Dienstag, 22. Oktober 2019

Siebenundzwanzigtausend

Mensa-Days

Vor recht genau sechzehn Jahren habe ich die erste universitäre Vorlesung meines Lebens besucht. Ich fühlte mich klein und dumm, ungebildet, gegenüber diesen gescheiten Herren und Damen, die die Lehre an der Universität voranbringen. Und um mich herum waren viele orientierungslose Erstis, genau wie ich. In Latein gab es im Wintersemester Zweitausenddrei fünfundvierzig Neueinschreibungen! Ich darf das mit einem Ausrufezeichen notieren, denn das waren damals gewaltige Mengen, wie mir meine Grammatiktutorin erzählte - sie selbst natürlich ein höheres Semester, und als sie damals angefangen hatte, gab es gerade einmal fünfzehn Erstsemester in Latein.

Es gab obligatorische Vorlesungen, die die Seminarräume und Hörsäle sprengten. Ich weiß noch sehr gut, wie Dr. Jens-Peter Becker den Raum Zweihundertfünfundzwanzig in der Leibnizstraße Zehn regelmäßig zum Bersten brachte, Sitzen auf dem Fußboden inklusive. Und von der Vorlesung zum Grundkurs Englische Sprachwissenschaft fange ich gar nicht erst an, der Saal der OS75 war gerammelt voll.

Leider gerammelt voll mit Studenten, von denen sich neunzig Prozent eigentlich überhaupt nicht für englische Sprachwissenschaft interessierten. Die diese Vorlesung und den Grundkurs nur besuchten, weil es in ihrem Lehrplan stand. Und wenngleich Rebekka Klingshirn (née Mösenfechtel) und Susanne Hackmack sich alle Mühe gegeben haben, den teilweise sehr trockenen Stoff für junge Erwachsenen peppig aufzubereiten, führt kein Weg drumherum: Sehr viele der jungen Menschen waren einfach fehl am Platz.

Und das ist ja auch vollkommen normal. Erstmal herausfinden, was man überhaupt machen möchte, darauf wird an manchen Schularten meiner Meinung nach zu wenig vorbereitet, gerade an den Gymnasien fehlen Praxisanteile in den Oberstufen.

Naja. So haben wir damals jedenfalls gestopft gesessen, unseren Kakao aus dem Getränkeautomaten getrunken, um gegen die Kälte da draußen anzugehen, und haben zugehört. Und am Ende der Seminare sind viele von uns mit dem Bus Richtung Heimat-WG gefahren - weil es Kiel ist: nass, kalt, dunkel, ungemütlich, und damals gab es noch Linien wie 81/82, damals ist noch die 22 die Olshausenstraße entlang gefahren, man hat versucht, so viele Studenten zu befördern, wie es nur irgendwie ging, aber es nützte nichts: Gerade zu Seminarpausen waren die Busse brechend voll, und ich würde mein drittes Auge verwetten, wenn ich denn eines hätte, dass einige von Euch auch einmal in einem Bus gestanden haben, der an einer Haltestelle einfach vorbeigefahren ist, weil es drinnen und draußen viel zu voll war.

Wir waren damals soooo viele Erstsemester. Der pure Wahnsinn, die Uni konnte das mit ihren Kapazitäten kaum wuppen. Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hatten damals über einundzwanzigtausend Studenten, und die Mittagszeiten in den Mensen waren Beweis dafür.

Und dann höre ich neulich in den Regionalnachrichten, dass die CAU mittlerweile auf siebenundzwanzigtausend Studenten angewachsen ist. Natürlich habe ich die Neubauten verfolgt, zum Beispiel den neuen Bioturm in der Leibnizstraße, und natürlich habe ich verfolgt, wie die Buszeiten auf der OS deutlich intensiviert worden sind, neue Schnellbusse sind hinzugekommen, selbst der Stadtteilbus Linie 6 fährt jetzt mit Gelenkwagen, und es kann nicht nur an dem Doppeljahrgang gelegen haben.

Um meine Psychiaterin zu ziteren: Der Trend geht dahin, das Abitur zu verschenken. Dass viel mehr Schüler an die Universitäten gehen, ist ein bundesweites Phänomen. Eigentlich ja schön, aber genau diese jungen Leute fehlen den vielen Ausbildungsbetrieben in unserem Land. Wo sind die Tischler, wo sind die Handwerker, wo sind die Bäcker, wo die Köche, wo die Elektroinstallateure? Haben viele junge Erwachsene Angst, sich die Hände schmutzig zu machen? Wird ihnen durch einen niedrigeren Schwierigkeitsgrad im Abitur suggeriert, sie alle seien für ein Studium an einer Universität geeignet?

Ich sehe diese Entwicklung problematisch - wie geht es Euch?

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