinen Geburtstag seit Jahren immer allein verbringe, spüre ich an diesem Tag die lieben Menschen, die in Gedanken bei mir sind. Es ist immer ein Meditationstag, und wie in jeder Meditation geht es zuerst immer darum, die größten Probleme gedanklich anzugehen, damit man am Ende vielleicht bei ausschließlich positiven Denkweisen ankommen kann. 

Wie wird es wohl, wenn ich meinen fünfzigsten Geburtstag habe? Die große Buba hat auf ihre Karte für mich ganz charmant geschrieben, dass sie dem alten Frettchen zum hundertsten Geburtstag gratuliert (und ich wiehbe sie dafür). Und im Flur hängen jetzt zwei Thalia-Titten, in die ich immer reinrenne, wenn ich aus dem Bad komme, und so langsam sehen sie aus, als hätte da jemand die Luft rausgelassen.

Aufgabe für das neue Lebensjahr: Die Ballons nicht zum Sinnbild für mein Leben werden lassen! ;-)

Donnerstag, 20. Mai 2021

Fast Privatunterricht


Meinen Drei-Schüler-Rekord habe ich heute Nachmittag unterboten, als in der achten und neunten Stunde tatsächlich nur zwei Schüler aus meiner Lerngruppe vor Ort waren. Irgendwie ist das ein surrealer Moment - man geht auf den Klassenraum zu, geht durch die Tür und es sitzt nur eine Schülerin da.

"Hey Frettchen! Die anderen sind wahrscheinlich noch in der Mensa? Oder auf dem Schulhof?"

"Nein, ich bin nur noch übrig und Töwe, der kommt gleich. Nur wir zwei."

Also haben wir quasi Privatunterricht gemacht: Die Schülerin, der Autist, die Schulbegleitung und ich - und wir haben die Gelegenheit genutzt, Englisch zu reden, denn wenn weniger Mitschüler da sind, ist der Gedanke "Ich trau mich nicht, das zu sagen, das ist bestimmt falsch" nicht mehr so stark. Es war tatsächlich total entspannt, und so haben wir uns über das Thema Liebe unterhalten, und die Frage erörtert, ob Liebe auch unheimlich sein kann, ob sie Horror sein kann, oder ob sie einen verletzen kann. 

Dazu haben wir uns eine der besten Folgen Are You Afraid Of The Dark? angeschaut - The Tale of the Dream Girl, in dem es um Johnny und Erica geht, Bruder und Schwester, die die besten Freunde sind, bis Johnny eines Tages in seinem Spind einen mysteriösen Ring findet. Ganz ehrlich, das ist eine tolle Episode, die man wunderbar mit Mittelstuflern schauen kann - nicht zu unheimlich, bisschen romantisch. Sie hat ein wunderbares twist ending, Jahre vor einem Hollywood-Film, der es weltweit bekannt gemacht hat. Wenn Ihr fünfundzwanzig Minuten Zeit habt, dann schaut Euch die Geschichte unten an.

Ich war jedenfalls total überrascht, wie gut sowohl Schülerin als auch Autist Zugang zu der Story gefunden haben, wir haben zwischendurch überlegt, wie es wohl weitergehen könnte, versucht, Erklärungen zu finden - eine der schönsten Englischstunden dieser Woche. Nice!

Und hier könnt Ihr Euch The Tale of the Dream Girl ansehen:



Freitag, 11. September 2020

Kontaktaufnahme


Und plötzlich ist Er wieder da. Ohne Vorwarnung taucht Er wieder in meinen Gedanken auf. Das ist ungewöhnlich, denn wir haben seit mehr als vier Jahren keinen Kontakt mehr, und mein Leben ist durch die vielen Schulwechsel so sehr den Bach runtergegangen, dass ich in meinem Kopf einfach keinen Platz mehr für ihn hatte. Im Gegenteil, ich war froh, dass ich mich auf mich selbst konzentrieren konnte. Ich bin ihm auch aktiv aus dem Weg gegangen, habe mir die zweite Hälfte der letzten Saturnalien nicht angeschaut, weil Er sich direkt schräg vor mich gesetzt hatte.

Und jetzt wabern immer wieder Gedanken an ihn durch meinen Kopf, und das fühlt sich so gut an. Bleibt wie im Inner Landscapes-Thread: Ich werde ihn nicht wieder drängeln. Aber ich möchte ihm ein kleines Zeichen geben, dass es mich noch gibt, und ihm signalisieren, dass ich hier bin und meine Tür offen ist, falls er wieder etwas Zeit mit mir verbringen möchte. Und ich mache mir auch überhaupt keine Erwartungen mehr, der Buddhismus hat mich in der Hinsicht sehr verändert.

Aber es fühlt sich schön an, der Gedanke, dass er sich einen Videogruß von mir anschauen könnte. Und genau dieser Gedanke macht es wert, diesen Beitrag zu schreiben, denn er signalisiert mir, dass - endlich - langsam alles in meinem Leben wieder in Ordnung kommen könnte, hinsichtlich Berufsaussichten. Und dieses schöne Gefühl wollte ich mit Euch teilen.

Freitag, 31. Juli 2020

Durchgebrannt (T'n'T)

Die Hochzeitsgesellschaft

Ich bin mir nicht ganz sicher - kann es tatsächlich sein, dass ich diese Anekdote im Blog noch nicht erzählt habe? Falls ja, dann überspringt Ihr das einfach. Falls nein - nun, diese Geschichte zeigt, wie viel Unsinn man machen kann, wenn man jung ist. Ist vielleicht gerade nicht ganz unpassend, wenn man betrachtet, wie viele Jugendliche und junge Erwachsene momentan trotz der Corona-Pandemie es auf's Feiern anlegen - momentan ist die Berliner Hasenheide in den Medien, aber auch in Hamburg soll es Einschränkungen zum Alkoholausschank geben. Und was hat dieser Irre äi käi äi DrH damals im Studium gemacht? Er ist mit seinem damaligen Freund durchgebrannt - und hat seine "Hochzeitsgesellschaft" sitzengelassen.

Aber von Anfang an. Ich habe T vor fünfzehn Jahren kennengelernt. Wir waren damals im Kieler Birdcage für einen netten Abend. Mein Freund D (wir waren damals seit einigen Wochen im Guten getrennt) hatte mich dorthin geschleppt, er wollte sich mit seinem Ex treffen, der hatte seinen neuen Partner dabei, und irgendwie waren wir dann also eine Tuckenrunde, in der scheinbar jeder was mit jedem hatte, außer mir. Ja, so ist die Schwulenszene nun mal; auch wenn nicht alle so sind, so werden Partner doch gern und häufig weitergereicht. Man nimmt eben, was man bekommen kann, als Minderheit in der Bevölkerung, und außerdem habe ich den Eindruck, dass Schwule sexuell aufgeschlossener sind - wenn sie denn ihr closet erstmal aufgeschlossen haben.

Ich fand T damals sofort total süß. Er sah ziemlich jung aus, hatte ein richtig niedliches Gesicht und Lächeln und überhaupt, ich war sofort in ihn verschossen - aber das behielt ich natürlich für mich. Nach und nach fingen wir an, über die blauen Seiten zu chatten, und so kam eins zum anderen, beziehungsweise ich kam im Auto eines Nachts zu ihm nach Westerhever auf Eiderstedt, wo er seinen Zivildienst in einem Pflegeheim absolvierte. Einfach nur für einen Filmabend, selbstverständlich, ich war viel zu schüchtern, um nach etwas Anderem zu fragen. Wir haben Sommersturm geschaut, ausgerechnet.

Sorry, es wird auch ein bisschen romantisch und kitschig - durchhalten!

Das war zwar nicht im Sommer, aber es war trotzdem stürmisch. Das hat es drinnen umso gemütlicher gemacht, und es hat nach dem Ende des Films nicht mehr lange gedauert, bis wir zusammen auf's Bett gefallen sind und gekuschelt haben. Das war einer dieser Momente, die bestimmt einige von Euch kennen - endlich ist diese Barriere gefallen, ich weiß, dass ich den Anderen küssen darf, die Schüchternheit darf mal etwas in den Hintergrund rücken. In dieser Stimmung hat T mir erzählt, dass er sich bereits an diesem Abend im Birdcage vor einigen Monaten in mich verguckt hat. Das hat wohl auf Gegenseitigkeit beruht, das ist eine Grundlage für immerhin ein paar schöne Momente. Außerdem hat es irgendwie gepasst - ohne in die Details zu gehen, kann man sagen, dass T'n'T charakterlich und sexuell ganz gut zusammengepasst haben.

Wir waren außerdem beide gern albern und etwas kindlich. "Etwas??" mag sich jetzt vielleicht die Sannitanic fragen. Ja, genau wie bei der großen Buba habe ich auch bei T in den Kindheitsmodus gewechselt; man könnte fast sagen, ich hätte mich schwul verhalten. An solch' einem albernen Abend haben wir uns überlegt, dass wir doch einfach mal heiraten könnten. Nicht Standesamtiges, nichts Kirchliches, einfach nur eine kleine nette spielerische Geste. Das war natürlich nur ein Hirngespinst, aber an dem Abend haben wir uns das richtig detailliert ausgemalt - ein schönes Essen, eine richtige Predigt, alle in tollen Outfits, und natürlich würden wir dann auch durchbrennen und einfach mit dem Wagen von Kiel nach Dithmarschen fahren, an die Westküste, zu meinen Eltern, und dort die Hochzeitsnacht verbringen.

