Wie wir waren |
Man wird diesen Beitrag leicht als Kommentar zum Thema Oberflächlichkeit lesen können, aber eigentlich geht es mir um etwas ganz Anderes, und ich hoffe, dass das bis zum Ende des Artikels deutlich wird. Auch sollte dieser Beitrag ursprünglich Über das Alleinsein heißen, denn genau daran musste ich heute viel denken - aber wie es so kommen kann: Die Gedanken sind frei.
Ich versinke zur Zeit in einem Panoptikum auf mein bisheriges Leben, unterstützt durch das, was von meinem Tagebuch seit dem Jahr Zweitausend erhalten ist. Ich stelle fest, wie ich mich verändert habe, und es ist nicht immer einfach zu lesen - wie schnell ich mich habe beeindrucken lassen, wie schnell ich zu Meinungen und Vorverurteilungen gelangt bin, wie impulsiv ich damals gedacht habe (wesentlich drastischer als heute), wie meine Tagebuchgedanken von Oberflächlichkeiten geprägt waren - nicht immer einfach zu lesen, weil es mich mit einem leichten Grauen davor schüttelt, was ich für ein Jugendlicher gewesen bin.
Sinngemäß habe ich den Satz heute wieder in einer Fernsehserie gehört, die sich mit dem Thema Zeitreisen beschäftigt - ist es nicht bemerkenswert, wie wir die meiste Abneigung einem Menschen gegenüber im Blick auf uns selbst empfinden können? Mich reizen Zeitreisegeschichten, wenn sie wirklich gut gemacht sind, wegen ihrer Implikationen: Wenn ich könnte, würde ich in die Vergangenheit reisen, um einen Menschen zu retten, den ich verloren habe? Wenn ich könnte, würde ich versuchen, mich davon abzuhalten, der zu werden, der ich heute bin? Wenn ich könnte, würde ich Dinge ungeschehen machen? Herrlicher Diskussionsstoff für die Oberstufe, und es gibt mittlerweile wirklich viel brillante Literatur, Filme, Serien, Videospiele und noch mehr, die sich mit diesen Fragen ernsthaft und anspruchsvoll auseinandersetzen.
Angeregt also durch diese Serie und einige Gedanken daraus, habe ich heute einmal auf eine Anekdote zurückgeblickt, die zwar nicht im Tagebuch festgehalten ist, an die ich mich aber sehr gut erinnern kann.
Gehen wir zurück, etwa zwanzig Jahre, als Dr Hilarius ein Jugendlicher war und in einem kleinen Dorf aufgewachsen ist, mit einer Nachbarsfamilie, deren Töchter S1 und S2 ganz tolle Spielgefährten waren - was ich ihnen damals nie in dieser Form habe bewusst werden lassen. Wie Kinder nun einmal so sind - Mitmenschen und Freunde werden quasi als selbstverständlich hingenommen. Und wie Teenager dann auch so sind - es finden sich erste Partner an. Und so stand eines Tages auf dem Rasen vor dem Nachbarhaus ein Auto, das wir in unserer Straße bisher noch nie gesehen hatten - eine Corvette. Ein auffälliges Auto, und kombiniert mit dem Umstand, dass in einem Zweitausend-Seelen-Dorf viel geredet wird und jede Veränderung kommentiert wird, oft mit Misstrauen, konnte das Lästern beginnen.
Die ältere Schwester S1 hatte sich also einen Freund geangelt, der eine Corvette fährt, ein Sportwagen, und ziemlich schnell haben sich Meinungen gebildet - in unserem Haus, aber auch bei S1s Eltern, und überhaupt in der ganzen Straße. Sofort war für alle klar, was das für ein Mensch sein musste, dieser neue Freund, mit so einer Prollkarre. Engere Auseinandersetzung mit diesem Menschen war gar nicht gewollt.
Nun ist es also zwanzig Jahre später, und wir haben mittlerweile vielleicht selbst Kinder. Werden wir auch so reagieren? Werden wir auch misstrauisch werden, wenn unsere Tochter sich mit einem Jungen trifft, der ein auffälliges Auto fährt? Oder wenn unser Sohn eine Freundin mitbringt, die sich sexuell aufreizend kleidet? Oder wenn plötzlich ein gleichgeschlechtlicher Partner auftaucht? Oder werden wir es anders machen wollen als unsere Eltern, weil wir damals erlebt haben, wie das ist? Und werden unsere Kinder es dann wieder anders machen wollen?
Ich merke, dass ich mich sehr an meine Examensarbeit erinnert fühle - Die Generation X in der nordamerikanischen Literatur - in der ich mich mit diesen Fragen auseinandergesetzt habe (Ach sieh' an, die habe ich noch nicht veröffentlicht? Ist in Arbeit!). Das war vor knapp zehn Jahren, und nun bin ich wieder etwas älter, denke wieder etwas anders, und wahrscheinlich werde ich in zehn Jahren - wenn dieser Blog dann noch besteht - wieder anders denken. Das fasziniert mich ungemein, und deswegen bin ich auch von dieser Serie fasziniert, beziehungsweise Zeitreisegeschichten im Allgemeinen. Werden wir immer derjenige, der wir später sind? Können wir da überhaupt "mitreden"? Sind wir uns dessen überhaupt bewusst? Und wie haben unsere Eltern diese Gedanken erlebt, und wie werden unsere Kinder diese Gedanken erleben?
Eure Gedanken dazu?
Eine Corvette |
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