Freitag, 31. Juli 2020

Durchgebrannt (T'n'T)

Die Hochzeitsgesellschaft

Ich bin mir nicht ganz sicher - kann es tatsächlich sein, dass ich diese Anekdote im Blog noch nicht erzählt habe? Falls ja, dann überspringt Ihr das einfach. Falls nein - nun, diese Geschichte zeigt, wie viel Unsinn man machen kann, wenn man jung ist. Ist vielleicht gerade nicht ganz unpassend, wenn man betrachtet, wie viele Jugendliche und junge Erwachsene momentan trotz der Corona-Pandemie es auf's Feiern anlegen - momentan ist die Berliner Hasenheide in den Medien, aber auch in Hamburg soll es Einschränkungen zum Alkoholausschank geben. Und was hat dieser Irre äi käi äi DrH damals im Studium gemacht? Er ist mit seinem damaligen Freund durchgebrannt - und hat seine "Hochzeitsgesellschaft" sitzengelassen.

Aber von Anfang an. Ich habe T vor fünfzehn Jahren kennengelernt. Wir waren damals im Kieler Birdcage für einen netten Abend. Mein Freund D (wir waren damals seit einigen Wochen im Guten getrennt) hatte mich dorthin geschleppt, er wollte sich mit seinem Ex treffen, der hatte seinen neuen Partner dabei, und irgendwie waren wir dann also eine Tuckenrunde, in der scheinbar jeder was mit jedem hatte, außer mir. Ja, so ist die Schwulenszene nun mal; auch wenn nicht alle so sind, so werden Partner doch gern und häufig weitergereicht. Man nimmt eben, was man bekommen kann, als Minderheit in der Bevölkerung, und außerdem habe ich den Eindruck, dass Schwule sexuell aufgeschlossener sind - wenn sie denn ihr closet erstmal aufgeschlossen haben.

Ich fand T damals sofort total süß. Er sah ziemlich jung aus, hatte ein richtig niedliches Gesicht und Lächeln und überhaupt, ich war sofort in ihn verschossen - aber das behielt ich natürlich für mich. Nach und nach fingen wir an, über die blauen Seiten zu chatten, und so kam eins zum anderen, beziehungsweise ich kam im Auto eines Nachts zu ihm nach Westerhever auf Eiderstedt, wo er seinen Zivildienst in einem Pflegeheim absolvierte. Einfach nur für einen Filmabend, selbstverständlich, ich war viel zu schüchtern, um nach etwas Anderem zu fragen. Wir haben Sommersturm geschaut, ausgerechnet.

Sorry, es wird auch ein bisschen romantisch und kitschig - durchhalten!

Das war zwar nicht im Sommer, aber es war trotzdem stürmisch. Das hat es drinnen umso gemütlicher gemacht, und es hat nach dem Ende des Films nicht mehr lange gedauert, bis wir zusammen auf's Bett gefallen sind und gekuschelt haben. Das war einer dieser Momente, die bestimmt einige von Euch kennen - endlich ist diese Barriere gefallen, ich weiß, dass ich den Anderen küssen darf, die Schüchternheit darf mal etwas in den Hintergrund rücken. In dieser Stimmung hat T mir erzählt, dass er sich bereits an diesem Abend im Birdcage vor einigen Monaten in mich verguckt hat. Das hat wohl auf Gegenseitigkeit beruht, das ist eine Grundlage für immerhin ein paar schöne Momente. Außerdem hat es irgendwie gepasst - ohne in die Details zu gehen, kann man sagen, dass T'n'T charakterlich und sexuell ganz gut zusammengepasst haben.

Wir waren außerdem beide gern albern und etwas kindlich. "Etwas??" mag sich jetzt vielleicht die Sannitanic fragen. Ja, genau wie bei der großen Buba habe ich auch bei T in den Kindheitsmodus gewechselt; man könnte fast sagen, ich hätte mich schwul verhalten. An solch' einem albernen Abend haben wir uns überlegt, dass wir doch einfach mal heiraten könnten. Nicht Standesamtiges, nichts Kirchliches, einfach nur eine kleine nette spielerische Geste. Das war natürlich nur ein Hirngespinst, aber an dem Abend haben wir uns das richtig detailliert ausgemalt - ein schönes Essen, eine richtige Predigt, alle in tollen Outfits, und natürlich würden wir dann auch durchbrennen und einfach mit dem Wagen von Kiel nach Dithmarschen fahren, an die Westküste, zu meinen Eltern, und dort die Hochzeitsnacht verbringen.

Diese Hirngespinste sind nach und nach so detailliert geworden, dass wir uns fragten, warum wir eigentlich noch überlegen. Dass das eine völlig schwachsinnige, irre, planlose, wilde Idee war - geschenkt. Wir sind Twens, wir wollen high life in Tüten, also warum nicht? Und so haben wir uns zusammengesetzt und einen Plan gebastelt. Rückblickend: Perfekt - Pläne, die dann eingehalten werden können, finde ich toll, das entspannt mich, und deswegen haben wir einen genauen Ablauf für das Event vorgesehen, das ich im Folgenden einfach Hochzeit nenne.

Als Erstes würden wir uns bei Burger King treffen. Freunde des Bräutigams und des Bräutigams. Dort würden wir uns vollstopfen, und dort würden wir auch die Trauung durchführen lassen. Wer würde uns wohl die Ehre des Standesbeamten erweisen? Ich fand es großartig, dass YazzTazz sich bereiterklärt hat, die Hochzeit zu vollziehen, in einem wunderschönen Bollywood-Outfit, und die anderen Gäste bitte in Abendgarderobe. Das sollte problemlos ablaufen. Danach gehen wir dann die zweihundert Meter Richtung Kronshagener Berge, alle Gäste werden in mein Zimmer verfrachtet, und ich bereite in der Küche den Nachtisch zu. Das wäre meine Ausrede, um aus dem Zimmer zu verschwinden. Und T? Der würde sich einfach auf's Klo entschuldigen. 

