Montag, 27. Juni 2022

Stuhlkreis For Breakfast & Meltdown vor der Klasse


vorweg:

Freitag, 24.06.2022, 18:04 Uhr

Wie fange ich nur an? Wo? Kopf. Gegen Außenwelt abschirmen. Shutdown, nur ich, nur Musik, nur denken.

20:46 Uhr:

Sehr schönes period drama (siebzehntes Jahrhundert England, post-Cromwell, Thema Emanzipation der Frau) angeschaut, hat geholfen, den Kopf etwas runterzubringen ("Fanny Lye deliver'd", 2019). Bin aber immer noch prä-Meditation, Bad wartet, kaltes Wasser dürfte gegen den Neurodermitisschub helfen. Wird definitiv The Orb werden, gleich.

23:28 Uhr:

Ich muss zuerst ein paar Menschen von heute kurze Nachrichten schicken, Verhalten erklären, Rückmeldung zum Projekttag schicken blablabla. Der Blogeintrag muss warten (wobei der Insider natürlich weiß, dass der Eintrag parallel im Kopf bereits geschrieben wird).

Samstag, 25.06.2022, 12:57 Uhr:

Geschlafen bis jetzt trotz 30°C in der Wohnung die ganze Nacht über. War wohl nötig. Jetzt erstmal "Frühstück" und Google News. Ich sehe das schon kommen: Ich werde den eigentlichen Blogartikel, den Account vom Freitag inklusive meiner Zukunftsperspektive erst morgen tippen. Passt schon, in meinem Kopf schreibt er sich bereits voran, und die Hausarbeit für das zweite Staatsexamen habe ich auch am letzten Abend vor Abgabe runtergeschrieben. Erstmal richtig wachwerden, mit Otts Skylon als sanftem Begleiter - geht nichts über etwas Dub am Morgen. Mittag. Whatever.

13:45 Uhr:

Und dann fällt "Roe". Und dann gibt es mal wieder ein Attentat auf einen schwulen Club, diesmal in Oslo, zwei Tote. Alles weit weg von hier, aber das erschüttert mich. Einmal raus, in die Stadt gehen, ich brauche Luft, und lese Lois Duncans "Gallows Hill" weiter, um den Geist durchzulüften.

19:00 Uhr: 

Ich zerfließe, aber Therapie ist parat. Interessant, wie mein Gehirn einen Eintrag zur Massenhandtuchwäsche schreibt (ist in einer Dachgeschosswohnung nötig) und gleichzeitig weiter den wirklich wichtigen Beitrag im Hintergrund tippt. Es ist irre, was das menschliche Gehirn alles leisten kann!

23:11 Uhr: 

Und jetzt die Ankündigung, dass "Obergefell" kippen wird - damit wird die Ehe für alle in den USA wieder Geschichte. Grauslig. Einziger Lichtblick gerade die Erkenntnis, dass dieser ganze Tagebuchkram als Metaebene in einem vorweg: kursiv gesetzt wird und ich endlich den eigentlichen Beitrag beginnen kann.


Freitagmorgen. Um halb sechs klingelt der Wecker, ich habe nur vier Stunden geschlafen, aber eine Koffeintablette macht mich arbeitsfähig. Heute lese ich mal keine News direkt nach dem Aufstehen, sondern schaue, ob mein Tagesplan immer noch steht: Acht bis Dreizehn Uhr erster Projekttag Vielfalt im Film, Vierzehn Uhr Abschiedsfeier der MSA-Kids, dann schnell nach Hause: DrS, mein Psychiater in Neumünster hat mir ein Zeitfenster von Dreizehn bis Sechzehn Uhr angeboten für ein Telefonat. Ich habe Panik, und ich bin aufgeregt, und ich fürchte, dass ich nach den ganzen Schulsachen mich doch wieder um das Telefonat drücken werde.

