Samstag, 26. Oktober 2019
Unerwünschtes Verhalten löschen
vorweg: Dieser Beitrag könnte polarisieren, wie auch das Thema an sich. Und das ist auch gut so; Ihr seid herzlich eingeladen, Eure Meinungen dazu zu schreiben.
Projektwoche. Ich leite das Projekt Rollenspiele selbstgemacht für Schüler ab der achten Klasse. Eine kleine Truppe von elf Schülern hat sich eingetragen, viele aus der Mittelstufe, aber auch drei Schüler aus der Oberstufe. Ich genieße den ersten Tag in vollen Zügen: Hier spiele ich mein eigenes Rollenspiel Das Schwimmbad mit ihnen, um ihnen dann an den folgenden Tagen das Knowhow dafür an die Hand zu geben, damit wir am Ende der Woche alle Spiele zusammen spielen können.
Die Schüler lassen sich von der spannenden und abstrusen Geschichte in den Bann ziehen, machen neugierig und kreativ mit und schaffen es schließlich, das Schwimmbad vor einem Terroranschlag zu schützen. Einer der Schüler ist besonders involviert, er scheint vollkommen in dieser Welt, die ich da geschaffen habe, absorbiert zu sein, begeistert, man kann sein Gehirn rattern sehen. Die erwachsene Frau neben ihm lächelt und freut sich für ihn. Sie ist seine Schulbegleitung, er ist ein Schüler mit dem Asperger-Syndrom.
Davon merkt man allerdings nichts. Fast nichts - er ist ganz ruhig und aufmerksam, aber wenn er etwas sagt und dabei von Anderen unterbrochen wird, dann wird er laut. Wenn er seine Gedanken nicht zu Ende führen kann, platzt er. Die drei Oberstufenschüler finden das erst witzig, dann creepy, und sind recht bald von ihm genervt. Es kommt, wie es kommen muss: Tag Zwei des Projektes, und nun sitzen hier nur noch acht Schüler. Die älteren Jungs sind nicht zurückgekommen, nicht heute, nicht für den Rest der Woche. Alle anderen sind wieder da, und so entfaltet sich ein tolles Projekt.
Die Sek II-Schüler haben es sich einfach gemacht: Der Typ nervt uns, das geht gar nicht, wir hauen hier ab. Damit wir Ruhe vor ihm haben, mit dem stimmt doch was nicht. Recht haben sie; nur noch einmal zur Erinnerung: Der Asperger-Autismus ist eine geistige Behinderung. Er sucht sich das nicht aus, plötzlich so laut zu werden, oder lieber allein zu arbeiten, er sucht es sich nicht aus, Andere zu nerven. Er kann oft nicht anders.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen, und nun komme ich zum Grund dieses Beitrags. Mir schwirrt seit meinem Besuch bei der Psychiaterin immer wieder der Begriff Therapie durch den Kopf. Ich benutze Suchmaschinen, schaue, was bei "Autismus Therapie" so herauskommt, und finde verschiedenste Ansätze - biomedizinische wie die Darmsanierung, aber auch verhaltenspsychologische wie die Applied Behavior Analysis (ABA). Soll alles darauf abzielen, den Autisten so gut wie möglich in die Gesellschaft zu integrieren. Man kann also versuchen, alles störende, unerwünschte Verhalten zu löschen, zum Beispiel mit einem Sanktionssystem. Das ist etwas altmodisch, wird aber immer noch praktiziert - Strafe bei zu lautem Reden, Belohnung, wenn der Aspi nicht auffällt.
Und das macht mir Angst. Der Wunsch, den Aspi "normalisieren" zu wollen. Das wirkt auf mich wie Umerziehungsmaßnahmen, und ich finde im Internet ein weit gefächertes Echo dazu. Da gibt es Menschen, die auf viele dieser therapeutischen Ansätze schwören, und solche, die das Verbiegen des Aspis ablehnen (oft die Betroffenen selbst oder deren Angehörige). Diese Umerziehungsmaßnahmen, suggerieren sie dem Aspi nicht, dass er irgendwas falsch macht und sich bessern muss?
Wäre es nicht auch eine Möglichkeit, zu akzeptieren, dass dieser Mensch eine Behinderung hat, und darüber aufzuklären? Seinen Mitmenschen klarzumachen, was es bedeutet, Aspi zu sein, und wie sich das im Verhalten widerspiegeln kann? Und von ihnen Akzeptanz zu erbitten? Meiner Meinung nach bedeutet Inklusion nicht, dass wir versuchen, die behinderten Menschen mit diversen Methoden möglichst normal zu machen, sondern sie mit ihrer Behinderung in die Gemeinschaft aufzunehmen und zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die Spastiken haben, oder Wutanfälle, oder viel zu laut reden, oder was auch immer.
Ich frage mich halt, was ich für eine Therapie machen sollte. Was ich tatsächlich gebrauchen könnte, wäre ein Medikament gegen die Panikattacken. Aber anstatt als Lehrer zu trainieren, unbedingt unauffällig zu sein, würde ich viel lieber Aufklärung im Kollegium leisten, und vor allem in meinen Klassen, damit meine Schüler darauf vorbereitet sind, wenn zum Beispiel mal ein Verbalausfall kommt. Damit sie wissen, dass ich in meiner Sprache keine Hemmschwellen habe, und dass es an dieser Behinderung liegen könnte. Damit sie wissen, wie sie damit umgehen können.
Ich weiß nicht, wie das bei Euch ist, aber ich habe in meinen I-Klassen immer offen darüber gesprochen, wenn ein neuer I-Schüler dazukommt, was bei ihm "anders" ist. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schüler aus I-Klassen wesentlich aufgeschlossener und sozialer im Verhalten sind als solche, die sich vor Menschen mit Behinderung in Sicherheit bringen "konnten" - wie meine drei Jungs in der Projektwoche.
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