Und dann? Wie bekommen wir das hin, ihnen klarzumachen, dass wir durchbrennen würden - nicht, dass sie sich noch ernsthaft Sorgen machen, wenn wir plötzlich unauffindbar sind. Wie man es auch dreht und wendet - wir brauchten einen Komplizen. Einer der Gäste musste in den Plan eingeweiht sein, musste den genauen Ablauf kennen und zur Not die richtigen Schritte im Ablaufplan dirigieren. Es musste jemand sein, auf den ich mich absolut verlassen konnte, jemand, der den anderen Gästen eher unbekannt war, damit nichts rausrutschen konnte. Also fragte ich bei meiner besten Freundin A an, jene, in die ich damals in der Oberstufe verliebt war. A fand die Idee witzig und machte sich von Dithmarschen auf den Weg, um unsere Verbündete zu werden. Dann mussten wir nur noch einen "Abschiedsbrief" vorbereiten, Knabbersachen und Getränke bereitstellen, damit die zurückgelassenen Gäste sich trotzdem noch einen schönen Abend machen können. 

Genau so haben wir das Event dann durchgezogen. Es hat alles geklappt wie am Schnürchen, YazzTazzs Rede war schön, das Essen war lecker, die Gesellschaft sehr nett, niemand hat Verdacht geschöpft. Ein irres Gefühl, wie der Puls schneller wird, wenn man realisiert, dass es nur noch ein paar Minuten sind, bis man die Wohnung verlässt. Aufregend! T war genau so aufgeregt, aber wir versuchten, uns nichts anmerken zu lassen. Als der Nachtisch fertig zubereitet war, gab ich A und T im Zimmer das verabredete Zeichen und begab mich auf die Flucht - T einen kleinen Moment später. Aufgeregt standen wir im Fahrstuhl nach unten, der Puls rast, hoffentlich merken sie noch nichts, wäre zu blöd, wenn sie uns doch noch abfangen. Aber trotz aller Aufregung musste ein romantischer Kuss im Fahrstuhl noch sein. Dann ab in den Wagen, die Taschen schon längst eingepackt, und raus aus Kiel, total verliebt.

Ein einziger Wehmutstropfen blieb - ich hätte zu gern miterlebt, wann die Anderen merken, dass etwas nicht stimmt, und wie sie darauf reagieren, und was sie aus dem Abend machen. Schon damals war ich intensiv daran interessiert, menschliches Verhalten zu beobachten, und das wäre echt toll gewesen. Leider hatte ich dazu keine Gelegenheit.

...würde ich sagen, wenn wir nicht auch das mit eingeplant hätten, und so hatte ich in meinem Bücherregal ein Diktiergerät versteckt und auf Aufnahme geschaltet. So habe ich am Sonntag Abend einen kompletten Tonmitschnitt des Abends vorgefunden, habe mir ein leckeres Essen zubereitet und dann genüsslich schmunzelnd angehört, was die anderen Gäste so erlebt haben. Ich habe diese Datei auch heute noch, und es ist immer wieder schön zu erleben, wie die Anderen sich zunächst irgendwann fragen, wo T'n'T so lange sind - Mutmaßung: T ist zu T auf die Toilette gegangen und sie machen dort herum. Lacher. Einige Minuten später wird es etwas ernster, einer macht sich auf die Suche, findet aber niemanden. Leider auch nicht den Abschiedsbrief, den wir nicht sehr subtil an die Eingangstür gehängt hatten. Zum Glück war A noch vor Ort, und hat unauffällig den Zettel gefunden und alle aufgeklärt, dass wir durchgebrannt sind. Zu schön, sich die Gesichter in dem Moment vorzustellen!

Nun hätte ich ja gedacht, dass sie dann einfach den Nachtisch essen und nach Hause gehen - aber Studenten feiern nun mal gern, und so haben sie sich den Nachtisch aufgeteilt und nette Musik angemacht - Zitat: "Gute Musik bei T zu finden - ein hoffnungsloses Unterfangen." und sind dann schließlich bei ABBA Gold gelandet; von da an haben sie sich noch einen schönen Abend gemacht, zwei Stunden lang nett unterhalten, amüsiert über unser Durchbrennen, und haben sich Pläne überlegt, wie sie sich "rächen" könnten, darunter das Bett auseinander bauen oder alle CDs in den Alben vertauschen. Großartig! 

Unter'm Strich muss ich sagen - egal, wie dämlich die Idee auch gewesen sein mag, es war aufregend und wir hatten jede Menge Spaß. Eine Anekdote, an die ich mich vermutlich noch lange erinnern werde. Und unsere Eheringe haben wir noch heute ;-)


Montag, 27. Juli 2020

Ein Glas "Asperger Pur", bitte!


Welch' ein Genuss:

Ich falle heute morgen gegen elf Uhr aus dem Bett, mit dem Tagesplan im Kopf, den ich mir in der letzten Nacht zurechtgelegt habe. Ich brauche mein Drehbuch für den Tag, das gibt mir Sicherheit - an dieser Stelle lohnt es sich wirklich, noch einmal den Beitrag Hochbegabte Entgleisungen zu lesen. Ich habe das eben gemacht, und da habe ich doch tatsächlich geschrieben, dass jeder dieses Gefühl kennen müsste, und dass ich Mitleid mit Autisten hätte, denn bei denen dürfte es schlimm sein, wenn dieses Drehbuch nicht abgespielt wird, beziehungsweise dieser Gedankenzug für den Tag entgleist. Lest das mal, es ist so anschaulich, das sollte ich im Themenbereich verlinken - oder zumindest diesen Beitrag, als Nachschlagewerk, quasi.