Diese Hirngespinste sind nach und nach so detailliert geworden, dass wir uns fragten, warum wir eigentlich noch überlegen. Dass das eine völlig schwachsinnige, irre, planlose, wilde Idee war - geschenkt. Wir sind Twens, wir wollen high life in Tüten, also warum nicht? Und so haben wir uns zusammengesetzt und einen Plan gebastelt. Rückblickend: Perfekt - Pläne, die dann eingehalten werden können, finde ich toll, das entspannt mich, und deswegen haben wir einen genauen Ablauf für das Event vorgesehen, das ich im Folgenden einfach Hochzeit nenne.

Als Erstes würden wir uns bei Burger King treffen. Freunde des Bräutigams und des Bräutigams. Dort würden wir uns vollstopfen, und dort würden wir auch die Trauung durchführen lassen. Wer würde uns wohl die Ehre des Standesbeamten erweisen? Ich fand es großartig, dass YazzTazz sich bereiterklärt hat, die Hochzeit zu vollziehen, in einem wunderschönen Bollywood-Outfit, und die anderen Gäste bitte in Abendgarderobe. Das sollte problemlos ablaufen. Danach gehen wir dann die zweihundert Meter Richtung Kronshagener Berge, alle Gäste werden in mein Zimmer verfrachtet, und ich bereite in der Küche den Nachtisch zu. Das wäre meine Ausrede, um aus dem Zimmer zu verschwinden. Und T? Der würde sich einfach auf's Klo entschuldigen. 

Und dann? Wie bekommen wir das hin, ihnen klarzumachen, dass wir durchbrennen würden - nicht, dass sie sich noch ernsthaft Sorgen machen, wenn wir plötzlich unauffindbar sind. Wie man es auch dreht und wendet - wir brauchten einen Komplizen. Einer der Gäste musste in den Plan eingeweiht sein, musste den genauen Ablauf kennen und zur Not die richtigen Schritte im Ablaufplan dirigieren. Es musste jemand sein, auf den ich mich absolut verlassen konnte, jemand, der den anderen Gästen eher unbekannt war, damit nichts rausrutschen konnte. Also fragte ich bei meiner besten Freundin A an, jene, in die ich damals in der Oberstufe verliebt war. A fand die Idee witzig und machte sich von Dithmarschen auf den Weg, um unsere Verbündete zu werden. Dann mussten wir nur noch einen "Abschiedsbrief" vorbereiten, Knabbersachen und Getränke bereitstellen, damit die zurückgelassenen Gäste sich trotzdem noch einen schönen Abend machen können. 

Genau so haben wir das Event dann durchgezogen. Es hat alles geklappt wie am Schnürchen, YazzTazzs Rede war schön, das Essen war lecker, die Gesellschaft sehr nett, niemand hat Verdacht geschöpft. Ein irres Gefühl, wie der Puls schneller wird, wenn man realisiert, dass es nur noch ein paar Minuten sind, bis man die Wohnung verlässt. Aufregend! T war genau so aufgeregt, aber wir versuchten, uns nichts anmerken zu lassen. Als der Nachtisch fertig zubereitet war, gab ich A und T im Zimmer das verabredete Zeichen und begab mich auf die Flucht - T einen kleinen Moment später. Aufgeregt standen wir im Fahrstuhl nach unten, der Puls rast, hoffentlich merken sie noch nichts, wäre zu blöd, wenn sie uns doch noch abfangen. Aber trotz aller Aufregung musste ein romantischer Kuss im Fahrstuhl noch sein. Dann ab in den Wagen, die Taschen schon längst eingepackt, und raus aus Kiel, total verliebt.

Ein einziger Wehmutstropfen blieb - ich hätte zu gern miterlebt, wann die Anderen merken, dass etwas nicht stimmt, und wie sie darauf reagieren, und was sie aus dem Abend machen. Schon damals war ich intensiv daran interessiert, menschliches Verhalten zu beobachten, und das wäre echt toll gewesen. Leider hatte ich dazu keine Gelegenheit.

...würde ich sagen, wenn wir nicht auch das mit eingeplant hätten, und so hatte ich in meinem Bücherregal ein Diktiergerät versteckt und auf Aufnahme geschaltet. So habe ich am Sonntag Abend einen kompletten Tonmitschnitt des Abends vorgefunden, habe mir ein leckeres Essen zubereitet und dann genüsslich schmunzelnd angehört, was die anderen Gäste so erlebt haben. Ich habe diese Datei auch heute noch, und es ist immer wieder schön zu erleben, wie die Anderen sich zunächst irgendwann fragen, wo T'n'T so lange sind - Mutmaßung: T ist zu T auf die Toilette gegangen und sie machen dort herum. Lacher. Einige Minuten später wird es etwas ernster, einer macht sich auf die Suche, findet aber niemanden. Leider auch nicht den Abschiedsbrief, den wir nicht sehr subtil an die Eingangstür gehängt hatten. Zum Glück war A noch vor Ort, und hat unauffällig den Zettel gefunden und alle aufgeklärt, dass wir durchgebrannt sind. Zu schön, sich die Gesichter in dem Moment vorzustellen!

Nun hätte ich ja gedacht, dass sie dann einfach den Nachtisch essen und nach Hause gehen - aber Studenten feiern nun mal gern, und so haben sie sich den Nachtisch aufgeteilt und nette Musik angemacht - Zitat: "Gute Musik bei T zu finden - ein hoffnungsloses Unterfangen." und sind dann schließlich bei ABBA Gold gelandet; von da an haben sie sich noch einen schönen Abend gemacht, zwei Stunden lang nett unterhalten, amüsiert über unser Durchbrennen, und haben sich Pläne überlegt, wie sie sich "rächen" könnten, darunter das Bett auseinander bauen oder alle CDs in den Alben vertauschen. Großartig! 

Unter'm Strich muss ich sagen - egal, wie dämlich die Idee auch gewesen sein mag, es war aufregend und wir hatten jede Menge Spaß. Eine Anekdote, an die ich mich vermutlich noch lange erinnern werde. Und unsere Eheringe haben wir noch heute ;-)


Dienstag, 19. Mai 2020

Vermisse ich Dich?

Vermisse ich ihn?

Die große Buba: "Es wird Zeit, dass Sommerferien sind, ich vermisse dich soooooooo sehr!"
Dr Hilarius: "Ich vermute, das klingt jetzt grausam, aber ich vermisse dich nicht."

Ich bin sehr gut erzogen worden und habe gelernt, Menschen Dinge zu sagen, die sie hören wollen. Wenn mir jemand sagt "Ich vermisse dich", dann antworte ich automatisch "Ich dich auch". Wenn meine Eltern mir sagen "Wir haben dich lieb", dann antworte ich "Ich euch auch". Das ist ein Automatismus - den ich dank der Nachricht von der großen Buba (oben) hinterfragen muss.

Sie hat mir also geschrieben, dass sie sich schon auf das Wiedersehen freut, und dass sie mich vermisst. Diesmal habe ich mich vor der Automatik-Antwort gefragt, ob das bei mir eigentlich auch so ist. Und die eiskalte Antwort lautet "Nein". Ich freue mich auf das Wiedersehen, definitiv, aber wenn DGB ein Jahr nicht mehr zu Besuch kommen könnte, würde mich das auch nicht stören. Ich vermisse sie nicht - ich vermisse überhaupt keine Menschen, glaube ich.

Ich habe sie dann gefragt, wie sich das denn anfühlen müsste, wenn man jemanden vermisst, und habe ihr gesagt, dass ich dieses Gefühl (trotz der Automatik-Antwort) eigentlich überhaupt nicht kenne. Sie hat dann ganz klug gefragt "Hast du nie dieses Gefühl, dass du einen Film unbedingt gern nochmal sehen würdest?" - und damit hat sie mich ertappt. Doch, das kenne ich. Wenn es nicht so wäre, hätte ich nicht zwei Filmtaschen hier herumstehen. Aber ist "Lust auf etwas haben" das Gleiche wie "Etwas vermissen"? Könnt Ihr mir das erklären?

Ich glaube, ich bleibe erstmal bei der Asperger-Theorie: Ich vermisse Dinge, keine Menschen. Das klingt vielleicht richtig grausam, aber es ist so: Meine Oma wird irgendwann sterben - und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich sie vermissen werde. Sonst würde ich sie doch auch öfters besucht haben - oder? Und dieses Bewusstsein tut ein bisschen weh. Vermisse ich die Sannitanic? Nein - es ist schön, dass wir uns schreiben können, aber ich habe nicht dieses "Oh, ich möchte sie gern mal wieder besuchen". Nicht böse sein, Du weißt mittlerweile, wie ich ticke. Und Du weißt, dass ich sehr glücklich bin, dass es Dich gibt.

Vermisse ich Flo? Nein... und trotzdem liebe ich ihn immer noch. Sehr komische Gemengelage. Ich freue mich riesig darauf, wenn wir uns einmal wiedersehen können - so wie ich mich auf die große Buba im Sommer freue. Aber vermissen? Wie fühlt sich so etwas an? Please tell me!

post scriptum: Papa, ich weiß, dass Du das hier liest - und ich habe mir überall in der Wohnung Zettel aufgehängt, damit ich es nicht vergesse - HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM GEBURTSTAG! :-) Ich vergesse andauernd Geburtstage (wobei ich auch nicht ganz verstehe, warum man zu so etwas gratuliert), und immerhin habe ich auf diese Weise heute daran gedacht, und ich hoffe, Du hast Deinen Tag in vollen Zügen (und Bussen) genossen!

paulo post scriptum: Ich habe DGB falsch zitiert - sie hat das so nicht gesagt. Sie hat etwas Ähnliches gesagt, was in mir den Gedanken "Ich vermisse Dich nicht" geweckt hat. DrH, Du solltest ein bisschen besser recherchieren! ;-P

Samstag, 14. Dezember 2019

...da ist Er...