Aber gerade deswegen hat er mir ja vorgestern noch eine zweite Nachricht geschickt, in der er meine Telefonangst anerkennt und mich ermutigt, es trotzdem zu tun, und ich könne gar nichts falsch machen, im Gegenteil, wenn, dann sei er es, der etwas falsch mache, wenn er nicht die richtige Hilfe und Auskunft gebe. Whatever, compartmentalizing, das kommt später. Jetzt den Bluray-Player einpacken, und die Filmtasche, alle sechsunddreißig Filme sind drin. Ach so... sollte ich den Ablauf des Projekttags vielleicht noch einmal aufschreiben? Ich mache es, zur Beruhigung, aber eigentlich habe ich alles im Kopf.

Wo ist nur die Schachtel mit den name tags and clips, ich wollte mir doch so ein schönes Namensschild zurechtbasteln, nachdem ich den Schülern das am Dienstag aufgegeben hatte. Scheiße. Ich kann sie nicht finden, und da hilft es auch nicht, die gleiche Suchroute in der Wohnung dreimal abzugehen. Vielleicht liegen sie im Auto. Zeit läuft weg, Aufbruch.

Projektgruppe ist vom Tag der Vorbesprechung ein wenig geschrumpft, aber sie sehen alle startbereit aus. Sollte eigentlich mit einem Stuhlkreis beginnen, aber sie haben sich schon anders hingesetzt, whatever. Zick zack, Vielfalt, Mind Map, machen wir mal eine Timeline an's Whiteboard, notieren bahnbrechende Filme in Sachen Technik. Beide Freaks-Filme geschaut, SchülerIn brauchten nicht lang, um zu bemerken, dass die "normalen" in den Filmen negativ wirken aufgrund ihrer Abneigung gegenüber den Andersartigen, passt. 

Dazwischen halbe Stunde Frühstückspause. Wie es nun mal ist, gehen die meisten zu Rewe, das ist eine Tradition an dieser Schule. Irgendwie werde ich das vermissen, SchülerInnen zu begegnen, die heimlich in der großen Pause in den Supermarkt wollen, obwohl sie noch in der Sek I sind, und sie zurückzupfeifen. Wir bleiben zu dritt im Raum, mein Autist aus Neun, ein weiterer Schüler und ich, und wir reden ein bisschen über Autismus und so ganz nebenbei finde ich heraus, dass auch der zweite Schüler im Raum Autist ist, und so nerden wir ein bisschen rum über die Vor- und Nachteile einer frühen Diagnose. Ja, es gibt Nachteile. Nicht jetzt, nicht hier. Viel wichtiger bleibt mir im Kopf hängen, dass ich nicht der Einzige im Raum bin, der in seiner Kindheit fasziniert der Waschmaschine zugeschaut hat. Rain Man. Das scheint echt ein Klassiker zu sein.

Ich könnte mit den beiden noch weiter über Autismus reden, das ist so wunderbar entspannt, endlich mal darf ich davon ausgehen, dass meine Gesprächspartner das meinen, was sie sagen, und muss da nicht viel grübeln. Echt erleichternd. Vielleicht sollten wir eine autistische Gesprächsrunde in der Schule einrichten.

Whatever, geht jedenfalls weiter im Programm, und dann muss ich ihnen nur noch die Filmtasche zeigen und dann können sie sich ihre Filme

"DU! JETZT! ZUM CHEF!"

Was macht die kleine Hummel hier? Ich kann nicht jetzt

"LOS! NICHT DENKEN!"

"Das ist scheiße, das ist richtig scheiße gerade", fahre ich sie vor der Gruppe an.

Gedankenzüge entgleisen, was mache ich hier, ich gehe mit der Hummel in den Verwaltungstrakt und sie erklärt mir auf dem Weg, dass er mich an der Schule behalten möchte. Dass ich bleiben kann. 

Ich bin absolut überfordert, weiß gar nicht, wie ich diese Info verarbeiten soll, die Hummel setzt mich auf die Wartebank vor'm Chefbüro. Ich werde reingerufen, und tatsächlich. Ich kann ein Jahr verlängert werden, ich kann das kaum begreifen und werde gefragt, ob ich wohl ein weiteres Jahr an der Schule bleiben möchte, äh, ja? Nur noch warten bis Montag, dann wissen wir, ob alle Ampeln grün sind, aber das wird klappen.