Schwenken wir also zu heute morgen, nutzen wir statt der Drehbuch- wieder die Zugmetapher. Mein Zug für heute schreibt mir vor, dass ich um Elf Uhr die große Buba anschreibe, Treffen und so, und der gesamte Rest des Tages ist auch geplant - wann ich ein Videospiel spiele, wann ich in meinem Tagebuch weiterlese, wann ich einen Blogartikel schreibe, wann ich esse, unter die Dusche gehe, meditiere, Buba kommt, ich ein Hörspiel höre und dann in's Bett gehe. Alles geplant, ich bin beruhigt, das kann jetzt so ablaufen.

Also öffne ich um Elf Uhr Facebook, um eine Nachricht zu schreiben, und dann wird mir in rot angezeigt, dass ich selbst eine neue Nachricht habe, nämlich von der Sannitanic:

"Hey DrH,
Das ist jetzt spontan, sorry! Ich habe um 11h einen Zahnarzttermin und danach "kindfrei" in Kiel - wollen wir uns in der Stadt treffen?
Liebe Grüße"

Und dann geht's los. Beziehungsweise nein, alles hält an. Ich schaue auf die Nachricht und reagiere nicht mehr. Ich möchte nachdenken, kann es aber nicht, während ich die Nachricht sehe, ich fühle mich wie einbetoniert. Screenshot. Ich gehe zur Küchenzeile, stütze mich mit der Stirn gegen den Küchenschrank und schaue auf die Gläser unten auf der Arbeitsfläche. Ich schaue auf die runden Formen, vergleiche die Größen. Ich stelle fest, dass es leichter ist, das Größenverhältnis von Quadraten anzugeben, als von Kreisen, und in Gedanken stelle ich die Glaskreise ineinander.

Was antworte ich ihr jetzt? Sie schreibt es ja selbst - "das ist jetzt spontan, sorry!" - also weiß sie doch eigentlich, dass ich das nicht annehmen werde, oder? Wie schreibe ich ihr das? Oder sollte ich es doch irgendwie hinbiegen, dass es klappt? Immerhin geht es um meine beste Freundin, und wir haben uns lange nicht gesehen, und es fällt mir immer noch sehr schwer, abzusagen. Was mache ich nur?

Ich stehe eine Weile so gegen den Küchenschrank gelehnt, noch immer geistig einbetoniert, schließe dann die Augen, denn die Glasringe unten lenken mich ab. Der Verkehrslärm von rechts ist dagegen gleichmäßig und entspannend. Ein Auto rauscht heran, dann rauscht es herab. Ob sie enttäuscht ist, wenn ich absage?

Ich habe noch nicht dieses Selbstbewusstsein, dass ich mir sage, okay, sie weiß, dass bei mir der Verdacht auf Autismus besteht, und das würde bedeuten, dass das absolut nicht in Frage kommt - sich spontan zu treffen. Hinzu kommt noch, dass das im Studium kein Problem zu sein schien; wenn da plötzlich abends ein gewisser Ole unten vor den Kronshagener Bergen stand und sich auf ein Glas Wein eingeladen hat - gar kein Problem! Oder mit YazzTazz mal eben zu Burger King tingeln und ein wenig Frust ablassen und Gedanken sortieren - jederzeit!

Es gibt eine Erklärung dafür. Ich habe mir das im Laufe der letzten Jahre gedacht, und mittlerweile hat Tony Attwood (Facharzt für das Asperger-Syndrom) es mir bestätigt: Das Asperger-Syndrom wird auch als high-functioning autism bezeichnet, weil es sich im Prinzip um Autisten handelt, die aber trotzdem noch sehr gut "funktionieren" können, die relativ wenig auffallen. Nicht ganz so krass wie zum Beispiel Dustin Hoffman in Rain Man (1988), und bei dem kommt ja auch noch das Savant-Syndrom hinzu. Und genau so war es bei mir im Studium auch - klar war ich auffällig, aber irgendwie eher skurrill, und das ist bei Studenten der Klassischen Altertumskunde nicht ungewöhnlich, wir hatten da einige Autisten (die lateinische und griechische Sprache sind so herrlich beruhigend angenehm logisch).

Der wesentliche Unterschied zwischen damals und heute: Damals hatte ich einen festgeschriebenen Lebensplan. Erst Schule, dann Studium, so lange, wie es dauert, und dann an eine Schule, arbeiten, dann irgendwann Ruhestand, dann whatever. Mir war überhaupt nicht klar, dass ich nach dem Studium keine Stelle bekommen würde, nicht einmal im Ansatz. Auch wenn die Sannitanic mich vorsichtig zu warnen versucht hat - ich habe niemals damit gerechnet, alles war sicher, alles war absehbar, und so konnte ich gut funktionieren.

Seit sechs Jahren gehe ich von einer Schule an die nächste, und meine Welt bricht immer mehr zusammen. Immer mehr Unsicherheiten, immer mehr Unwägbarkeiten, ich kann auf nichts mehr bauen, auf nichts vertrauen, ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Tony Attwood nennt es stress. Und genau da liegt die crux: Unter Stress funktionieren Aspis überhaupt nicht mehr. Dann bricht ihnen der Boden unter den Füßen weg, und die Symptome des ganz klassischen Autismus können immer stärker hervortreten. Dadurch habe ich mir meine Jobchancen durch auffälliges Verhalten mehr und mehr versaut, im Prinzip ein Teufelskreis. Ich konnte ihn bis dato nicht benennen, hatte das Prinzip zwar im Kopf, aber Tony Attwoods fachliche Expertise hat mir gefehlt.

