...was am Ende bleibt... |
"...nehmen wir nun Abschied von dir." - und damit wird der Sarg ganz langsam in seine Grabstelle hinabgesenkt. Es regnet, ein Herbsttag, und nicht viele Menschen sind auf dem Friedhof zusammengekommen. Vier Menschen, in schwarz gekleidet, die Abschied nehmen. Kaum ist der Sarg ganz hinabgelassen, tritt einer nach dem anderen an das Grab heran. Sie sagt ein paar kaum verständliche Worte, er schweigt und lässt eine Schaufel Sand auf den Sarg niedergehen. Der dritte schaut nur kurz nach unten und geht direkt wieder auf Abstand. Zuletzt spricht der Pfarrer den Segen. "Amen."
"...nehmen wir nun Abschied von dir." - und damit wird der Sarg ganz langsam in seine Grabstelle hinabgesenkt. Die Sonne scheint, ein eiskalter Wintertag, doch trotz der beißenden Kälte haben sich unzählige Menschen zusammengefunden, um Abschied zu nehmen. Es dauert, bis jeder, der etwas sagen möchte, seinen Worten Ausdruck verleihen kann. Jeder wirft eine Schaufel Friedhofserde auf den Sarg, und unter dem Stimmengewirr kann ich keine eindeutigen Worte heraushören. Erst, als die Pastorin den Segen spricht, wird es ruhig. "Amen."
Zwei Beerdigungen, zwei Szenen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, und sie haben nur eine einzige Gemeinsamkeit. Der Verstorbene ist auf beiden Beerdigungen, in beiden Szenen dieselbe Person. Der Verstorbene bin ich.
Ich atme tief durch und lehne mich zurück. Ich habe jetzt intensiv genug auf die beiden Bildschirme geschaut. "Haben sie eine Entscheidung getroffen?" fragt mich der Leiter des Instituts für Entscheidungen. Ich schließe die Augen. "Lassen sie sich nicht drängen, diese Enscheidung will gut überlegt sein, denn schließlich stirbt man nur einmal im Leben." Ich versuche, zu verarbeiten, was ich gerade gesehen habe.
"Denken sie daran, es geht nicht darum, für welche Beerdigung sie sich entscheiden. Es geht um diese andere wichtige Frage, der sie sich zur Zeit stellen müssen." Ich atme nochmals tief durch. "Und es ist wirklich nichts während der Prozedur aufgezeichnet worden? Sie haben keine Ahnung, um welche Entscheidungsfrage es hier für mich eigentlich geht?" "Nein, das ist schließlich unsere Geschäftsidee. Sie bekommen nur eine kleine Entscheidungshilfe, und da unsere Technologie völlig unabhängig vom Kunden und seiner Frage immer nur die beiden potentiellen Beerdigungszeremonien anzeigt, haben wir keinerlei Informationen oder Zugriff darauf, mit welcher Entscheidung sie sich konfrontiert sehen. Wir wissen nur, dass es sich um eine wichtige Entscheidung handelt - sonst wären sie sicherlich nicht zu uns gekommen."
Die Gedanken kreisen durch meinen Kopf. Seitdem ich dieses seltsame Kopfband für die Analyse anlegen musste, scheinen meine Gedankentore weit geöffnet zu sein, egal, ob ich das möchte oder nicht. Jeglicher Schutzmechanismus abgeschaltet. Zum Glück kann ich das Teil gleich wieder ablegen. Ich versuche mich auf meine Entscheidung zu konzentrieren, damit die Bilder auf den Monitoren nicht verfälscht werden. Ich möchte geliebt werden. Ich möchte im Kreise aller meiner Freunde und Verwandten sterben. Ich möchte nicht so unbedeutend sein, dass nur drei Menschen auf meiner Beerdigung erscheinen. Ich möchte anerkannt werden. Ich möchte nicht allein sein. Und daher lege ich meine Hand schließlich auf den rechten Bildschirm, und ein warmes Gefühl durchfährt mich. Ich kann geradezu spüren, wie sie alle Abschied von mir nehmen werden, wenn es denn einmal so weit ist...
...und daher unterschreibe ich endlich den Vertrag, der schon so viele Wochen auf meinem Schreibtisch liegt. Meine Chance, in der Karriereleiter aufzusteigen, nach vorne zu kommen. Das viele Nachdenken hat ein Ende, und ich bin wirklich froh, dass es diese neue Technologie gibt. Wer könnte mir eine bessere Entscheidungshilfe geben als ein Blick auf mein zukünftiges Ich? Ich freue mich schon sehr darauf, in der Firma noch besser integriert zu werden, meinen Freundeskreis zu vergrößern, mehr Rückhalt zu bekommen. Kein unauffälliger, ungeliebter Niemand mehr zu sein. Endlich werden sich die Menschen für mich interessieren, und dieses Bild der Videoprojektion verlässt mein geistiges Auge nicht so schnell. Das behalte ich im Blick, das ist ein Ziel, auf das ich hinarbeiten kann. Auf das es sich hinzustreben lohnt.
Es dauert nicht einmal eine Woche, bis mein erster Vertrauensvorschuss vor meiner Wohnung steht, ein fabrikneuer BMW in glänzendem Schwarz, und ich entscheide mich direkt für eine Fahrt über das Land - einfach nur fahren. Einfach nur die Freiheit genießen, aus den Boxen dröhnt ein Psybient-Soundtrack, der mein Gefühl vom Freisein noch weiter verstärkt. Ein Song klingt gerade aus, und ein Sprachsample schallt durch das Wageninnere - ein paar Sätze, die ich fast schon auswendig mitsprechen kann: "Because we simply cheated ourselves the whole way down the line. We thought of life by analogy with a journey, with a pilgrimage, which had a serious purpose at the end, and the thing was to get to that end - success or whatever it is, or maybe heaven after your death. But we missed the point the whole way along. It was a musical thing, and you were supposed to sing or dance while the music was being played." Ach ja? Und was ist so falsch daran, auf ein tolles Ende hinzuarbeiten? Der Technik sei Dank! Und ich drücke das Gaspedal tiefer...
[die Jahre gehen in's Land]
"...nehmen wir nun Abschied von dir." - und damit wird der Sarg ganz langsam in seine Grabstelle hinabgesenkt. Die Sonne scheint, ein eiskalter Wintertag, doch trotz der beißenden Kälte haben sich unzählige Menschen zusammengefunden, um Abschied zu nehmen. Kein Wunder - denn endlich können sie ihm alles sagen, was sie jahrelang mit sich herumgetragen hatten, aus Angst vor Konsequenzen. Es dauert, bis jeder, der etwas sagen möchte, seinen Worten Ausdruck verleihen kann. Jeder wirft eine Schaufel Friedhofserde auf den Sarg, und unter dem Stimmengewirr lassen sich keine eindeutigen Worte heraushören. Erst, als die Pastorin den Segen spricht, wird es ruhig. "Amen." Dann ein Räuspern in der Menge. "Und fick dich!" - "Du egozentrisches Arschloch!" - "Sklaventreiber!" - "Du hast irgendwann echt deinen eigenen Zug verpasst." - "Passt ja, wo er sich doch immer für den Zugführer gehalten hat." - "Ich frage mich, was aus ihm so einen Mistkerl gemacht hat..."
Seine Wahl vielleicht?
Disclaimer: Das Zitat stammt nicht aus meiner Feder, sondern von dem britischen Philosophen Alan Watts.
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