Ich gehe mit einem Gefühl von frei zurück zu meinen Leuten, die letzte Stunde des Projekts erlebe ich wie in Trance, der Kopf längst nicht mehr bei Vielfalt im Film. Ende, raus auf den Schulhof, durchatmen. Es ist unglaublich heiß, und ich freue mich schon auf meinen Backofen äi käi äi Wohnung. Ich muss noch eine Stunde warten für die Abschiedsfeier, aber ich will meine Kids unbedingt mal in schick sehen. 

Und schick erscheinen sie. Wow, ich erkenne meine SchülerInnen kaum wieder! Ein Schüler mit wehenden Haaren und Sakko wie ein polnischer Pianist, eine Schülern mit Make Up, ondulierten Haaren und Kleinem Schwarzen sieht auf einmal total erwachsen aus, ich kann mich gar nicht satt sehen an diesen jungen Menschen, die plötzlich so etwas wie Seriosität zeigen. Ich genieße die Feier, die Vorträge und alle schwitzen, es sind gefühlt vierzig Grad in der Banane und der Blick wandert immer wieder zur Uhr, vierzehn Uhr dreißig, ich würde gern die Zeugnisübergabe sehen, aber ich muss aufbrechen.

Das Zeitfenster für das Telefonat mit DrS ist nämlich nicht unendlich groß. Ab nach Hause, fünfzehn Uhr. Ich habe einen Job. Bilder von der Verabschiedung. Alles kreist im Kopf und ich rufe leicht panisch DrS an, den ich vorher noch nie gehört habe und ich weiß gar nicht, wie dieses Gespräch werden wird und hoffe, er führt mich da gut durch.

Tut er. Wir sprechen knapp fünfzig Minuten, in denen mir bewusst wird, dass ich endlich ernst genommen werde. DrS lässt mich aus meinem EGO-Buch vorlesen, alles Mögliche an Verhaltensauffälligkeiten und er sagt, dass da schon einige sehr eindeutige Dinge dabei sind, und dass er mich gern als Patienten aufnehmen möchte. Ist allerdings nicht so leicht, ambulant ist er ausgebucht wie so viele andere auch, nicht wahr, Brit Wilczek, die mir in diesem Gespräch schon wieder über den Weg läuft. Was nützt mir eine ganz tolle Frau, wenn sie keine Zeit für mich hat. Aber DrS ist dran an der Sache und wird versuchen, einen Stationsplatz für mich zu bekommen. Das könnte alles etwas zeitaufwändig werden, könnte aber auch schon nach einer Woche abgeschlossen sein. Wir verabreden uns für Mitte August, dann kann er mir vielleicht sagen, ob eine freie Stelle aufgetaucht ist. 

Telefonat beendet. Noch mehr Leichtigkeit. Ich fange an zu heulen, vor Freude, weil plötzlich alles weitergeht. Ich kann ein weiteres Jahr an der Toni bleiben, und ich habe einen Psychiater in Neumünster, der nach einem Platz für mich sucht (passt gut, dass er Oberarzt einer Fachklinik dort ist), auch wenn ich Kieler bin und der Einzugsbereich eigentlich Neumünster ist. Die Projektwoche ist gestartet. 

Tausend Gedanken verschmelzen zu einer Art Sturm im Kopf, ich brauche eine gründliche Meditation. Soll ich darüber heute im Blog schreiben? Dafür reicht die Zeit nicht, das dürfte ein etwas längerer Eintrag werden. Aber worauf warten? Okay, ich fange definitiv heute an mit einem Blogeintrag darüber. Erstmal nur stream of consciousness. Wie fange ich nur an?

Freitag, 24.06.2022, 18:04 Uhr:

Wie fange ich nur an?

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