Montag, 27. Juli 2020

Ein Glas "Asperger Pur", bitte!


Welch' ein Genuss:

Ich falle heute morgen gegen elf Uhr aus dem Bett, mit dem Tagesplan im Kopf, den ich mir in der letzten Nacht zurechtgelegt habe. Ich brauche mein Drehbuch für den Tag, das gibt mir Sicherheit - an dieser Stelle lohnt es sich wirklich, noch einmal den Beitrag Hochbegabte Entgleisungen zu lesen. Ich habe das eben gemacht, und da habe ich doch tatsächlich geschrieben, dass jeder dieses Gefühl kennen müsste, und dass ich Mitleid mit Autisten hätte, denn bei denen dürfte es schlimm sein, wenn dieses Drehbuch nicht abgespielt wird, beziehungsweise dieser Gedankenzug für den Tag entgleist. Lest das mal, es ist so anschaulich, das sollte ich im Themenbereich verlinken - oder zumindest diesen Beitrag, als Nachschlagewerk, quasi.

Schwenken wir also zu heute morgen, nutzen wir statt der Drehbuch- wieder die Zugmetapher. Mein Zug für heute schreibt mir vor, dass ich um Elf Uhr die große Buba anschreibe, Treffen und so, und der gesamte Rest des Tages ist auch geplant - wann ich ein Videospiel spiele, wann ich in meinem Tagebuch weiterlese, wann ich einen Blogartikel schreibe, wann ich esse, unter die Dusche gehe, meditiere, Buba kommt, ich ein Hörspiel höre und dann in's Bett gehe. Alles geplant, ich bin beruhigt, das kann jetzt so ablaufen.

Also öffne ich um Elf Uhr Facebook, um eine Nachricht zu schreiben, und dann wird mir in rot angezeigt, dass ich selbst eine neue Nachricht habe, nämlich von der Sannitanic:

"Hey DrH,
Das ist jetzt spontan, sorry! Ich habe um 11h einen Zahnarzttermin und danach "kindfrei" in Kiel - wollen wir uns in der Stadt treffen?
Liebe Grüße"

Und dann geht's los. Beziehungsweise nein, alles hält an. Ich schaue auf die Nachricht und reagiere nicht mehr. Ich möchte nachdenken, kann es aber nicht, während ich die Nachricht sehe, ich fühle mich wie einbetoniert. Screenshot. Ich gehe zur Küchenzeile, stütze mich mit der Stirn gegen den Küchenschrank und schaue auf die Gläser unten auf der Arbeitsfläche. Ich schaue auf die runden Formen, vergleiche die Größen. Ich stelle fest, dass es leichter ist, das Größenverhältnis von Quadraten anzugeben, als von Kreisen, und in Gedanken stelle ich die Glaskreise ineinander.

Was antworte ich ihr jetzt? Sie schreibt es ja selbst - "das ist jetzt spontan, sorry!" - also weiß sie doch eigentlich, dass ich das nicht annehmen werde, oder? Wie schreibe ich ihr das? Oder sollte ich es doch irgendwie hinbiegen, dass es klappt? Immerhin geht es um meine beste Freundin, und wir haben uns lange nicht gesehen, und es fällt mir immer noch sehr schwer, abzusagen. Was mache ich nur?

Ich stehe eine Weile so gegen den Küchenschrank gelehnt, noch immer geistig einbetoniert, schließe dann die Augen, denn die Glasringe unten lenken mich ab. Der Verkehrslärm von rechts ist dagegen gleichmäßig und entspannend. Ein Auto rauscht heran, dann rauscht es herab. Ob sie enttäuscht ist, wenn ich absage?

Ich habe noch nicht dieses Selbstbewusstsein, dass ich mir sage, okay, sie weiß, dass bei mir der Verdacht auf Autismus besteht, und das würde bedeuten, dass das absolut nicht in Frage kommt - sich spontan zu treffen. Hinzu kommt noch, dass das im Studium kein Problem zu sein schien; wenn da plötzlich abends ein gewisser Ole unten vor den Kronshagener Bergen stand und sich auf ein Glas Wein eingeladen hat - gar kein Problem! Oder mit YazzTazz mal eben zu Burger King tingeln und ein wenig Frust ablassen und Gedanken sortieren - jederzeit!

Es gibt eine Erklärung dafür. Ich habe mir das im Laufe der letzten Jahre gedacht, und mittlerweile hat Tony Attwood (Facharzt für das Asperger-Syndrom) es mir bestätigt: Das Asperger-Syndrom wird auch als high-functioning autism bezeichnet, weil es sich im Prinzip um Autisten handelt, die aber trotzdem noch sehr gut "funktionieren" können, die relativ wenig auffallen. Nicht ganz so krass wie zum Beispiel Dustin Hoffman in Rain Man (1988), und bei dem kommt ja auch noch das Savant-Syndrom hinzu. Und genau so war es bei mir im Studium auch - klar war ich auffällig, aber irgendwie eher skurrill, und das ist bei Studenten der Klassischen Altertumskunde nicht ungewöhnlich, wir hatten da einige Autisten (die lateinische und griechische Sprache sind so herrlich beruhigend angenehm logisch).

Der wesentliche Unterschied zwischen damals und heute: Damals hatte ich einen festgeschriebenen Lebensplan. Erst Schule, dann Studium, so lange, wie es dauert, und dann an eine Schule, arbeiten, dann irgendwann Ruhestand, dann whatever. Mir war überhaupt nicht klar, dass ich nach dem Studium keine Stelle bekommen würde, nicht einmal im Ansatz. Auch wenn die Sannitanic mich vorsichtig zu warnen versucht hat - ich habe niemals damit gerechnet, alles war sicher, alles war absehbar, und so konnte ich gut funktionieren.

Seit sechs Jahren gehe ich von einer Schule an die nächste, und meine Welt bricht immer mehr zusammen. Immer mehr Unsicherheiten, immer mehr Unwägbarkeiten, ich kann auf nichts mehr bauen, auf nichts vertrauen, ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Tony Attwood nennt es stress. Und genau da liegt die crux: Unter Stress funktionieren Aspis überhaupt nicht mehr. Dann bricht ihnen der Boden unter den Füßen weg, und die Symptome des ganz klassischen Autismus können immer stärker hervortreten. Dadurch habe ich mir meine Jobchancen durch auffälliges Verhalten mehr und mehr versaut, im Prinzip ein Teufelskreis. Ich konnte ihn bis dato nicht benennen, hatte das Prinzip zwar im Kopf, aber Tony Attwoods fachliche Expertise hat mir gefehlt.

Jetzt weiß ich also endlich, warum ich in der Scheiße stecke, und das ist weder übertrieben noch dramatisch gemeint, sondern einfach sachlich betrachtet. Und jetzt wird mir das Ausmaß des Umstandes bewusst, dass ich ein Jahr länger an meiner Schule bleiben kann, denn vielleicht gibt mir das jetzt endlich wieder eine Möglichkeit, einen Lebensplan aufzubauen. Ein groß- wie auch kleinformatiges Skript zu entwerfen, an einer Schule zu arbeiten, an meiner Schule zu arbeiten, mit Tagesabläufen, in denen ich irgendwann dann auch endlich wieder spontan einem Treffen zusagen kann.

Ich hoffe es sehr.

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