Jetzt weiß ich also endlich, warum ich in der Scheiße stecke, und das ist weder übertrieben noch dramatisch gemeint, sondern einfach sachlich betrachtet. Und jetzt wird mir das Ausmaß des Umstandes bewusst, dass ich ein Jahr länger an meiner Schule bleiben kann, denn vielleicht gibt mir das jetzt endlich wieder eine Möglichkeit, einen Lebensplan aufzubauen. Ein groß- wie auch kleinformatiges Skript zu entwerfen, an einer Schule zu arbeiten, an meiner Schule zu arbeiten, mit Tagesabläufen, in denen ich irgendwann dann auch endlich wieder spontan einem Treffen zusagen kann.

Ich hoffe es sehr.

Sonntag, 26. Juli 2020

Mein erster Kuss - la version hétérosexuel


"Sind sie schwul?"

Unvergessener Lehrermoment aus der Zeit in St.Peter-Ording; die Antwort lautete damals kurz und knapp Ja, obwohl ich mir da eigentlich gar nicht so sicher war und bin. Mittlerweile antworte ich, dass ich mich eigentlich nicht festlegen möchte - warum sollte ich auch? Mein Tagebuch verrät mir, dass ich den Großteil meiner Schulzeit in Mädchen verliebt war. Was es mir nicht verrät, weil ich es - warum auch immer - nicht niedergeschrieben habe, ist die kleine Anekdote meines ersten Kusses mit einer Frau.

Ich nenne sie Tilda, auch wenn sie nicht Tilda heißt - vielleicht wird aus dem Text deutlich, warum hier die Anonymität sinnvoll ist. Ich war seit der Mittelstufe mit Tilda in einer Klasse, und ich fand sie cool, weil sie unauffällig, ruhig, aber irgendwie interessant war. Und sie wurde eine sehr gute Freundin, weil sie mit einem Freak wie mir gut zurechtgekommen ist. Wir haben auch über die Schule hinaus bis in's Studium immer wieder nette Zeiten verbracht.

Das war noch die Phase, in der ich so froh war, offen mit jemandem über das Thema Sex zu reden. Ich fand es total interessant, von Frauen zu hören, wie das bei denen denn so ist, und Tilda hatte auch keine Probleme, mit mir darüber zu sprechen. Und bei ihr war es richtig interessant, denn sie hatte eine Affäre mit einem verheirateten Mann, und was sie zu erzählen hatte, war richtig aufregend, und ich habe das alles gierig aufgenommen.

Ich hatte damals selbst noch nicht so viel zu berichten - trotzdem fanden wir immer Gesprächsthemen, wenn wir uns zum Beispiel für einen Abend bei'm Griechen verabredet hatten. Mal waren das Freizeitparks, dann waren es Affären, dann war es der Beruf oder das Studium. Und natürlich hatte ich ihr auch total begeistert von meinem ersten Kuss erzählt - ich kann ja meinen Mund nicht halten. Konnte. Oder kann immer noch nicht, whatever. Und dann waren wir auch auf die Frage gekommen, ob ich schon einmal eine Frau geküsst hatte, was nicht der Fall war.

Naja, irgendwann wurde der Abend später, und ich habe es schon damals nicht ganz so lange mit anderen Menschen ausgehalten, also verließen wir das Restaurant Richtung Parkplatz, wo jeder mit seinem Auto geparkt hatte. Ich weiß nicht mehr, wie es dann genau dazu gekommen war, aber ich glaube, ich habe sie gefragt, ob ich nicht einmal mit ihr einen Kuss ausprobieren könnte - schön mit allem, was dazu gehört. Da war dann keine große Barriere mehr, gesagt, getan, und mit geschlossenen Augen habe ich den Unterschied kaum mehr gemerkt.

Aber irgendwie war da dieses Bewusstsein, dass ich eben doch eine Frau küsste, und das hat die ganze Sache sehr "sachlich" werden lassen. Ein Experiment eben. Ich könnte mir vorstellen, dass es sich so für einen heterosexuellen Mann anfühlen dürfte, einen anderen Mann zu küssen. Trotz aller Sachlichkeit bleibt dieser Moment aber unvergessen - mon premier baiser, la version hétérosexuel.

Donnerstag, 23. Juli 2020

Die Corvette

Wie wir waren

Man wird diesen Beitrag leicht als Kommentar zum Thema Oberflächlichkeit lesen können, aber eigentlich geht es mir um etwas ganz Anderes, und ich hoffe, dass das bis zum Ende des Artikels deutlich wird. Auch sollte dieser Beitrag ursprünglich Über das Alleinsein heißen, denn genau daran musste ich heute viel denken - aber wie es so kommen kann: Die Gedanken sind frei.

Ich versinke zur Zeit in einem Panoptikum auf mein bisheriges Leben, unterstützt durch das, was von meinem Tagebuch seit dem Jahr Zweitausend erhalten ist. Ich stelle fest, wie ich mich verändert habe, und es ist nicht immer einfach zu lesen - wie schnell ich mich habe beeindrucken lassen, wie schnell ich zu Meinungen und Vorverurteilungen gelangt bin, wie impulsiv ich damals gedacht habe (wesentlich drastischer als heute), wie meine Tagebuchgedanken von Oberflächlichkeiten geprägt waren - nicht immer einfach zu lesen, weil es mich mit einem leichten Grauen davor schüttelt, was ich für ein Jugendlicher gewesen bin.

Sinngemäß habe ich den Satz heute wieder in einer Fernsehserie gehört, die sich mit dem Thema Zeitreisen beschäftigt - ist es nicht bemerkenswert, wie wir die meiste Abneigung einem Menschen gegenüber im Blick auf uns selbst empfinden können? Mich reizen Zeitreisegeschichten, wenn sie wirklich gut gemacht sind, wegen ihrer Implikationen: Wenn ich könnte, würde ich in die Vergangenheit reisen, um einen Menschen zu retten, den ich verloren habe? Wenn ich könnte, würde ich versuchen, mich davon abzuhalten, der zu werden, der ich heute bin? Wenn ich könnte, würde ich Dinge ungeschehen machen? Herrlicher Diskussionsstoff für die Oberstufe, und es gibt mittlerweile wirklich viel brillante Literatur, Filme, Serien, Videospiele und noch mehr, die sich mit diesen Fragen ernsthaft und anspruchsvoll auseinandersetzen.

