Mehr als schwarz und weiß |
vorweg: "Demnächst" (Eugen Roth)
Ein Mensch spricht mit dem Freunde fern:
Sie sähn sich - endlich! - wieder gern!
Doch eh sie ganz die Glut entfachen,
Um gleich ein Treffen auszumachen,
Verlöschen eilig sie die Flammen:
"Wir rufen demnächst uns zusammen!"
Sie haben auch, nach drei, vier Wochen,
Am Telefon sich neu besprochen;
Und sie vereinen die Entschlüsse,
Daß man sich demnächst sehen müsse.
So trieben sies noch manches Jahr -
Bis einer - ohne Anschluß war.
Im Kopf fünf Schritte und drei Stunden weiter - einige von Euch kennen das. So konzentriert weiter, dass man von dem Hier und Jetzt nur die Hälfte mitbekommt und es sehr schwer fallen kann, "den Moment zu genießen". Für mich ist es, als würde ich mit meinen Aktionen ein Drehbuch abarbeiten, das ich fünf Schritte und drei Stunden früher geschrieben habe. Das klappt auch, solange das Drehbuch sich genau so entfaltet, wie ich es mir überlegt habe. Ich weiß nicht, ob es Autisten da draußen auch so geht, und ob das ein Grund dafür ist, dass sie komplett ausrasten können, wenn die Dinge unvorhergesehen laufen - Stichwort mangelnde Flexibilität, und so.
Einer der letzten schönen Herbsttage, etwas Sonne, etwas Wind, noch nicht wirklich kalt, und ich ziehe mich an für einen kleinen Spaziergang nach Gaarden. Hin und zurück insgesamt eine Stunde frische Luft, großartig, und natürlich die Bewegung dazu, immerhin ein kleiner Ausgleich für das Herumsitzen in der Wohnung. Und trotzdem: Als ich unten die Ampel zur anderen Straßenseite überquere und zu meiner Linken die Bushaltestelle sehe, wabert durch meinen Kopf der Gedanke, dass ich ja zumindest bis zur Hummelwiese mit dem Bus fahren könnte, sonst dauert das so lange. Mein Blick wandert auf die digitale Anzeige, und ich sehe, dass der nächste Bus in drei Minuten kommt, naja, warum eigentlich nicht? Und ich will gerade zur Bank gehen, da merke ich, wie jemand auf der anderen Straßenseite ebenfalls zur Bushaltestelle möchte, in schwarz gekleidet, und mir zuwinkt und über das ganze Gesicht strahlt. Ich merke, dass Er es ist, und die Gedankenzüge entgleisen für dreieinhalb Sekunden in einem maelstrom of consciousness...
...nein, nicht jetzt, warum steht er da, scheiße, was mache ich jetzt, wir haben uns mehr als zwei jahre nicht gesehen, und ich habe ihm seit einem dreivierteljahr nicht geantwortet, weil ich endlich ohne ihn gut zurechtkomme, naja, dann kann ich doch jetzt mit ihm zusammen auf den bus warten, endlich einmal in den arm nehmen, endlich für einen winzigen moment "satt" sein, ich winke mal zurück, schaue dann aber wieder stumpf auf den boden vor mir, ich muss etwas schneller gehen, ich muss hier weg, hilfe, hoffentlich spricht er mich nicht an, und warum muss ich plötzlich grinsen, warum strahle ich über das ganze gesicht, nur weg hier...
...und ich gehe immer schneller, bekomme gerade noch aus dem Augenwinkel mit, dass Er warten muss, weil gerade viel Verkehr die Straße blockiert. Mein Blick bleibt stumpf auf den Fußweg gerichtet, wie immer, wenn ich das Gefühl habe, dass ich weg muss, nur dass ich diesmal nicht an Fibonacci denken kann, und ich frage mich, warum ich mich so sehr freue, ihn einfach nur für zwei Sekunden gesehen zu haben, ich kann das nicht einordnen. Warum schafft Er es immer noch, mich so aus dem Konzept zu bringen?
Doch irgendwie ist es mittlerweile anders. Klar, ich bin total überfordert, aber ich habe nicht mehr das Bedürfnis, ihm noch an diesem Abend zu schreiben, ihn auf dieses "Ereignis" anzusprechen. Und es ist mir in dem Moment auch nicht so wichtig, was Er wohl denken mag, darüber, dass ich ohne anzuhalten einfach weitergehe, ohne die Gelegenheit zu nutzen, ihn anzusprechen, ohne die Chance an mich zu reißen, dass Er endlich einmal ohne seine Freundin mit mir reden kann. Ich laufe schnurstracks nach Gaarden weiter, aber das Lächeln bekomme ich für den Rest des Tages nicht mehr von meinem Gesicht.
Das ist jetzt eine Woche her, und es hat dafür gesorgt, dass ich über eine Woche nichts Neues hier im Blog geschrieben habe, weil ich meine Gedanken nicht vernünftig konzentrieren konnte. Ich frage mich oft, wie es sein kann, dass so ein Moment mich immer noch so stark berühren kann. Ein Mensch, der "weg" ist. In den ersten Tagen nach diesem Wiedersehen hatte ich häufiger den Wunsch, endlich wieder mit ihm reden zu können. Das Gefühl, dass Er mir zur Zeit doch irgendwie fehlt. Nun ist es noch ein paar Tage später, und mir ist wieder bewusst geworden, dass ich zur Zeit andere Fokuspunkte im Leben habe, dass ich nicht die Bereitschaft habe, mich ihm jetzt intensiver zu widmen.
Ich dachte im Studium öfters, ich sei verliebt gewesen. Dass aber ein Mensch, den ich seit über zwei Jahren nicht gesehen oder gelesen habe, mit einem so kurzen Blick eine so starke emotionale Reaktion hervorrufen kann, das hatte ich noch nie.
Vielleicht sollte der Moment einfach die Erinnerung daran sein, dass man Menschen nie ganz aufgeben sollte - und dass manche Dinge eben viel Zeit brauchen können. Vielleicht werden wir ja irgendwann unser Demnächst haben.
post scriptum: Es ist doch ein drolliger Zufall, dass ich an genau jenem Tag zum ersten Mal die Vorhängeschlösser an der Gablenzbrücke bemerkt habe. Das scheint sich zu einem Klassiker zu entwickeln, zwei Menschen lernen sich kennen, verlieben sich und als Zeichen des Bundes hängen sie ein Vorhängeschloss an die Stahlseile. Es sind wirklich einige Schlösser, manche haben ein Herz darauf, scheinen extra für diesen Zweck produziert worden zu sein (ist ja auch ein klassischer Topos), andere Schlösser sind vollkommen verrostet, so dass man auf ihnen nichts mehr erkennen kann... ich habe den gesamten Neubau der Gablenzbrücke in meinem Studium miterlebt - als ich an die Uni gekommen bin, gab es damals noch die alte, enge Brücke, auf der früher die Straßenbahn gefahren ist. Ich frage mich, ob Kiel irgendwann tatsächlich die seit vielen Jahren diskutierte Stadtbahn (egal in welcher Form) bekommen wird, und wie die Gablenzbrücke dafür bearbeitet werden müsste, denn die Verbindung der beiden Fördeufer ist eine klassische Aufgabe der Straßenbahn damals gewesen.
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