(talk to me)

vorweg: Klaus, ich verschiebe Dich auf morgen, nimm' es nicht persönlich. Oh, und die Plakatkampagne von gestern hängt in Kiel auch mit schwulen Pärchen ;-)

Vor einiger Zeit schreibt Er bei Facebook. Fragt nach der Handynummer, um Kontakt zu halten, weil Er FB nicht mehr nutzen möchte. Ich antworte, dass ich immer noch kein Handy habe, aber dass ich ihm bald eine Mail schreiben werde. Er antwortet, dass Er sich darauf freut. Das war vor anderthalb Jahren. Und ich habe ihm bis heute nicht geschrieben, obwohl hier seit über einem Jahr ein Mailentwurf liegt.

Vor ein paar Wochen. Ich bin an der Bushaltestelle, warte auf den Bus. Dort kommt Er, aus der Nebenstraße, erkennt mich, strahlt, winkt mir zu. Ich strahle zurück, winke auch, und gehe dann zügig zu Fuß weg, bevor Er über die Straße kommen kann, und gehe den ganzen Weg zu Fuß.

Vor einigen Tagen, ich kaufe ein in dem Laden in dem Er mit Nebenjob arbeitet. Ich gehe an seiner Abteilung vorbei, dort steht Er, hinter der Auslage, vier Schritte vor mir, den Rücken zugewandt. Für eine Sekunde bleibe ich stehen, eine zweite Sekunde überlege ich... und dann gehe ich schnell weiter...

Gestern, Saturnalien. Ich sitze auf meinem Platz, am Rand, das mag ich lieber als zwischen all' den Leuten. Plötzlich steht Er neben mir, strahlt mich an, "Hallo Dr H!" - ich strahle zurück, "Hallo Herr B!" und strecke ihm von meinem Sitzplatz aus die Hand entgegen. Er schaut etwas verwirrt auf meine Hand, "Okay... ... hey, ich sitze vor dir!" - "Super, dann kann ich dich in den Nacken pieksen!" - und das waren die letzten Worte und Blicke für diesen Abend, das habe ich zu verantworten.

Ich weiß nicht, was Er daraus liest - ich vermute mal nichts. Aber der überraschte Blick, als ich ihm einfach nur die Hand hingestreckt habe, der ließ sich gut deuten. Als Frage, warum ich nicht aufstehe, warum ich ihn nicht in den Arm nehme, so wie früher. Und ich bin mir sicher, dass ich mehr darüber nachdenke als Er. Und dass ich überhaupt nachdenke, killt in meinem Kopf die Frage, ob ich ihn vermisse. Die Antwort liegt auf der Hand.

Ich wünsche mir wirklich sehr, wieder Zeit mit ihm verbringen zu können. Aber ich weiß auch, dass es einfach nicht geht, solange Er diesen Schritt auf mich zu nicht machen kann. Ich warte weiter.

Lojong-Losung 26: "Denke nicht über die Angelegenheiten Anderer nach"

Ich komm' klar.

post scriptum: Einen "Kommentar" zu den diesjährigen Saturnalien gibt es übermorgen!

Mittwoch, 16. Oktober 2019

vollkommen übERfordert

Mehr als schwarz und weiß

vorweg:   "Demnächst" (Eugen Roth)
                
                Ein Mensch spricht mit dem Freunde fern:
                Sie sähn sich - endlich! - wieder gern!
                Doch eh sie ganz die Glut entfachen,
                Um gleich ein Treffen auszumachen,
                Verlöschen eilig sie die Flammen:
                "Wir rufen demnächst uns zusammen!"
                Sie haben auch, nach drei, vier Wochen,
                Am Telefon sich neu besprochen;
                Und sie vereinen die Entschlüsse,
                Daß man sich demnächst sehen müsse.
                So trieben sies noch manches Jahr - 
                Bis einer - ohne Anschluß war.

Im Kopf fünf Schritte und drei Stunden weiter - einige von Euch kennen das. So konzentriert weiter, dass man von dem Hier und Jetzt nur die Hälfte mitbekommt und es sehr schwer fallen kann, "den Moment zu genießen". Für mich ist es, als würde ich mit meinen Aktionen ein Drehbuch abarbeiten, das ich fünf Schritte und drei Stunden früher geschrieben habe. Das klappt auch, solange das Drehbuch sich genau so entfaltet, wie ich es mir überlegt habe. Ich weiß nicht, ob es Autisten da draußen auch so geht, und ob das ein Grund dafür ist, dass sie komplett ausrasten können, wenn die Dinge unvorhergesehen laufen - Stichwort mangelnde Flexibilität, und so.

Einer der letzten schönen Herbsttage, etwas Sonne, etwas Wind, noch nicht wirklich kalt, und ich ziehe mich an für einen kleinen Spaziergang nach Gaarden. Hin und zurück insgesamt eine Stunde frische Luft, großartig, und natürlich die Bewegung dazu, immerhin ein kleiner Ausgleich für das Herumsitzen in der Wohnung. Und trotzdem: Als ich unten die Ampel zur anderen Straßenseite überquere und zu meiner Linken die Bushaltestelle sehe, wabert durch meinen Kopf der Gedanke, dass ich ja zumindest bis zur Hummelwiese mit dem Bus fahren könnte, sonst dauert das so lange. Mein Blick wandert auf die digitale Anzeige, und ich sehe, dass der nächste Bus in drei Minuten kommt, naja, warum eigentlich nicht? Und ich will gerade zur Bank gehen, da merke ich, wie jemand auf der anderen Straßenseite ebenfalls zur Bushaltestelle möchte, in schwarz gekleidet, und mir zuwinkt und über das ganze Gesicht strahlt. Ich merke, dass Er es ist, und die Gedankenzüge entgleisen für dreieinhalb Sekunden in einem maelstrom of consciousness...

...nein, nicht jetzt, warum steht er da, scheiße, was mache ich jetzt, wir haben uns mehr als zwei jahre nicht gesehen, und ich habe ihm seit einem dreivierteljahr nicht geantwortet, weil ich endlich ohne ihn gut zurechtkomme, naja, dann kann ich doch jetzt mit ihm zusammen auf den bus warten, endlich einmal in den arm nehmen, endlich für einen winzigen moment "satt" sein, ich winke mal zurück, schaue dann aber wieder stumpf auf den boden vor mir, ich muss etwas schneller gehen, ich muss hier weg, hilfe, hoffentlich spricht er mich nicht an, und warum muss ich plötzlich grinsen, warum strahle ich über das ganze gesicht, nur weg hier...

...und ich gehe immer schneller, bekomme gerade noch aus dem Augenwinkel mit, dass Er warten muss, weil gerade viel Verkehr die Straße blockiert. Mein Blick bleibt stumpf auf den Fußweg gerichtet, wie immer, wenn ich das Gefühl habe, dass ich weg muss, nur dass ich diesmal nicht an Fibonacci denken kann, und ich frage mich, warum ich mich so sehr freue, ihn einfach nur für zwei Sekunden gesehen zu haben, ich kann das nicht einordnen. Warum schafft Er es immer noch, mich so aus dem Konzept zu bringen?

Doch irgendwie ist es mittlerweile anders. Klar, ich bin total überfordert, aber ich habe nicht mehr das Bedürfnis, ihm noch an diesem Abend zu schreiben, ihn auf dieses "Ereignis" anzusprechen. Und es ist mir in dem Moment auch nicht so wichtig, was Er wohl denken mag, darüber, dass ich ohne anzuhalten einfach weitergehe, ohne die Gelegenheit zu nutzen, ihn anzusprechen, ohne die Chance an mich zu reißen, dass Er endlich einmal ohne seine Freundin mit mir reden kann. Ich laufe schnurstracks nach Gaarden weiter, aber das Lächeln bekomme ich für den Rest des Tages nicht mehr von meinem Gesicht.

Das ist jetzt eine Woche her, und es hat dafür gesorgt, dass ich über eine Woche nichts Neues hier im Blog geschrieben habe, weil ich meine Gedanken nicht vernünftig konzentrieren konnte. Ich frage mich oft, wie es sein kann, dass so ein Moment mich immer noch so stark berühren kann. Ein Mensch, der "weg" ist. In den ersten Tagen nach diesem Wiedersehen hatte ich häufiger den Wunsch, endlich wieder mit ihm reden zu können. Das Gefühl, dass Er mir zur Zeit doch irgendwie fehlt. Nun ist es noch ein paar Tage später, und mir ist wieder bewusst geworden, dass ich zur Zeit andere Fokuspunkte im Leben habe, dass ich nicht die Bereitschaft habe, mich ihm jetzt intensiver zu widmen.

Ich dachte im Studium öfters, ich sei verliebt gewesen. Dass aber ein Mensch, den ich seit über zwei Jahren nicht gesehen oder gelesen habe, mit einem so kurzen Blick eine so starke emotionale Reaktion hervorrufen kann, das hatte ich noch nie.