Angeregt also durch diese Serie und einige Gedanken daraus, habe ich heute einmal auf eine Anekdote zurückgeblickt, die zwar nicht im Tagebuch festgehalten ist, an die ich mich aber sehr gut erinnern kann.

Gehen wir zurück, etwa zwanzig Jahre, als Dr Hilarius ein Jugendlicher war und in einem kleinen Dorf aufgewachsen ist, mit einer Nachbarsfamilie, deren Töchter S1 und S2 ganz tolle Spielgefährten waren - was ich ihnen damals nie in dieser Form habe bewusst werden lassen. Wie Kinder nun einmal so sind - Mitmenschen und Freunde werden quasi als selbstverständlich hingenommen. Und wie Teenager dann auch so sind - es finden sich erste Partner an. Und so stand eines Tages auf dem Rasen vor dem Nachbarhaus ein Auto, das wir in unserer Straße bisher noch nie gesehen hatten - eine Corvette. Ein auffälliges Auto, und kombiniert mit dem Umstand, dass in einem Zweitausend-Seelen-Dorf viel geredet wird und jede Veränderung kommentiert wird, oft mit Misstrauen, konnte das Lästern beginnen.

Die ältere Schwester S1 hatte sich also einen Freund geangelt, der eine Corvette fährt, ein Sportwagen, und ziemlich schnell haben sich Meinungen gebildet - in unserem Haus, aber auch bei S1s Eltern, und überhaupt in der ganzen Straße. Sofort war für alle klar, was das für ein Mensch sein musste, dieser neue Freund, mit so einer Prollkarre. Engere Auseinandersetzung mit diesem Menschen war gar nicht gewollt.

Nun ist es also zwanzig Jahre später, und wir haben mittlerweile vielleicht selbst Kinder. Werden wir auch so reagieren? Werden wir auch misstrauisch werden, wenn unsere Tochter sich mit einem Jungen trifft, der ein auffälliges Auto fährt? Oder wenn unser Sohn eine Freundin mitbringt, die sich sexuell aufreizend kleidet? Oder wenn plötzlich ein gleichgeschlechtlicher Partner auftaucht? Oder werden wir es anders machen wollen als unsere Eltern, weil wir damals erlebt haben, wie das ist? Und werden unsere Kinder es dann wieder anders machen wollen?

Ich merke, dass ich mich sehr an meine Examensarbeit erinnert fühle - Die Generation X in der nordamerikanischen Literatur - in der ich mich mit diesen Fragen auseinandergesetzt habe (Ach sieh' an, die habe ich noch nicht veröffentlicht? Ist in Arbeit!). Das war vor knapp zehn Jahren, und nun bin ich wieder etwas älter, denke wieder etwas anders, und wahrscheinlich werde ich in zehn Jahren - wenn dieser Blog dann noch besteht - wieder anders denken. Das fasziniert mich ungemein, und deswegen bin ich auch von dieser Serie fasziniert, beziehungsweise Zeitreisegeschichten im Allgemeinen. Werden wir immer derjenige, der wir später sind? Können wir da überhaupt "mitreden"? Sind wir uns dessen überhaupt bewusst? Und wie haben unsere Eltern diese Gedanken erlebt, und wie werden unsere Kinder diese Gedanken erleben?

Eure Gedanken dazu?

Eine Corvette

Mittwoch, 15. Juli 2020

Männer...


...immer wieder interessant zu beobachten: Neulich in der Stadt steht an der Bushaltestelle eine junge Lady, schlank, schaut sich um, während sie auf den Bus wartet. Es dauert nicht lange, bis ein Exemplar der maskulinen Art kommt - das sind dann Momente, wo ich fast wegschauen möchte oder mich fremdschämen müsste: Er sieht, dass sie ihn einmal kurz angeschaut hat, aber sie sieht wieder weg.

Was macht er? Positioniert sich genau in ihrem Blickfeld, macht richtig die Schultern breit, damit sie was zu gucken hat. Dieses Imponiergehabe! Dann dreht er sich einmal linksherum, einmal rechtsherum, während er weiter seine breiten Schultern und seine aufgepumpte Brust präsentiert. Umso herrlicher zu beobachten, wie sie dann einfach woandershin schaut.

Aber er gibt nicht auf, positioniert sich wieder in ihrem Blickfeld und liefert seine Proll-Show ab. Manche Typen ändern sich echt nie - ich ticke dann eher wie die Dame, denn sie ist irgendwann ziemlich genervt und geht einfach weg. Er bleibt allein zurück, auf einmal sind die Schultern nicht mehr so breit, die Brust nicht mehr so dick, sie hat ihn abblitzen lassen...



Es ist immer wieder interessant, Tauben zu beobachten, während man auf den Bus wartet. Egal welche Spezies, die Männer müssen sich immer präsentieren - some things never change, der Natur sei gedankt.

Sonntag, 12. Juli 2020

Rest in Flames


Während ich jetzt so langsam aufräume, wird mir allmählich das Ausmaß bewusst, in dem ich meine Wohnung vernachlässigt habe, in der Zeit der Unsicherheit. Meine Denkweise (könnte Aspi sein, könnte aber auch ganz normal sein): "Wenn ich nicht weiß, ob ich im August wieder arbeitslos bin - ob meine Welt wieder einmal zusammenbricht, und ich nicht weiß, wofür ich das alles tun soll, warum soll ich dann aufräumen?"

