Freitag, 10. Juli 2020

Immer nur die Anderen!


Kiel Ringstraße, Kreuzung. Ein älterer Herr geht bei Rot über die Straße und wird fast von einem Auto angefahren, das aus der Seitenstraße auf die Kreuzung fahren möchte. Der ältere Herr wird sofort wütend, schlägt mit seiner Tasche zweimal auf die Motorhaube des Autos und schreit: "Ey, was soll das denn? Wozu gibt es hier wohl eine Ampel??" und zeigt dabei auf die Ampel. Der Autofahrer öffnet sein Fenster und entgegnet: "Ja, und die Ampel hat Rot für sie und Grün für mich." Der ältere Herr sagt: "Also so eine Frechheit!" und überquert die Straße.

Immer wieder interessant, zu sehen, wie einige Menschen für ihr eigenes Fehlverhalten andere Menschen ausschimpfen. Zu dieser Situation passt auch eine Beobachtung der letzten vier Wochen im Kieler Busverkehr: Im Schnitt trägt jeder fünfte Fahrgast seine Maske überhaupt nicht oder - scheinbar ein Trend - nur über den Mund, aber die Nase bleibt frei. Wie sagte Einstein: "Das Universum und die Dummheit der Menschen sind unendlich - nur bei dem Universum bin ich mir noch nicht sicher."

Meistens sind es jüngere Menschen bis Mitte Dreißig, die die Maskenregeln nicht beachten, aber eine interessante Beobachtung von heute: Ein älterer Herr nimmt extra zum Husten seine Maske herunter, und er hustet nicht in seine Ellenbeuge, sondern mitten in den Bus. Und es ist auch faszinierend festzustellen, wie wenige Menschen ihre Mitmenschen darauf hinweisen, wie der korrekte Umgang mit den Masken aussieht. Und wenn sie es dann doch tun, werden sie in drei von vier Fällen angemeckert. Gleiches Verhalten wie bei dem Ampelmann oben.

Ich fange gar nicht erst an, irgendwelche Quoten (von fünfzig Prozent oder so) anzugeben von Menschen, die sich im Sophienhof nicht an die auf dem Boden in grellem Orange vorgeschriebenen Laufrichtungen halten. Des Menschen Tendenz zur Rechthaberei und sein Unwillen, eigene Fehler zuzugeben, sind erstaunlich - es sind immer nur die Anderen, die sich scheiße Verhalten, heißt es dann zum Beispiel mit Blick auf die Trump-Anhänger in den USA - aber sie laufen auch bei uns herum, und das nicht zu knapp.

Für solche Situationen lässt sich immer ein Gedicht von Eugen Roth finden (gibt vermutlich noch passendere, aber er hat Hunderte Gedichte geschrieben, und ich habe gerade nur einen kurzen Überblick eingeholt - kann aber definitiv den Sammelband Sämtliche Menschen empfehlen. Roth ist perfekt für kleine Schmunzler zwischendurch und kommt immer gut an):


Zivilcourage

Ein Mensch erfährt, daß unsre Zeit
Voll sei von Rücksichtslosigkeit
Doch sieht aus Feigheit, aus bequemer,
Er ringsum lauter Rücksichtnehmer.
Die Freiheit geht wohl doch im Grunde
Aus solcher Rücksicht vor die Hunde.

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