Vielleicht sollte der Moment einfach die Erinnerung daran sein, dass man Menschen nie ganz aufgeben sollte - und dass manche Dinge eben viel Zeit brauchen können. Vielleicht werden wir ja irgendwann unser Demnächst haben.

post scriptum: Es ist doch ein drolliger Zufall, dass ich an genau jenem Tag zum ersten Mal die Vorhängeschlösser an der Gablenzbrücke bemerkt habe. Das scheint sich zu einem Klassiker zu entwickeln, zwei Menschen lernen sich kennen, verlieben sich und als Zeichen des Bundes hängen sie ein Vorhängeschloss an die Stahlseile. Es sind wirklich einige Schlösser, manche haben ein Herz darauf, scheinen extra für diesen Zweck produziert worden zu sein (ist ja auch ein klassischer Topos), andere Schlösser sind vollkommen verrostet, so dass man auf ihnen nichts mehr erkennen kann... ich habe den gesamten Neubau der Gablenzbrücke in meinem Studium miterlebt - als ich an die Uni gekommen bin, gab es damals noch die alte, enge Brücke, auf der früher die Straßenbahn gefahren ist. Ich frage mich, ob Kiel irgendwann tatsächlich die seit vielen Jahren diskutierte Stadtbahn (egal in welcher Form) bekommen wird, und wie die Gablenzbrücke dafür bearbeitet werden müsste, denn die Verbindung der beiden Fördeufer ist eine klassische Aufgabe der Straßenbahn damals gewesen.

Sonntag, 14. Juli 2019

Noch mehr Er-Klärungen


Wenn ich nun also tatsächlich ein Aspi sein sollte... dann würde es auch die Abwärtsspirale erklären, die Er und ich durchgemacht haben. Er hatte immer ein großes Harmoniebedürfnis, daran wird sich vielleicht nicht viel geändert haben. Er wollte mich auf keinen Fall enttäuschen, deswegen hat Er versucht, immer das zu sagen, was ich vielleicht habe hören wollen. Das konnten Unwahrheiten sein, oder Phrasendrescherei, aber Er hat es ja nie böse gemeint, im Gegenteil.

Da Asperger ihren Kommunikationspartner allerdings immer bei'm Wort nehmen, habe ich gedacht, Er meinte das alles wirklich so, wie Er es gesagt hatte. Ich hatte keine Idee davon, dass Er etwas, das ich ihm gezeigt habe, vielleicht nicht mochte, denn Er hat immer etwas Positives gesagt. Hauptsache, es kommt nicht zum Streit. Er meinte es gut, und ich dachte, Er meinte es wörtlich, und so kam es immer wieder zu Widersprüchen, die ich nicht nachvollziehen konnte.

Das Wörtlichnehmen kann ein echtes Problem für Asperger sein, denn Menschen neigen nun mal zu höflicher Phrasendrescherei - "Das Kleid sieht toll an dir aus!" - "Ach keine Sorge, wir sehen uns bestimmt bald wieder!" - "Alles wird gut." Ich habe mir in den I-Klassen immer wieder gesagt, dass ich deutliche und eindeutige Sprache benutzen muss, wenn ein Schüler mit dem Asperger-Syndrom in der Klasse sitzt. Wie kann man eigentlich so blind sein und dieses Verhalten bei sich selbst jehrzehntelang nicht entdecken?

Aber besser spät als nie, und das gilt auch für ihn: Sollte Er sich irgendwann durchringen können und sich wieder mit mir treffen, dann wissen wir jetzt immerhin, wie wir miteinander umgehen müssen.

Das wird schon alles wieder.

Samstag, 13. Juli 2019

Ein Spaziergang

Langsam kommt der Durchblick...

vorweg: Ich weiß, dass meine Eltern das hier lesen, und das ist auch gut so, und vielleicht kommt meine Mutter ja auf die Idee, diesen Beitrag einmal ihrer Schwester zu zeigen - denn heute sind wir alle involviert.

Ich gehe nicht gern zu Familienfesten. Das war schon immer so, aber erst seit wenigen Jahren sage ich das auch offen. Da sind zu viele Menschen, und wenn wir dann zum Essen alle an einem Tisch sitzen, und direkt links und rechts neben mir sitzt jemand und berührt mich, das mag ich nicht gern. Und alle reden durcheinander über alles Mögliche, ich habe also keinerlei Kontrolle über den Ablauf. Und eigentlich warte ich nur darauf, dass ich endlich wieder weg kann, und ich frage mich, warum ich eigentlich überhaupt gekommen bin.

Heute war das ein bisschen anders. Meine Oma ist fünfundneunzig geworden, und da ich keinen Job mehr habe, der mich kopftechnisch in Anspruch nimmt, habe ich die Gelegenheit genutzt und bin einmal Richtung Dithmarschen gefahren. Ich wollte unbedingt mit meiner Mutter über die Asperger-Thematik reden und hatte ein bisschen Angst, dass sie vielleicht nur "normale" Kinder haben wollte, und dass das ein wundes Thema sein könnte, oder dass sie enttäuscht ist - aber ich habe mich geirrt.

Unsere Familie hatte nie ein Talent für offene, aufgeschlossene Gespräche. Nie. Es musste immer alles normal sein, und über Abweichungen von der Norm sprach man nicht. Was sollen denn die Leute denken. Und nun endlich könnte ein Punkt erreicht sein, an dem wir dieses Verhalten in die Tonne treten, und deswegen bin ich heute sehr erleichtert nach Kiel zurückgefahren. Endlich kann meine Mutter problemlos erzählen, über jene lesbische entfernte Verwandte, oder über diesen latent schwulen Opa. Das sind keine Tabuthemen mehr, genausowenig wie Zigaretten, Tee und schwarze Outfits.

Ich bin gestern Abend ziemlich glücklich in's Bett gegangen, weil ich die Gewissheit hatte, dass meine Eltern immer hinter mir stehen, und wenn sie nach Kiel zu einem Elterngespräch mit dem Psychiater kommen sollen, dass sie das machen. Dieses Gefühl, dass ich nicht mehr normal sein muss. Denn unsere Familie hat einen Knall, von oben bis unten, und wenn man irgendwann erfährt, dass Dinge wie Autismus oder Hochbegabung vererbbar sind, dann fragt man sich natürlich: Woher kommt das? Ist meine Mutter auch so? War mein Opa auch so? Und auf einmal fühlt es sich etwas mehr OK an. Im Sinne der Transaktionsanalyse: Ich bin OK und du bist OK.

Das gestrige Gespräch mit meiner Mutter war also ein voller Erfolg. Und ein weiterer Grund, warum ich nun doch zu Omas Geburtstag gefahren bin, war Die Tante (DT). DT hat schon vor Jahrzehnten gemerkt, dass ich verhaltensauffällig bin. Und das wollte ich jetzt einmal mit ihr persönlich beprechen, und so meinte ich nach dem Essen zu DT "Hast du Lust, mal die Auffahrt rauf und runter zu geben?" und daraus wurde dann ein Spaziergang die Straße herunter.

Ich habe ganz direkt gefragt: "Seit wann war Dir bewusst, das ich verhaltensauffällig bin?" und dann hat sie mir meine Kindheit aufgedröselt in etwas, was wie das Asperger-Einmaleins klang. Vor der Waschmaschine sitzen, Menschen bei'm Wort nehmen, Wutausbrüche, wenn es nicht nach dem eigenen Kopf läuft und vieles mehr. Ich habe ihr dann von meinem Verdacht mit dem Asperger-Syndrom erzählt, und für sie war das völlig klar: Das würde passen. Sie hat in ihrer Zeit an der Gemeinschaftsschule viele Autisten und Aspis unterrichtet und dadurch einen Erfahrungsschatz, und so hat dieses Gespräch mir extrem gutgetan.

Das war ein wichtiger Spaziergang, denn endlich bricht langsam mal das Schweigen in der Familie auf, und am liebsten hätte ich noch angemerkt "Also, ich bin jetzt ein Fall für den Psychiater, und ich erwarte, dass ihr euren Freunden davon erzählt!" - Dinge offen auf den Tisch bringen, das ist nicht leicht, wenn man jahrzehntelang unter einem Mantel des Schweigens agiert hat. Wer den Film Hereditary (2018) gesehen hat, oder Caché (2005), der versteht das.

Wir machen kleine Schritte voran - aber wir machen sie. Ich bin ja fast froh, dass ich psychologisch etwas zu bieten habe, denn dann könnte meine Diagnostik-Zeit ein wunderbarer Stoff sein zum offenen Erzählen. Um das zu trainieren. Ich bin wirklich glücklich, dass ich das Bewusstsein habe, mich nicht mehr verstellen zu müssen, und dass ich OK bin und meine Eltern auch hinter einem autistischen Kind stehen werden.

post scriptum: Mama, ich habe die Zeit gestoppt - an diesem Beitrag habe ich exakt neunzehn Minuten und vierundzwanzig Sekunden gesessen. Das ging recht schnell, weil ich mir in der Meditation meinen Text vor dem geistigen Auge zurechtgelegt habe, Aufbau, Titel, Phrasen, die ich unterbringen wollte, und so konnte ich nach der Meditation diesen Text fix runterschreiben. So funktioniert das bei mir meistens ;-)

Samstag, 26. Januar 2019

Mein erster Kuss


So, Klaus, nun kannst Du lesen, was Deine Mail angerichtet hat. Und vielleicht liest ja auch einer meiner ehemaligen Schüler, der sich gerade geoutet hat - Ich bin SO stolz auf Dich!