Zum ersten Mal festgestellt habe ich das vorhin, als ich mein Bett neu bezogen habe; das letzte Mal muss Monate her sein. Und diesmal dann auch gleich mit neuer Bettwäsche; das spricht dann eher für die Denkweise "Toll, ich darf ein Jahr länger an meiner Schule bleiben, jetzt macht es auch Sinn, mein Leben zuhause endlich wieder in den Griff zu bekommen." Und dazu gehört eben auch das Home Improvement, wie zuletzt mit Melisse Etheridge. Nur, dass es diesmal eine neue Bettwäsche ist, die vom Label meines Vertrauens stammt.

Das ist dann wieder typisch Aspi, taucht aber auch bei normalen Menschen auf: Ich bestelle mein Apparel, also Outfits, Jacken, Textilien und so weiter, Kissen für die Couch oder auch die Bettwäsche, eigentlich nur noch bei Spiral UK, erst recht, seitdem die Auswahl bei'm deutschen Vertrieb EMP immer größer wird.

Ich fühle mich darin tatsächlich wohl, ruhig, entspannt und sicher ;-)

Freitag, 10. Juli 2020

Immer nur die Anderen!


Kiel Ringstraße, Kreuzung. Ein älterer Herr geht bei Rot über die Straße und wird fast von einem Auto angefahren, das aus der Seitenstraße auf die Kreuzung fahren möchte. Der ältere Herr wird sofort wütend, schlägt mit seiner Tasche zweimal auf die Motorhaube des Autos und schreit: "Ey, was soll das denn? Wozu gibt es hier wohl eine Ampel??" und zeigt dabei auf die Ampel. Der Autofahrer öffnet sein Fenster und entgegnet: "Ja, und die Ampel hat Rot für sie und Grün für mich." Der ältere Herr sagt: "Also so eine Frechheit!" und überquert die Straße.

Immer wieder interessant, zu sehen, wie einige Menschen für ihr eigenes Fehlverhalten andere Menschen ausschimpfen. Zu dieser Situation passt auch eine Beobachtung der letzten vier Wochen im Kieler Busverkehr: Im Schnitt trägt jeder fünfte Fahrgast seine Maske überhaupt nicht oder - scheinbar ein Trend - nur über den Mund, aber die Nase bleibt frei. Wie sagte Einstein: "Das Universum und die Dummheit der Menschen sind unendlich - nur bei dem Universum bin ich mir noch nicht sicher."

Meistens sind es jüngere Menschen bis Mitte Dreißig, die die Maskenregeln nicht beachten, aber eine interessante Beobachtung von heute: Ein älterer Herr nimmt extra zum Husten seine Maske herunter, und er hustet nicht in seine Ellenbeuge, sondern mitten in den Bus. Und es ist auch faszinierend festzustellen, wie wenige Menschen ihre Mitmenschen darauf hinweisen, wie der korrekte Umgang mit den Masken aussieht. Und wenn sie es dann doch tun, werden sie in drei von vier Fällen angemeckert. Gleiches Verhalten wie bei dem Ampelmann oben.

Ich fange gar nicht erst an, irgendwelche Quoten (von fünfzig Prozent oder so) anzugeben von Menschen, die sich im Sophienhof nicht an die auf dem Boden in grellem Orange vorgeschriebenen Laufrichtungen halten. Des Menschen Tendenz zur Rechthaberei und sein Unwillen, eigene Fehler zuzugeben, sind erstaunlich - es sind immer nur die Anderen, die sich scheiße Verhalten, heißt es dann zum Beispiel mit Blick auf die Trump-Anhänger in den USA - aber sie laufen auch bei uns herum, und das nicht zu knapp.

Für solche Situationen lässt sich immer ein Gedicht von Eugen Roth finden (gibt vermutlich noch passendere, aber er hat Hunderte Gedichte geschrieben, und ich habe gerade nur einen kurzen Überblick eingeholt - kann aber definitiv den Sammelband Sämtliche Menschen empfehlen. Roth ist perfekt für kleine Schmunzler zwischendurch und kommt immer gut an):


Zivilcourage

Ein Mensch erfährt, daß unsre Zeit
Voll sei von Rücksichtslosigkeit
Doch sieht aus Feigheit, aus bequemer,
Er ringsum lauter Rücksichtnehmer.
Die Freiheit geht wohl doch im Grunde
Aus solcher Rücksicht vor die Hunde.

Donnerstag, 9. Juli 2020

Surreal

Hilarious!

Gestern hat die große Buba ein Foto von mir gemacht, das symptomatisch für einen Teil meiner Lebenseinstellung ist. Ich werde ganz bestimmt nicht sagen "Realität ist langweilig!" - denn das ist sie nicht. Aber sie ist für mich nicht so reizvoll. Ich habe gelesen, dass Aspis häufig die Möglichkeit nutzen, sich in fiktionale Welten zu flüchten.

In der Realität werde ich angefeindet dafür, wie ich bin. In der Realität gibt es Grau. In der Realität gibt es Regen. In der Realität gibt es Schwerkraft. Ich versuche, mir surreale Phasen zu ermöglichen - in denen eigentlich alles wie immer ist, aber eine Kleinigkeit ist eben doch anders. Aus diesem Grund habe ich über meinem Bett eine Schwarzlichtlampe fest an der Wand montiert - dadurch lässt sich eine abgefahrene Atmosphäre erzeugen, und das möchte ich manchmal einfach nur genießen.

Die Realität kann aufregend sein - mein Arbeitsvertrag ist angekommen - aber hin und wieder sehne ich mich nach diesen kleinen Momenten Realität Plus.

Mittwoch, 8. Juli 2020

Flora im Badreich

Natur im Bad - gefällt mir.

Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, Melisse Etheridge zu Chuck die Pflanze in's Bad zu stellen und ihr einen vernünftigen Pflanzkasten zu besorgen. Aus irgendeinem Grund finde ich den Gedanken schön, im Bad Pflanzen zu haben. Ein dritter neuer Mitbewohner ist bereits geplant, aber dazu muss ich schauen, ob es eine Pflanze gibt, die die verschiedenen Kriterien erfüllt. Jedenfalls fühlt sich das gut an!

