Samstag, 23. Februar 2019

Tunnelfahrt

Berlin Gleisdreieck. Rechts vom Bild der U-Bahnhof, links die Einfahrt in den Apartmentblock und dann schließlich unter die Erde. Eine der ungewöhnlichen Sehenswürdigkeiten in Berlin.

Das wird jetzt wieder nerdig, so wie damals die S-Bahn-Fahrt (HB-Style) oder der Beitrag Ich hör' nur Bahnhof! - es geht also mal wieder um Zugfahrten, wobei der Fairness halber gesagt sein sollte, dass auch Autofahrten durch einen Tunnel aufregend sein können.

Es geht aber nichts darüber, in einem Zug zu sitzen, selbstverständlich in Fahrtrichtung, um immer sicher sein zu können, was kommt (seid Ihr schon einmal rückwärts in einen Tunnel gefahren? Grauenhaft!) und um die Antizipation zu steigern: Es ist ein unglaublich spannendes Erlebnis, im Zug auf einen Berg zuzufahren: Erst noch zwei, drei Kilometer entfernt, und ich frage mich, ob der Zug wohl daran vorbeifahren wird? Oder mittendurch, hinein in die Finsternis, mit Druck auf den Ohren (Druhck sagt die große Buba) und dem Gefühl, in das eigene Verschwinden hineinzufahren?

Die Gleise driften nach links, nach rechts, der Berg wird an die Seite geschoben, nein, es geht wohl doch daran vorbei, jetzt ist es noch ein Kilometer. Aber langsam wird mir bewusst, dass es kein vorbei gibt, denn der gesamte Bergkamm ist wesentlich höher als das Niveau, auf dem der Zug sich gerade befindet. Wie aufregend, es bleibt nur der Weg direkt durch den Berg, es muss ein Tunnel kommen, kann ich die Einfahrt schon sehen?

Natürlich kann ich das nicht, denn ich sitze auf der rechten Seite, weil ich unbedingt sehen will, wie der Tunnel heißt, und es findet sich nun einmal bei den meisten Tunnels an der Tunneleinfahrt auf der rechten Seite ein kleines Schild, das den Namen angibt und bei über zweihundert Sachen nur für den Bruchteil einer Sekunde zu lesen ist. Welcher Tunnel wird es wohl sein? Ist es etwa der Mündener Tunnel, auf den ich die ganze Zugfahrt schon warte, weil es der zweitlängste Eisenbahntunnel Deutschlands ist? Oder sogar der Landrückentunnel, die Nummer Eins, beide gute zehn Kilometer lang?

Diese letzten drei, zwei Sekunden vor der Einfahrt in den Tunnel sind aufregend, extrem schnell und ich bin extrem konzentriert: Wie heißt der Tunnel, wie sieht das Tunnelportal aus, wie steil ist das Gefälle der Bergwand, wie lang ist der Einfahrtsbereich des Tunnels? Alles innerhalb von einem blitzschnellen Moment wahrnehmen und dann die Informationen auswerten, während wir in die Dunkelheit rauschen, der Klang der Zugfahrt wird immer dumpfer, der Druck auf den Ohren steigt...

...und dabei empfinde ich Tunnelfahrten im ICE noch als recht uninteressant - was mich trotzdem nie davon abgehalten hat, in meiner Kindheit, als wir im Sommer in den Schwarzwald gefahren sind, zu Ferien auf dem Bauernhof, alle Tunnels der Strecke zwischen Hamburg und - mit Umsteigen - Freiburg auswendig zu lernen, selbstverständlich in der richtigen Reihenfolge und mit der exakten Länge in Metern.

Spannender finde ich Tunnelfahrten im ÖPNV, in der S- oder U-Bahn. Die Fahrt ist deutlich langsamer, ich habe mehr Zeit, um aufzunehmen, ob wir einfach nur zwischen zwei Straßen in einen Tunnel abtauchen, oder ob es vielleicht etwas aufregender wird, so wie bei der Einfahrt der U1 in Berlin, nach dem Bahnhof Gleisdreieck, wenn der Zug in ein Wohngebäude abtaucht (das Bild am Beitragskopf). Nicht ganz so irre wie in China, wo eine S-Bahn im achten Stock mitten durch ein Wohnhaus fährt - und dort auch anhält - aber trotzdem recht unkonventionell.

Wie aufregend!


Mich interessieren längere Tunnelfahrten - nehmen wir das Beispiel des Nord-Süd-Tunnels der Linien S1 und S2/25 in Berlin. Vom langsamen Gefälle nach dem letzten oberirdischen Bahnhof Yorckstraße aus kann man sehen, dass man in eine Art Niemandsland abtaucht - früher war es zumindest so: Ein Tunnel mitten in der Wildnis, Müll, Gestrüpp, unspannend. Dann aber kam der Neubau des Berliner Hauptbahnhofs auf dem Gelände des ehemaligen Lehrter Stadtbahnhof. Fünf Etagen, davon zwei unterirdisch, eine riesige Glaskuppel, zwei den Bahhof überspannende Bürogebäude - und etwa drei Kilometer südlich davon taucht man in den Untergrund ein. Man kann den Hauptbahnhof in der Ferne erkennen, und seitdem die Fernbahngleise von Nord nach Süd durch das Tiefgeschoss des Hauptbahnhofs führen, taucht man nicht mehr in die Wildnis ein, sondern unter der Tunneleinfahrt der Fernbahn, und ich stelle mir dabei vor, wie verschlungen die Kellergewölbe dort sein müssen.