"Hase: Totes Kaninchen."

Ich glaube, ich war dreizehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal realisiert hatte, dass ich Männerkörper aufregend finde. Das war für mich schwierig einzuordnen, denn gleichzeitig war ich in eine Mitschülerin verliebt, und auch danach in der Oberstufe ging es wieder um ein Mädchen. Wenn es um Gefühle geht, kann man das oft nicht einfach einordnen. Bin ich jetzt schwul oder nicht? Und wozu sollte ich mich überhaupt auf eine einzige sexuelle Orientierung festlegen?

Ich bin in der Phase richtig neugierig geworden und habe mich gefragt, wie sich das wohl anfühlt, einen Mann zu küssen. Bestimmt nicht so schön, wenn er einen Bart hat, oder so was Kratziges - oder? Neugier war da, Interesse, ja, aber ich lebte auf dem Land. Nicht zu sehr auffallen. Wenn ich nach Kiel ziehe, da bin ich unbekannt, vielleicht kann ich da einen Mann küssen. Dachte ich mir.

Ich war auch bei diesem Thema ein Spätzünder, musste erst einundzwanzig Jahre alt werden, um meinen ersten Kuss zu bekommen. Und dann auch gleich mit einem Mann. Das war im Winter Zweitausendvier Släsch fünf, und ich hatte Daniel auf den blauen Seiten kennengelernt. Er war mir sehr sympathisch, hat ganz nette Sachen geschrieben, und ich hatte mich in sein Gesicht verguckt. Aber ich hatte keine Ahnung, wie man an einen Kuss kommt, absolut nicht. Muss man danach fragen? In den Filmen geht das irgendwie immer so automatisch.

Daniel hat einen ersten Schritt gemacht, indem er vorgeschlagen hat, dass wir uns zu einem Abendessen bei Burger King treffen. Und ich habe natürlich wieder mit meiner Standardantwort reagiert: "Oh, da habe ich leider keine Zeit, eine Freundin kommt da zu Besuch." Panische Angst, dass ich plötzlich einen offen schwulen Mann treffen könnte - bloß nicht!!! Und dann wäre das ja auch noch so ein unkompliziertes Treffen: Daniel könnte nach der Arbeit direkt zu BK gehen, nur fünf Minuten von seinem Büro entfernt - und fünf Minuten von meiner Wohnung. Eigentlich ideal, und gerade weil es so greifbar schien, musste ich auf jeden Fall absagen. Remember? Ich war schüchtern, zwei Meter groß und spindeldürr.

Daniel hat aber nicht locker gelassen. Er war sieben Jahre älter als ich, schon seit Langem geoutet und hatte scheinbar keine Berührungsängste, und das war wohl auch ganz gut so, denn sonst hätten wir uns nie getroffen, weil ich immer wieder neue Ausreden gebracht hätte, um abzusagen und in Sicherheit bleiben zu können. Er wusste schon recht genau, was er tat, als er dann den Tag des Treffens einfach verschob auf den siebzehnten Januar. Oh mein Gott... ich lag die halbe Nacht davor wach... und tippte etwas in mein Tagebuch:

Mo, der 17. 1. 05, 1:25 Uhr:
Guten "Morgen"! Ich bin VERDAMMT aufgeregt!!!!! Alles weitere morgen...

Wenn ich nur so wenig sage oder schreibe, ist das meistens ein Zeichen für meinen Gemütszustand. So kam also der Montag. Treffen 19 Uhr unten bei Burger King. Was ziehe ich nur an??? Zähne putzen, Haare waschen, Mundwasser, fünfmal neue Outfits anziehen. Soll ich nicht doch schnell noch absagen?? Ohgott, was mache ich nur... diesen Gedanken nahm ich mit nach unten und bummelte gen BK. Und dort wartete er. Einen Kopf kleiner als ich, und auf Krücken. Ich wollte ihm die Hand geben - ich meine, wie begrüßt man eigentlich einen schwulen Mann? Wie begrüßt man überhaupt Menschen?? Und warum hat er Krückenwassagichdennnurichbraucheeindrehbuchaaaaaahhhhhhh...

Keine Ahnung, wie es dann genau kam, ich sehe uns nur noch beide da sitzen und futtern und reden, er hat sich seinen Fuß verstaucht, als er auf Glatteis ausgerutscht ist. Was noch? Keine Ahnung, mir fuhren sieben Gedankenzüge gleichzeitig durch den Kopf, und dazu fünf verschiedene Filme auf derselben Leinwand, und deswegen konnte ich auch gar nicht mehr genau nachdenken, als sein Vorschlag kam, noch zu mir hoch zu gehen und einen Film zu schauen. Ich weiß nicht mal mehr, welcher Film es war, ich im Nippelsessel, Daniel neben mir, seine Hand auf meiner und ich hatte eigentlich nur noch darauf gewartet, dass der Teppich sich unter mir öffnet und mich einsaugt, oder dass Conny reinkommt und mich totrollt, um die angespannte Stimmung aufzulockern. Mein Puls muss gen zweihundert gegangen sein, und es hat nicht gerade zur Beruhigung beigetragen, dass Daniel sich nach dem Film zu mir gedreht hat und mich in die Hüfte gepiekst hat. Kitzeln, und bevor ich mich wehren konnte, saß er auf meinem Schoß und lächelte mich an, ich kicherte, weil ich unglaublich kitzelig bin, aber dann nahm er seine Finger wieder zu sich und wir wurden beide etwas ruhiger...

...und schauten uns in die Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde ist mir durch den Kopf gegangen, dass ich vergessen habe, mir eine Anleitung im Internet durchzulesen, wie man jemanden küsst, aber dann war das auch schon wieder egal, weil sein Gesicht sich meinem näherte, und ich legte meine Hand um seinen Hinterkopf und plötzlich war mir vollkommen klar, wie man das macht, und wir schlossen unsere Augen, ich neigte meinen Kopf ein Stück nach links und zog Daniel näher an mich heran, bis ich seine Lippen auf meinen spürte, und plötzlich trat ein Zustand ein, den ich so noch nie gespürt hatte: Keine Gedanken mehr. Nichts mehr in meinem Kopf, ich ließ mich vollkommen fallen, in diesem Sessel, in diesen Kuss, der überhaupt nicht mehr zu enden schien, und ich wollte weiter eintauchen, wovor ich noch Stunden zuvor so viel Angst hatte, und ich öffnete meinen Mund und unsere Zungen...

...

...

...

Di, der 18 1. 05, 00:40 Uhr:

Oh mein Gott, die Aufregung war sehr berechtigt. Ich habe mich heute zum ersten Mal mit einem Schwulen getroffen. Und ich habe heute meinen ersten Kuss bekommen. Und meinen ersten Zungenkuss gleich hinterher - um genau zu sein, ganz viele Küsse. Mann, war das schön, und jetzt weiß ich ganz sicher, dass ich schwul bin. 
(...)
Einen Monat später, ich bin von Verrückten umgeben (...), denn plöztlich ist Daniel mein Freund. Ich muss ein paar Sachen nachtragen, zum Beispiel, dass Conny mich einen "komischen Mann" genannt hat, und einen "Affen", und Daniel hat auch irgendwas gesagt, und außerdem der Satz von Conny: "Hase: Totes Kaninchen". Damit wäre auch schon alles im Moment Wichtige gesagt.

Damit wäre auch schon alles im Moment Wichtige gesagt. Es war einer der schönsten Momente in meinem Leben, und ich glaube nicht, dass ich ihn vergessen werde.

Also, Ihr Ungeküssten da draußen: Freut Euch darauf, und wenn es so weit ist, Kopf abschalten und einfach nur genießen ;-)

post scriptum: Der Beitrag hat eine Weile gebraucht, weil ich per Meditationen versucht habe, vierzehn Jahre zurück zu reisen und den Abend nochmal zu erleben. Hat super geklappt, war ein irres Gefühl, und das Ergebnis habt Ihr gerade gelesen.

Mittwoch, 17. Oktober 2018

The Evil Within Me. And You.

Mancher muss sehr gründlich in die eigene Seele schauen, um das Böse zu finden...

Mir ist bei der Auswahl der tags eben aufgefallen, dass dieser Beitrag eigentlich so viele Themen anschneidet. Und Schuld daran trägt der Zufall, der ein paar Ereignisse zeitlich nah beieinander hat geschehen lassen: Gestern der Film My Dinner With André, heute hat Er mir dann auf eine Videobotschaft von mir geantwortet und ich überlege, was in das nächste Video soll, und dann habe ich heute auch noch einen Film von Michael Haneke gesehen. Ausgerechnet.

Haneke ist ein verdammt unbequemer Regisseur, weil seine Filme sich überhaupt nicht den Bedürfnissen von Hollywood hingeben, sondern extrem authentisch die Unmenschlichkeit des Menschen portraitieren. Vor einer Weile hatte ich seinen Film Caché (2005) gesehen; einer von Euch hatte ihn mir empfohlen, und so habe ich angefangen, mich mit Haneke auseinanderzusetzen. Heute gab es Das Weiße Band (2009; bei Amazon prime frei verfügbar), eine "deutsche Kindergeschichte", wie es im Vorspann heißt. Wir sehen dann zweieinhalb Stunden lang das Leben in einem deutschen Dorf vor dem Ersten Weltkrieg. Bei Haneke darf man sich sicher sein, dass alles, was da läuft, authentisch und bis in's Detail durchdacht ist; er ist ein recht kompromissloser Regisseur, und seine Filme mögen gerade für jüngere Zuschauer langweilig wirken, aber irgendwann kommt der Moment im Leben, dass man realisiert, dass die Bösen nicht immer die Anderen sind.