Sonntag, 5. Juli 2020

Kaugummi

Immer Vorräte da 

Wann immer man mir in der Kindheit, Jugend und Adoleszenz Kaugummi angeboten hat, habe ich dankend abgelehnt. Ich dachte mir, wozu soll ich auf einem Kaugummi herumkauen, Nährwert kaum vorhanden, Hunger wird nicht gestillt - warum kauen Menschen Kaugummis?

Im Studium ist mir dann immer wieder die Information unter die Augen gekommen, dass Kaugummikauen Schülern bei der Konzentration helfen kann. Fair enough, aber das konnte kein Anreiz für mich sein. Wenn ich mich auf eine Sache intensiv konzentriere, dann lenkt mich das Kauen eher ab, ich kann dann keine anderen Sinneseindrücke gebrauchen.


Seit ein paar Jahren habe ich nun doch immer Kaugummi in ausreichender Menge in der Wohnung. Die einzige Bedingung ist, dass es Xylit-Kaugummis sein müssen, denn die haben tatsächlich einen praktischen Nutzen und geben mir eine Antwort auf die Frage "Wozu soll ich auf einem Kaugummi herumkauen?". Xylit ist ein Wirkstoff, der Kariessäuren im Mund neutralisieren kann, wenn man lang genug darauf herumkaut - in etwa zwanzig Minuten.

Ich weiß nicht, ob es Euch auch so geht, aber wenn ich etwas gegessen habe, habe ich etwas später immer einen Nachgeschmack im Mund, säuerlich eben, und den mag ich überhaupt nicht. Deswegen kaue ich mittlerweile nach jeder Mahlzeit direkt eines dieser Xylit-Kaugummis, bis ein angenehm frischer und danach neutraler Geschmack im Mund bleibt.

Das unterstützt übrigens tatsächlich die Zahnpflege, weil auf diese Weise die Kariessäuren sich nicht an den Zähnen zu schaffen machen können. Ersetzt sie natürlich nicht - aber für mich, der ich mir nur einmal am Tag die Zähne putze (wenn ich denn dran denke), sind die Kaugummis eine wunderbare Ergänzung und aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken.

post scriptum: Ein Gefühl aus meiner Jugend wabert derzeit wieder in meinem Kopf herum - ich spiele endlich mal wieder ein klassisches Grafikadventure, "The Vanishing of Ethan Carter", und ich kann es richtig genießen: Die wunderschöne Landschaft betrachten, einfach mal nur dastehen, ohne jeglichen Zeitdruck, mit angenehmer, nicht aufdringlicher Musik im Hintergrund, dazu die Naturgeräusche, und in aller Ruhe die Gegend betrachten und anhand einzelner Hinweise eine Geschichte in meinem Kopf zusammensetzen. Das erinnert mich an eines meiner Lieblingsspiele in der Jugend (und im Studium), "Riven", wo man ebenfalls ganz entspannt durch faszinierende Landschaften wandern kann. Ich hatte tatsächlich vergessen, was für ein Genuss das ist.


Samstag, 4. Juli 2020

Ein Philosoph macht Schule?


Ich bin neulich aus Versehen mal wieder über Richard David Precht im Fernsehen gestolpert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr ihn kennt, kann hoch sein, denn er ist ein in den Medien omnipräsenter Populärphilosoph, dessen Thesen polarisieren. Das einzige Thema, bei dem ich in Ansätzen mitreden kann, ist Schule. Precht hat ein Buch dazu veröffentlicht, Anna, die Schule und der liebe Gott, das Zweitausenddreizehn Begeisterungsstürme und gnadenlose Verrisse inspiriert hat.

Ich gehöre zu zweiterer Gruppe. Was Precht in dem Buch macht: Er malt ein apokalyptisches Bild unseres Bildungssystems, das an allen Ecken erkrankt ist und komplett reformiert werden muss. Das ist alles nicht neu, diese Rufe gibt es schon seit Jahren, aber Precht stellt sich als eine Art Heilsbringer dar, der endlich mal sagt, was Sache ist. Drollig: Genau aus diesem Grund ist Donald Trump Präsident der USA geworden.

Ist ja schön und gut, wenn man den status quo ein weiteres Mal auf's Tapet bringt, aber Prechts Buch ist deswegen völlig überflüssig, weil es keinerlei konkrete Maßnahmen zur Umstrukturierung des Schulwesens nennt. Es bleibt alles schwammig, unklar, nur angedeutet, wie zum Beispiel das "Abenteuerprojektjahr" im achten Jahrgang, das anstelle des Unterrichts ein gemeinsames Arbeiten an selbstgewählten Projekten stellt, intrinsische Motivation und so. Das kennen wir bereits deswegen, weil Projektarbeiten längst an Schulen etabliert sind. Wenn man dann gern genauere Details zu diesem Jahr erhalten möchte - geht man leer aus. Konkretionen gibt es bei Precht nicht.

Und dann ist da auch noch dieser unsägliche Eindruck, den nicht nur das Buch erzeugt; wenn man Precht in Interviews über Schule sprechen hört, merkt man ziemlich schnell, dass er keine Ahnung davon hat, wie ein Schulalltag konkret aussieht. Keine Ahnung von Bewerbungsverfahren, von Schulrecht, auch hier wieder nur philosophische, ganz allgemein formulierte Ideen.

Eines muss man Precht aber lassen: Er heizt Diskussionen an. Sollte danach allerdings nicht in der Diskussion von Fachleuten mitreden.