Klar ist es irgendwie blöd, dass die S1/2/25 als eine der Hauptaorten des Berliner ÖPNV nicht an den Hauptbahnhof angeschlossen sind, und dass die U55 bisher auch nur ein Randdasein führt. Aber irgendwann wird das anders sein, und dann werden die Tunnel noch spannender. Irgendwann. Genauso wie irgendwann der BER eröffnet wird.

Und ein Punkt, der noch sehr aufregend ist, ist die Frage: Wie sieht die Landschaft wohl aus, wenn wir mehrere Kilometer entfernt wieder aus dem Untergrund auftauchen? Ein komplett neuer Stadtteil, wird es dort Villen geben? Oder Sozialbauten? Sieht es dort anders aus als an dem Ort, wo wir in die Finsternis eingetaucht sind? Hat sich mittlerweile vielleicht sogar das Wetter geändert? Irgendwie kann ich jedem Moment der Tunnelfahrt etwas Spannendes abgewinnen; über die Konstruktion der unterirdischen Bahnhöfe hatte ich ja damals im Ansatz schon einmal berichtet (obwohl Rainer G. Rümmler definitiv noch seinen eigenen Eintrag in diesem Blog bekommen wird, denn das ist U-Bahn-Architektur auf einem ganz anderen Niveau!) - und ich merke, es wird Zeit, dass ich wieder einmal nach Berlin fahre.

Andere interessante Tunneleinfahrten? Die U5 taucht hinter der Haltestelle Tierpark Richtung Hellersdorf auf und fährt dabei direkt am Tierparkgelände entlang, es ist spannend, die großen Volieren zu beobachten. Die U2 hat als Besonderheit, dass der Bahnhof Mendelssohn-Bartholdy-Park direkt den Übergang zwischen ober- und unterirdischer Gleisführung bildet. Die U6 taucht in Tegel kurz auf, und am Bahnhof Otisstraße (ehemals Seidelstraße) kann man das Flughafengelände beobachten. Es wird spannend werden, wie sich der Flughafen BER entwickelt. Die S-Bahn-Anbindung vom alten Flughafen über Waßmannsdorf führt in einen unterirdischen Bahnhof, und wenn man sich aus einem Anfall von Vernunft doch noch entscheiden sollte, die U7 von Rudow aus zum Flughafen weiterzuführen, wird der letzte Streckenabschnitt oberirdisch verlaufen.

Bleiben noch Tunnelfahrten auf Achterbahnen; sie sind selten, leider, weil sie die Kontruktion einer Achterbahn extrem verteuern können - besonders wenn es unterirdisch sein soll und nicht nur eingehaust. Dennoch werten sie jede Bahn ungemein auf, besonders, wenn es höchst unkonventionelle Dunkelfahrten sind wie bei'm Schwur des Kärnan oder Flight of Fear. Es ist ein tolles Gefühl, jeglichen Bezug zur Realität draußen zu verlieren, sich in den Achterbahnzug zu setzen und einfach darauf zu vertrauen, dass man irgendwann wieder an's Tageslicht kommen wird. Das intensiviert den Effekt der Achterbahnfahrt, etwas Ungewöhnliches zu erleben. Und deswegen steigen wir schließlich (meistens) in die Achterbahn.

Ich sollte an dieser Stelle nicht das Erlebnis im amerikanischen Park Kings Island vergessen. Dort steht mit The Beast die längste Holzachterbahn der Welt, ein Rekord, der seit exakt vierzig Jahren gehalten wird. Mehrere Teile der fast zweieinhalb Kilometer langen Strecke verlaufen unterirdisch und entführen den Fahrgast in die Wildnis und durch die Wälder von Ohio - ein Erlebnis, das umwerfend und schwer in Worte zu fassen ist - trotzdem hat ein coaster enthusiast das damals zum dreißigjährigen Jubiläum in einer philosophisch angehauchten Untersuchung gemacht.

The Beast führt durch die Wälder, deswegen ist nur ein minimaler Teil aus der Vogelperspektive zu erkennen.
post scriptum: Wow, ich komme gerade aus dem Film "Searching" (2018), einem richtig spannenden Film für die Generation "digital natives". Das dürfte Schülern gefallen: Ein Vater macht sich auf die Suche nach seiner vermissten Tochter, und fast der gesamte Film spielt aus des Vaters Perspektive auf dem Bildschirm seines Laptops. Das ist, wie ich lese, schon häufiger gemacht worden, aber selten so gut. Ich fand den Film extrem spannend, die gesamte Klaviatur der Emotionen wird mit Hilfe der schönen Filmmusik durchgespielt, und ich könnte mir vorstellen, dass Schüler den Film lieben werden - weil jeder von uns in diesem Film Online-Verhaltensweisen wiedererkennen kann. Ich nehme meine Begeisterung mit in die Meditation; das war definitiv eine gute Entscheidung heute. Was mich aber wieder fasziniert hat - öfters taucht der Ausdruck "Suche nach vermisster Teenagerin" auf, zum Beispiel als Google-Suchergebnis - als hätte Aristophanes die krampfhafte Feminisierung jeglicher Wörter vor über zweitausend Jahren erahnt, als er in seiner Komödie "Die Wolken" ("Nephelai", Herr Leinhos schenkt mir die griechischen Buchstaben, ich bin dazu zu unbedarft) über die "Schüsselin" schrieb...

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