Das Potential, Böses zu tun, schlummert in jedem von uns. Und es muss nicht immer gleich ein Mord oder ein Weltkrieg sein; dass Haneke den Film zur Zeit des Attentats enden lässt, ist eine konsequente Weiterentwicklung aus dem, was er uns vorher gezeigt hat: Ein Pferd und Reiter stürzen über einen gespannten Draht, ein Gebäude wird angezündet, einem Jungen werden die Augen ausgestochen. Grausige Ereignisse, die in der Dorfgemeinde bewirken, dass jeder jeden mit anderen Augen anschaut. Hanekes Geniestreich - wie auch schon bei Caché: Er liefert uns keinen Täter. Das Whodunit bleibt offen, und damit wird uns bewusst, dass es Haneke gar nicht um die Frage des Täters ging, sondern um die Erkenntnis, dass es jeder hätte gewesen sein können.

Unschuld gibt es nicht. Können wir uns davon frei machen? Wann bist Du zum letzten Mal schneller gefahren als erlaubt? Wann hast Du jemandem ein Kompliment zum Outfit gemacht, das in Wirklichkeit grauenvoll aussieht? Wann hast Du zum letzten Mal Deine Freundin belogen und ihr verheimlicht, dass Du mit jemand Anderem Kontakt hast? Wann hast Du verheimlicht, dass Dir der Sex mit ihm eigentlich überhaupt keinen Spaß gemacht hat? Diese Liste ließe sich ad infinitum fortführen. Es geht um die Erkenntnis, dass jeder von uns das Potential hat, "Böses" zu tun.

By the way, natürlich hat Haneke damit keine großen, neuartigen Erkenntnisse auf Zelluloid gebannt - David Lynch hat das zum Beispiel auf seine ganze eigene Weise in der jüngsten Staffel Twin Peaks gemacht. Aber Haneke schafft das ganz ohne Effekte, ohne komplexes Sounddesign. Er gibt uns das Gefühl, dass das, was wir da auf dem Bildschirm sehen, wirklich so geschehen ist. Dadurch baut der Regisseur die Vierte Wand ab - was er zum Beispiel bei Funny Games etwas plakativer gemacht hat.

Ich finde es scheiße, wie oft in unserer Welt Menschen die Schuld immer woanders suchen und sich selbst für den Ursprung aller Unschuld halten. Und weil der Film mich inspiriert hat, möchte ich ein kleines bisschen dieser Ehrlichkeit in die nächste Videobotschaft einbauen, mal schauen, ob Er etwas merkt.

Donnerstag, 11. Oktober 2018

Die letzte Zugfahrt

Manches lässt sich nicht trennen

Wir sitzen am Bahnhof, niemand sonst wartet auf den Zug nach Freiburg. Niemand da, der stören könnte, und trotzdem sprechen wir nicht miteinander. Wir blicken beide traurig abwechselnd auf den Boden oder in die Richtung, aus der der Zug kommen sollte. Wir haben beide rote Augen. Ich vom Weinen, Er von der durchgemachten Nacht. Wir sind beide übermüdet; vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum wir nicht miteinander reden. Was sollten wir denn auch besprechen? Worüber unterhält man sich auf der letzten gemeinsamen Zugfahrt? Was sagt man sich, wenn man sich am Zielbahnhof ein letztes Mal in den Arm nimmt? Was sind die letzten Worte, die man dem Menschen sagen soll, der einem so sehr ans Herz gewachsen ist, wenn man weiß, dass man sich nicht mehr wiedersehen wird?

Ich habe mich bereits die letzten zwei Nächte über mit dem Gedanken auseinandergesetzt – aber Er ist sich erst spät, bzw. heute in aller Frühe dieser Realität bewusst geworden. Und dabei hätte es alles toll sein können. Wir beide sind für vier Tage von zuhause geflohen, quer durch Deutschland gefahren und den Europa-Park besucht. Ich hatte versucht, für alles zu sorgen, und Er meinte, dass das ein echtes Erlebnis ist.

Ich will auch gar nicht weiter darüber nachdenken, was zu dieser beschissenen Situation geführt hat. Und nun kommt der Zug, wir steigen ein und zwanzig Minuten später schon wieder aus. Und reden immer noch nicht miteinander. Dann fährt der ICE Richtung Norden ein, wir suchen unsere reservierten Plätze, ein Vierer, und uns gegenüber sitzt eine Frau mit ihrer Tochter. Die Kleine ist so niedlich, dass wir beide lächeln und ein bisschen mit ihr spielen.

Der Zug fährt ab, und ich schaue ihn zum ersten Mal an diesem Tag direkt an, und Er schaut zurück. „Hey, wollen wir uns jetzt stundenlang anschweigen?“ fragt sein Blick mich. Ich lächele traurig, Er auch. Er nimmt sich seinen MP3-Player und setzt die Kopfhörer auf. Ich fasse nach seiner Schulter, bitte noch nicht, bitte lass' uns wenigstens ein bisschen reden. Das tun wir. Unauffällig, weil wir dem kleinen Mädchen nicht alle Details der letzten Nacht servieren wollen.

Aber worüber reden wir nun? Ich schaue auf die Uhr, noch sechs Stunden, dann heißt es Abschied nehmen. Wir schauen uns seit Minuten an, ununterbrochen. Ich möchte nicht mehr wegschauen, und Er auch nicht. „Mama, warum sind die beiden Männer so still?“ Wir lächeln. „Tina, die Männer sind bestimmt sehr müde, lass' sie mal ein bisschen in Ruhe.“ Die Mutter lächelt uns an, und ich verwette mein Gehirn, dass sie genau weiß, woran Er und ich gerade denken. Sie sieht, dass wir traurig sind. Man könnte denken, dass wir uns lieben, ich ihn und Er mich. Und die Mutter lächelt hilflos, denn sie würde uns gern etwas Gutes tun.

Nach einer gefühlten Ewigkeit den Anschauens fragt Er mich, ob es okay ist, wenn Er eine Weile Musik hört. Natürlich ist es das, und wir schließen die Augen und lehnen uns zurück. Ich nehme meine Armbanduhr ab, ich möchte nicht sehen,wie unsere letzte gemeinsame Zeit verrinnt.

Und dann fangen wir doch an zu reden. Wir möchten uns nicht die Schuld geben. „Es war nicht dein Fehler“, sagt Er. Dann ich. Ich nehme seine Hand. Die kleine Tina malt in einem Buch herum. Und selbst, wenn sie das nicht täte: Heute ist es uns egal, was die Menschen um uns herum denken. Wir bekommen gar nichts mehr mit, schauen uns nur wieder an. „Ich will dich nicht gehen lassen“, aber wir haben diesen Entschluss in der letzten Nacht gefällt. Seitdem hatte er nicht mehr mit mir gesprochen, hat sich im Hotel im Bett weggedreht, weil er nach und nach die Tragweite dieses Entschlusses einschätzen konnte.

Und plötzlich fangen wir an, ehrlich miteinander zu reden. Über Gefühle, über alles, was wir erlebt haben. Über die irren Nächte, über die schönen Zeiten, ich halte immer noch seine Hand. Wir würden das niemals zuhause in der Öffentlichkeit gemacht haben, denn ich war nie ein gutes Gesprächsthema in seiner Welt, und deswegen hat Er versucht, mich geheim zu halten. Aber nun, mehrere Hundert Kilometer entfernt von den Menschen, die nicht wollen, dass wir befreundet sind, nun können wir endlich authentisch sein. Wir haben noch nie so offen gesprochen wie auf dieser Zugfahrt, haben uns angeschaut und die Mutter gegenüber lächelt uns weiter an. 

Wir haben Eis gebrochen, und wir reden über alles, was in unseren Herzen vor sich geht. Wir haben Angst davor, zurückzukehren in eine Welt, in der wir wieder Rollen spielen müssen, in der wir nicht wir selbst sein dürfen. Wir würden so gern diese Zugfahrt ewig ausdehnen, denn Er redet wie ein Wasserfall von seinen Gedanken und Gefühlen, und für eine Weile wirkt es, als würden wir uns in einer leuchtenden Kugel befinden, in der wir endlich ehrlich sind und keine Blicke von außen fürchten müssen.

Dann fährt der Zug durch den Bahnhof Hamburg-Harburg, und wir realisieren, dass die Heimat immer näher kommt - und das Leuchten unserer Kugel wird schwächer. Er setzt seine Kopfhörer auf, ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Habe ich ihn lang genug angesehen, dass ich in Zukunft ohne diesen Anblick werde auskommen können?

Time will tell...

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Und ich erspare Euch die letzten Momente nach der Ankunft in Kiel. Warum schreibe ich das hier überhaupt? Weil Streit, unschöne Gefühle, Tiefen einfach zu jeder zwischenmenschlichen Beziehung dazugehören. Und die Geschichte zeigt uns vor allem eins: Solche traurigen, schweren Zeiten machen uns stärker. Warum würde Er sonst immer noch für mich aufgeschlossen sein?