Wer eine Dosis Precht erleben möchte, mag sich vielleicht sein Interview mit dem Handelsblatt durchlesen, in dem Precht konstatiert, dass wir in der Coronakrise vollkommen überreagiert haben. Einfach hier klicken.

post scriptum: Wahrscheinlich habe ich mir jetzt einige Feinde gemacht - aber Ihr seid herzlich eingeladen, zu kommentieren, warum Precht eben doch für das Schulwesen unverzichtbar ist.

Donnerstag, 2. Juli 2020

Sensory Sensitivity


"...a person with Asperger's syndrome can have:

- both hyper- and hyposensitivity to sensory experiences
- sensory distortions
- sensory "tune outs"
- sensory overload
- unusual sensory processing
- difficulty identifying the source channel of sensory information

...the sensory world is certainly perceived differently by people with Asperger's syndrome.

...there are three types of noise that are perceived as extremely unpleasant. The first category is sudden, unexpected noises, that one adult with Asperger's syndrome described as "sharp", such as a dog barking, telephone ringing (...) the second category is high-pitched, continuous sounds (...) the third category is confused, complex sounds such as occur in shopping centres or noisy social gatherings.

"I still hate balloons, because I never know when one will pop and make me jump."

...we are starting to recognize that listening to music using headphones can camouflage the noise that is perceived as too intense and enable the person to walk calmly round the shopping centre or concentrate on work in a noisy classroom.

...while some sounds are perceived as extremely unpleasant, it is important to remember that some sounds are extremely pleasurable: for example, a young child being fascinated by specific theme tunes (...) [Ich habe tatsächlich schon 2018 geschrieben über mein autistisches Verhalten, ohne zu realisieren, dass ich ein Autist sein könnte]


...everyday gestures of affection, for example a reassuring touch on the forearm or an expression of affection and love by an embracing hug, may not be perceived as a pleasant sensation by the person with Asperger's syndrome. [Ich habe Flo damals erklärt, dass er einer der ganz wenigen Menschen ist, den ich gern in den Arm nehme]


...the young child may insist on a plain or restricted diet, such as only having boiled rice or sausages and chips for every evening meal for several years.

...children and adults report being "blinded by brightness" and avoid intense levels of illumination (...) There can also be an intense fascination with visual detail, noticing specks on a carpet or blemishes on one's skin.

...for the person with Asperger's syndrome, there can be intense pleasure in examples of visual symmetry. For young children this can be the parallel lines and sleepers or ties of a railway track, a picket fence or electricity pylons in a rural landscape. Adults with Asperger's syndrome may extend the interest in symmetry to an appreciation of architecture. [Ich dachte damals, das hätte mit Hochbegabung zu tun - im Studium habe ich eine Hausarbeit über einen Architekturstil geschrieben, und während ich Jugendstil nicht gern mag, bin ich ein großer Fan von Frank Lloyd Wright]


...concern regarding the perceived intensity of colours can lead to a preference for wearing only black clothes, which is not necessarily a fashion statement. [Damals hatte ich geschrieben, das ich schwarz als Schutz trage, aber es beruhigt mich auch; deswegen ist auch dieser Blog schwarz - weil mir andere Farben zu grell erscheinen]


...the child is "gravitationally insecure", becoming anxious if his or her feet leave the ground, and feeling disoriented when having to change body position rapdily, as required in ball games such as soccer. (...) In contrast, I have known children with Asperger's syndrome who have experienced extreme pleasure when on a roller-coaster ride, to such an extent that roller coasters have become a special interest. They are great to listen to and watch. [Ich habe Angst, auf Leitern oder auch nur kleine Tritte zu steigen, weil ich ja fallen könnte, und wenn man mir früher bei'm Handballspielen einen Ball zugepasst hat, war ich überfordert, was ich damit machen sollte - deswegen war ich ein Ersatzbank-Spieler]


...the child or adult with Asperger's syndrome may appear very stoic, and not flinch or show distress in response to levels of pain that others would consider unbearable. The child's attention can be drawn to a bruise or cut but the child can't remember how it happened. (...) on freezing winter days the person may insist on continuing to wear summer clothes. It is as if he or she has an idiosyncratic internal thermostat. (...) [Gerade erst vor ein paar Wochen hatte ich mir im Unterricht meinen Fingerknöchel am Fenster blutig geschlagen - ich habe es erst gemerkt, als ein Schüler mich darauf hingewiesen hat, und öfters finde ich an meinem Körper mal blaue Flecke, Schrammen oder kleinere Wunden und weiß gar nicht, wobei das passiert ist]


"At low levels of stimulation the response is exaggerated, but at higher levels the senses seem to shut down and I can function better than normal in most instances. A trivial event can quite dramatically hamper my ability to function, but when faced with trauma, I can think logically and act calmly and efficiently when others would panic under the same reaction." [Total seltsam, dass ich zum Beispiel bei kleinen, harmlosen Stößen "Aua" sage (oder mich bei dem Möbel entschuldige, gegen das ich gestoßen bin), obwohl es überhaupt nicht schmerzt, aber wenn es richtig wehtut, so wie der gebrochene Finger, den ich zurückgebrochen habe, dann ist das irgendwie alles entspannt (und nein, das lag nicht nur am Schock)]


...it is possible that such children were less able to perceive the internal signs of bladder and bowel discomfort to prevent toileting "accidents".

...there is a rare form of sensory perception, synaesthesia, where the person experiences a sensation in one sensory system, yet perceives the sensation in another modality. (...) He explained that specific sounds are often accompanied by vague sensations of colour, shape, texture, movement, scent or flavour."

(Attwood, Tony: The Complete Guide to Asperger's Syndrome, London 2007, S.284-301)

Natürlich treffen die Beschreibungen nicht nur auf Aspis zu; so kennen bestimmt die Hypersensitiven (HSPs) unter Euch auch eine Menge der beschriebenen Wahrnehmungen.

Die beiden spannendsten Kapitel "College and Career" und "Long-Time Relationships" liegen noch vor mir - ich bin sehr gespannt!