Mittwoch, 15. November 2017

Liebe, Augenhöhe, Er und ich

Körperlich auf Augenhöhe zu sein, bedeutet noch lange nicht, dass man den Anderen gleichwertig behandelt...

Vorwort: Manchmal sind die Pausen zwischen zwei Beiträgen länger. Oft liegt es daran, dass ich "viel" an einem Tag zu tun habe und mein "Sozialkonto" abends aufgebraucht ist, dann möchte ich nur noch meine Ruhe haben und nichts mehr schreiben. Oder aber, wie in diesem Fall, ein Beitrag braucht einfach länger; das ist völlig unabhängig von der Länge des Textes, sondern davon, wie lange ich über den Inhalt nachdenken muss. Und das hat bei diesem Beitrag ein wenig länger gedauert.


Wir begegnen Menschen. Das gehört zu unserem Alltag dazu. Es gibt unzählige spannende Studien zur "Ich und das/der/die Andere"-Thematik; ich möchte heute einen Pädagogen-Bingo-Begriff beleuchten, den jeder in seinem Referndariat schon einmal gehört haben wird: Augenhöhe. Bzw., "auf Augenhöhe miteinander umgehen". Ich habe das Konzept irgendwann bei den Gesprächen mit der großen Buba fallengelassen, neulich hatte sie ihn selbst benutzt. Scheint gezündet zu haben, da scheint also etwas dran zu sein.


Natürlich hat das nichts mit der wörtlichen Augenhöhe, bedingt durch die Körpergröße, zu tun. Da gibt es zwar auch einen Effekt (große Menschen, größer als man selbst), aber mir geht es um Anderes: Selbst wenn wir miteinander reden und uns dabei in die Augen schauen können - wenn man sich setzt, fallen die Größenunterschiede gar nicht mehr so auf - selbst dann kann es erhebliche "Höhenunterschiede" geben.


Man stellt sich vielleicht höher als der Andere. "Ich habe mehr Erfahrung. Ich habe den höheren Posten. Ich bin dein Vorgesetzter." Und jetzt wird's eklig zu tippen, denn jetzt wird es persönlich. Ich probier's trotzdem. Denn mir passiert das sehr oft, dass ich mich im Bewusstsein meiner höheren Lebenserfahrung über meinen Gesprächspartner stelle. "Ja, das habe ich auch schon mal durchgemacht, das ist echt schlimm." - "Ah, ich kenne das, du solltest das vielleicht lieber so und so machen!" Ich gefalle mir viel zu oft in der Lehrer- oder Mentorrolle. Und trage damit Einiges dazu bei, dass ich Probleme habe, gleichberechtigte Beziehungen einzugehen. Zum Glück habe ich nicht viele Freunde, so kann das nicht allzu oft passieren.


Man kann sich natürlich auch unter seinen Kommunikationspartner stellen. Zu ihm aufblicken. Mache ich zum Beispiel bei Jay, habe ich von Anfang meines Studiums an gemacht. Zu ihm hochgeschaut. Er hat mehr Lebenserfahrung, mehr Bücher gelesen, da gehe ich dann gern in die Schülerrolle. Allerdings passiert das eher selten - ich tendiere zum Mich-Höherstellen.


Was hat das nun mit Liebe zu tun? Und wann kommt Er in's Spiel?


Fangen wir mit der Liebe an: Reflektiert mal ein wenig, ob Ihr mit eurem Lebenspartner auf Augenhöhe seid, oder ob Ihr zum Bemuttern neigt, oder vielleicht zum "Unterwerfen" (mal von sexuellen Tendenzen abgesehen). Ich behaupte einfach mal, und da dürft Ihr mich sehr gern widerlegen und/oder aufklären: Eine "ideale" Liebesbeziehung oder Partnerschaft für's Leben kann es nur geben, wenn man es irgendwann geschafft hat, sich auf Augenhöhe einzustellen. Wenn das nicht möglich ist - ist er oder sie dann wirklich der/die Richtige? Ich schaue gerade mal wieder Twin Peaks und mir werden zu Unterhaltungszwecken diverse Beziehungskonstellationen präsentiert, das regt zum Nachdenken an. Zum Kommentieren: "Shelly, warum lässt du es zu, dass dein Mann dich schlägt und als Haushälterin sieht?!"


Zurück aus der Fiktion in das reale Leben, die Zeit um sechs Jahre zurück gedreht, und nun kommt Er. Unser Kennenlernen war von Augenhöhe meilenweit entfernt, wenn ich ihm glauben darf. Ich war damals noch Teil der Saturnalien-Crew, Theater, Sketche, Musik, und "leider" die perfekte Möglichkeit für mich, die absolute Rampensau zu werden (oder besser rauszulassen, weil sie scheinbar immer schon da war). Und dabei war es meine letzte Aufführung, und ich hatte mich schon möglichst zurückgenommen, ich habe es wirklich versucht. Und dann kam Er neu in die Theatergruppe. Und seine erste Wahrnehmung von mir hatte mit Augenhöhe nichts zu tun: "Du standest im Mittelpunkt, du hattest immer alles im Griff, du warst im Examen, du hast das alles geleitet, ich hab zu dir aufgeschaut. Dr Hilarius war das Mastermind, irgendwie, und das hat mich beeindruckt." (meinte Er Jahre später zu mir)

Er hat zu mir aufgeschaut. Und ich bin dann irgendwie wieder in die Mentorrolle gekommen. Das passte zusammen, auch wenn es keine gleichwertige Freundschaft zu sein schien. Und ich hab' das auch noch genossen! Ich habe es nicht mitbekommen, wie ich ihn bevormundet habe, ich habe es nicht gemerkt, dass Er alles Mögliche mir zuliebe gemacht hat. Wie sich das dann weiter entwickelt hat, möge Privatsache bleiben. Es geht mir nur darum, aufzuzeigen, dass diese Freundschaft zwar wunderbar geklappt hat (wir haben uns damals nie beschwert), weil wir uns beide in unseren Rollen wohl gefühlt haben.

Aber kann das eine Grundlage für eine lebenslange Freundschaft sein? Kann das ewig gut gehen? Ich bin mittlerweile bei der Meinung angekommen, wie eingangs beschrieben, dass eine ernste, enge Partnerschaft Umgang miteinander auf Augenhöhe beinhalten muss.

Und ja, mir ist bewusst, dass es da ja einen Unterschied gibt zwischen einer Freundschaft und einer Partnerschaft. Aber wie gesagt, ich möchte hier nicht seine weitere Gefühlswelt preisgeben. Schaut Euch einmal Die Verurteilten (The Shawshank Redemption, 1994) an. "Freundschaft oder Liebe" ist totaler Unsinn...


post scriptum: Das Thema für morgen steht bereits und wird definitiv leichter verdaulich - wenn alles glatt läuft!

Montag, 16. Oktober 2017

Polterabend

Röm pöm klirr

Am Samstag habe ich erlebt, dass so ein Polterabend ein Panoptikon an Emotionen erzeugen kann:

Neugier

Wie sieht das Haus des Brautpaares aus? Wo genau wohnen sie? Wie sieht überhaupt der Zukünftige aus? Hat die Braut sich in all' diesen Jahren verändert? Wer wird noch da sein? Gibt es Neuigkeiten bei meiner Mitfahrgelegenheit? Solche Fragen helfen mir, den Gedanken abzuschütteln, dass ich vielleicht nicht würde hinfahren wollen, weil da so viele unbekannte Menschen sind. Die Neugier ist in diesem Fall stärker. 

Freude

Ich habe mich tatsächlich darüber gefreut, dass ich nun endlich mal das Geschirr loswerden konnte, was nicht wirklich in meinen Haushalt gepasst hat. Irgendwann hatte ich auf schwarze Teller, Tassen usw. umgestellt, aber aus meiner Husumer Zeit hatte ich noch ein weißes Service von Aldi, weil das billig war (das schwarze war auch billig, von Ikea), und das hat nun seinen Dienst getan. Mit dem richtigen Timing kann ein Polterabend also außerordentlich praktisch sein.

Spaß

Ich habe mich beinah scheckig gelacht, als wir uns schadenfroh angeschaut haben, wie das Brautpaar versucht hat, die Scherben zusammenzufegen und in einen Müllsack zu befördern. Das ist ja der Sinn eines Polterabends: Symbolisch soll das Paar erleben, wie wichtig es ist, dass sie ab jetzt alles im Leben zusammen durchstehen werden. Und damit das nicht zu einfach wird, haben einige Gäste zwischendurch den mühsam aufgekehrten Scherbenhaufen wieder mit den Füßen über die ganze Terrasse verteilt. Oder, noch etwas gemeiner, in einem unachtsamen Moment den Sack mit den Scherben genommen und fröhlich wieder ausgeschüttet. Sollten ja schließlich etwas davon haben, die beiden. Das war sehr spaßig.

Trauer

Nur für einen Moment, aber ganz unerwartet, als ich während der Autofahrt erfahren habe, dass eine ehemalige Kommilitonin aus dem Lateinstudium vor ein paar Jahren verstorben ist. Das lässt einen darüber nachdenken, in welchem Lebensabschnitt man sich befindet: Um einen herum heiraten die Menschen, bekommen Kinder, bauen Häuser... und es sterben die ersten Menschen, völlig unerwartet und deswegen umso berührender.

Sehnsucht

Das erklärt sich wohl ziemlich leicht. Wie gesagt, um mich herum all' die Paare, die gerade erst geheiratet haben oder in den nächsten Wochen und Monaten heiraten werden, und natürlich der Blick auf unser Hochzeitspaar, die sich dieser Tage kirchlich das Ja-Wort geben werden. Das lässt mich meine eigene Situation überdenken. Und auch wenn ich immer noch der Meinung bin, dass ich für eine feste Beziehung derzeit nicht bereit bin, weil ich zu sehr meine Freiheiten und meine Unabhängigkeit genieße, denke ich hin und wieder nur spaßeshalber darüber nach, wie es wohl wäre, wenn Er wieder in meinem Leben wäre.

Nostalgie

Irgendwie ist es schön, mal wieder einen Teil der alten Lateingruppe aus dem Studium wiederzusehen. Das erinnert an die gute alte Zeit. An das schöne Gefühl, dass man nicht allein ist mit seinem Sprung in der Schüssel; die Lateinstudenten hatten damals alle irgendwie ein Rad ab. Und das hat uns zusammengeschweißt und durch eine anstrengende Zeit geholfen. Und die Sannitanic lästert jetzt wieder: "Anstrengend? Du hast doch überhaupt nichts dafür getan!" Und sie hat ja Recht. Aber trotzdem war es eine intensive Zeit und ich habe mit einem Lächeln daran zurückgedacht.

Frust

Eigentlich sollte ich mit einem positiven Gefühl abschließen. Eigentlich sollte ich nicht schon wieder damit anfangen. Aber eigentlich sollte ich jetzt auch einen Job haben und nur deshalb zuhause herumsitzen, weil ich Herbstferien habe. Es ist nun mal so: Meine Mitfahrgelegenheit - verbeamtet. Die Polterlady - verbeamtet. Weitere Gäste auf der Party - verbeamtet. Und ich habe derzeit nicht mal mehr einen befristeten Arbeitsvertrag. Was sollte das in mir auslösen, wenn nicht Frust? Aber er hält sich gering, langsam komme ich wieder mit der Arbeitslosigkeit klar. Immerhin muss ich nicht verhungern, immerhin haben wir ein funktionierendes soziales Netz in Deutschland.

Kurzum: Auch wenn ich ein bisschen Angst davor hatte, dass es mir vielleicht zu viele Menschen sein könnten, war es ein sehr schöner Polterabend, ich gönne es der Braut von ganzem Herzen.

Und wann polterst Du?

Montag, 9. Oktober 2017

Gefühle - Addendum


Heute nur ein Nachtrag zum Eintrag über Liebe und Verantwortung von gestern.

"Wie erkennt man den Unterschied zwischen wahrem Mitgefühl und Idiotenmitgefühl?

Idiotenmitgefühl heißt, daß wir es immer allen Leuten recht machen und ihnen alles geben wollen, was sie sich wünschen, auch wenn es nicht wirklich gut für sie ist. Sie sind immer nett, immer bemutternd, immer lächelnd. Aber Sie sagen nie: "Nein. Das ist nicht in Ordnung." Sie ziehen keine Grenzen, was aber genau das sein könnte, was nötig ist.
   Wenn jemand zum Beispiel sehr aggressiv ist und seiner Umwelt schadet, dann wäre es Idiotenmitgefühl, wenn man ihm gegenüber beschwichtigend und ausgesprochen freundlich wäre, statt nein zu sagen. So verhält man sich aus Furcht, die Person könne einen nicht mögen oder es könnte zu einer unangenehmen Konfrontation kommen. Es kann auch sein, dass wir einfach zu erschöpft sind, um uns zu behaupten. Wenn Ihr Kind gerade seine Hand auf den heißen Ofen legen will, dann würden Sie natürlich niemals sagen: "Gut so, Liebes. Mach nur weiter." Sie würden lautstark "Halt!" schreien. Solch echtes Mitgefühl mag in manchen Momenten grob erscheinen, aber Idiotenmitgefühl ist überhaupt kein Mitgefühl - es ist eher so etwas wie Bequemlichkeit."

(Chödrön, Pema: "TONGLEN. Der tibetische Weg, mit sich selbst und anderen Freundschaft zu schließen." Halifax 2001, 90f.)

(vielleicht liest Er dieses Zitat irgendwann einmal)

Sonntag, 8. Oktober 2017

Die Verantwortung


Es geht um Gefühle. Genauer gesagt, um das Entstehen von Gefühlen und einer damit verbundenen Verantwortung.

Schauplatz der Handlung ist das schwule Netzwerk Gayromeo (und vielleicht auch die Weltraumbasis hier, aber dazu später mehr). Ach nee, mittlerweile heißt es PlanetRomeo, etwas neutraler. Klingt unsinnig? Keinesfalls: Die Community erstreckt sich über den ganzen Erdball, und auch in Länder, in denen Homosexualität ein Verbrechen ist. Da ist es gut, wenn man die Seite z.B. bei der Arbeit geöffnet hat, dass möglichst wenig darauf hindeutet, dass es um Schwule geht. Das kann den Job kosten. Oder die Freiheit. Im schlimmsten Fall das Leben. Ich benutze den Spitznamen der Community, Die Blauen Seiten. Wer das Grundprinzip noch nicht kennt - ich habe schon einmal darüber berichtet.

Ab und an kommt es vor, dass man Gleichgesinnte findet, zum Beispiel Männer mit dem gleichen Fetisch. Und so fängt man an, sich zu schreiben und mehr - wobei das "mehr" hier in Richtung Telefonsex (t6) oder Camsex (c6) geht. Oft ist ein Treffen nicht möglich, denn - je spezieller der Fetisch, umso schwieriger wird es, einen Partner dafür zu finden. Wenn man ihn gefunden hat, wohnt er oft hunderte Kilometer entfernt; deswegen verlässt man sich dann auf Telefon oder Webcam.

Ich habe also auch jemanden gefunden, der meine Neigungen teilt, und wir schreiben uns jetzt schon eine Weile und haben Spaß dabei. Nur leider wird es schwierig, wenn der Andere durchblicken lässt, dass bei ihm Gefühle für mich aufkommen. Ich hätte es am liebsten auf der sexuellen Ebene belassen. Aber, das weiß ja vermutlich jeder von uns, die Liebe richtet sich nicht nach Entfernung.

Heute habe ich ihm geschrieben, dass er sich nicht zu sehr hineinsteigern soll, weil mein Herz einem anderen Mann gehört. Das ist harsch, und vielleicht habe ich ihn damit auch zum Weinen gebracht. Aber es ist eben so. Vielleicht antwortet er mir jetzt nicht mehr. Vielleicht schreibe ich ihm, dass wir doch immerhin weiter texten können. Vielleicht wird er wütend und enttäuscht darauf nicht eingehen - who knows? Aber was hätte ich machen sollen?

Hätte ich ihm weiterhin immer genau das sagen sollen, was er hören wollte? Hätte ich ihm diese Fantasie nicht zerstören sollen? Sondern, im Gegenteil, mehren und mehren? Obwohl ich weiß, dass es nichts wird? Trotzdem einfach den netten Kontakt genießen, während der Andere sich immer stärker in mich verliebt?

Ich bin der Meinung, dass ich das nicht hätte tun sollen. Für mich ist es quasi eine Verantwortung, die Grenze zu ziehen, bevor es auf seiner Seite noch schlimmer wird. Das ist dann halt einmal unangenehm, aber wenigstens weiß er, was in meinem Kopf vor sich geht. Klar, seine Gefühle werden dadurch nicht geringer, aber ich denke, dass die Fronten damit geklärt sind.

Okay, von PlanetRomeo auf zur Weltraumbasis: Der "Hätte...?"-Absatz beschreibt nämlich genau das, was Er gemacht hat. Anfangs waren wir Kumpels, dann habe ich mich in ihn verliebt. Und als die Katze aus dem Sack war, wurde es kein Stück besser, denn Er tat nichts, um mich auf Abstand zu halten. Er hat alles gemacht, was ich wollte, Er hat mir alles gesagt, was ich hören wollte. Immer in dem Bewusstsein "Naja, Dr Hilarius weiß ja, dass ich nicht seine Zielgruppe bin." Und fertig. Auf diese Weise hatte Er ein gutes Gewissen. An den Konsequenzen haben wir bis heute zu knabbern und es wird noch ein ganzes Stück weiter gehen. Er hat das nie böse gemeint, Er hat nie mit mir gespielt - Er war einfach nur sehr naiv.

Manchmal geht mir der Gedanke durch den Kopf, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn Er sich mir gegenüber so verhalten hätte wie ich auf PlanetRomeo. Es wäre quasi seine Verantwortung gewesen, gleich zu Beginn klipp und klar zu sagen "Nein, das wird nichts, und vielleicht sollten wir auch nicht mehr so viel zusammen machen".

Keine Sorge, ich verzehre mich nicht nach ihm, es ist nicht so, dass ich nur noch an ihn denke und dass ich alles für ihn tun würde. Das war einmal, mittlerweile sehe ich da etwas klarer. Ich komme wunderbar ohne ihn zurecht - aber ich möchte ihn nach wie vor in meinem Leben haben, und darauf warte ich. Auch Jahre, wenn es sein muss (es muss sein).

Ein schöner Spruch zu dieser Thematik:

"Treibe nie ein unaufrichtiges Spiel mit einem Herzen, das Dich aufrichtig und treu liebt. Es kommen Zeiten, in denen Du dich vor Schmerzen nach so einem Herzen sehnst."