Donnerstag, 27. Juli 2023

Eine Geschichte von Fairness


vorweg: Der Text ist authentisch, manche Namen sind geändert.

Lieber Herr Kanter,

Ihre Mail erreichte mich am Samstag wie eine Insel im Meer eines Ertrinkenden. Sie hat mir viel Kraft gegeben und die Möglichkeit, meine Gedanken wieder zu fokussieren – einen klaren Kopf zu bekommen. Das ist für Autisten nicht immer leicht, angesichts des Chaos, das in der Welt da draußen herrscht.

Ich möchte mich vorweg für eine möglicherweise lange Mail entschuldigen – aber Sie haben gefragt, ob Sie irgendetwas tun können, wenn ich es denn wollte. Ja, ich will, ich möchte nichts so sehr, wie an der Toni bleiben zu können. Ich habe bisher an sieben Schulen gearbeitet, und die Chemie – Sie nennen es Puzzle-Passung – war nur ein einziges Mal so gut wie an dieser Schule. Ich weiß nicht, was man tun kann. Ich bin geistig behindert und in dieser Situation vollkommen hilflos. Was ich aber machen kann, ist, Ihnen ein wenig Hintergrundwissen zu meiner Lage zu geben. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen – ich schreibe gern, deswegen führe ich einen Blog. Ich nenne sie „Eine Geschichte von Fairness“, und sie beginnt mit Ihrem Sohn Steffen.

Ich weiß nicht, ob er Ihnen das erzählt hat; relativ früh im Schuljahr hatte ich den SchülerInnen eine benotete Textproduktion aufgegeben, quasi als Lernstandserhebung. Steffens Text las sich richtig gut – fast, als wäre er aus dem Internet kopiert worden. Ich habe den Text mit einer Sechs bewertet und Steffen einen kleinen Einlauf dazugeschrieben. Es ging in die Richtung, dass er seinen ersten Eindruck bei mir damit versaut hat. Aber wir waren alle mal Jugendliche, und deswegen habe ich ihm dazugeschrieben, dass der Text zwar null Punkte bekommt, dass dann aber Schwamm drüber ist, wenn er die Chance nutzt und sich im Unterricht ehrlich anstrengt und mir zeigt, dass das ein Kavaliersdelikt war.

Ich habe in über zehn Jahren Tätigkeit keinen Schüler erlebt, der sich das so zu Herzen genommen hätte. Steffen hat sich im Unterricht aktiv beteiligt, gemeldet, wann immer möglich. Im Laufe des Schuljahres ist er er auch mal nach der Stunde zu mir gekommen und hat ein bisschen erzählt, auch auf Englisch, und ist richtig aus sich herausgekommen.

Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit, Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu verurteilen und jedem eine weitere Chance zu geben. Das bedeutet es für mich, fair zu sein. Das ist für mich normal. Ich lebe nach buddhistischen Denkweisen, und da sind Freundlichkeit und Mitgefühl nur zwei der Grundsätze, die das Denken und Handeln beeinflussen.

Ich habe mein Leben lang so gelebt – ich habe im Studium versucht, hilfsbereit zu sein, wann immer ich konnte. Ich habe Latein und Englisch studiert; damals vor zwanzig Jahren hieß es noch „Mit Latein kannst du dir nachher deine Schule aussuchen“. Ich bin Autist, ich nehme das wörtlich, was Menschen sagen, also war ich davon ausgegangen, dass das stimmt. Meine Vertrauenslehrerin in der Oberstufe hat mir erzählt, dass es sich auch gut im Lebenslauf macht, wenn man sich an der Uni einsetzt, über Nebenjobs oder Ehrenämter. Auch das habe ich wörtlich genommen. Ich dachte, ein guter Lebenslauf hat einen Wert.

Ich wurde wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Klassische Altertumskunde der CAU Kiel und hatte dort als Sekretariatsunterstützung viel mit anderen Studierenden zu tun. Jeder, der ein Latinum für sein Studium brauchte, musste irgendwann durch unser Büro und an meinem Schreibtisch vorbei.

Das, und die Leitung der Fachschaft Klassische Philologie scheinen meinen Namen bekannt gemacht zu haben. Zumindest so bekannt, dass ich dann drei Jahre nacheinander in das Studierendenparlament gewählt worden bin. Als einer von einundzwanzig, und das bei über zwanzigtausend Studierenden, das müsste doch etwas heißen. Und so finden sich zwei Ehrenämter in meinem Lebenslauf wieder, fünf Jahre Fachschaftsvorsitz und drei Jahre Abgeordneter, zwei davon als Vorsitzender des Haushaltsausschusses.

Mir ist erst im Referendariat bewusst geworden, dass ich polarisiere. Ich wusste bis vor gut vier Jahren nicht, dass ich geistig behindert bin, nur, dass ich scheinbar ein Freak war. Das hat sich auf mein Referendariat so intensiv ausgewirkt, dass Cai Christophel, damaliger Schulartvorsitzender für Gymnasien im IQSH, unerwartetes viertes Mitglied in meiner zweiten Staatsexamensprüfung war. Mein Name schien bekannt zu sein; Herr Christophel hat mich nach der Prüfung gefragt, ob das IQSH meine Examensarbeit in seiner Bibliothek ausstellen dürfe, weil sie „vorbildlich“ gewesen sei.

Und dann war ich arbeitslos. Jeweils 1,9 im ersten und zweiten Staatsexamen, ein hervorragender Lebenslauf, und ich – ohne Arbeit. Das lag nicht am Stellenmangel, ich habe mich auf viele ausgeschriebene Stellen beworben und war bisher in siebzehn Auswahlgesprächen. Keine einzige Zusage. Keine einzige Begründung. Inzwischen sechsmal arbeitslos.

Jetzt endlich weiß ich, dass das an meiner Behinderung lag – zum Beispiel sage ich in diesen Gesprächen immer die Wahrheit, die aber meistens von niemandem gehört werden will. Ich bin auch viel zu offen in Unterhaltungen, damit können viele nicht umgehen. Und so habe ich hervorragende Voraussetzungen, Noten, Ehrenämter, eine dienstliche Beurteilung mit Eins, und aufgrund eines dreißigminütigen Auswahlgesprächs kaum eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt (sagt die medizinische Fachliteratur).

Ist das fair?

Die Schulen, die mich genommen haben, haben das immer aus einer Vertretungsnotlage heraus gemacht. Ich erfuhr immer die gleichen Reaktionen von begeisterten SchülerInnen und Eltern. Dass die Schulleitungen mich zu anstrengend empfanden, erfuhr ich natürlich nicht, denn darüber wird nur hinter geschlossenen Türen und erst recht nicht mit dem Betroffenen gesprochen; so ist leider unser Schulsystem.

Es gab da eine Schule, die anders getickt hat. Die offen war für das Queere an mir. Die Nordseeschule in St.Peter-Ording hatte einen Regionalschulteil, pädagogischer Brennpunkt, und das war genau mein Arbeitsfeld. Hier konnte ich Menschen helfen. Es hat von beiden Seiten gepasst, und man hätte mich dort gern unbefristet eingestellt.

Ich will ehrlich sein: Ich habe das Arbeitsverhältnis beendet. Irgendwann ging es um die Frage einer Zukunftsperspektive, denn ich bin immer von Kiel an die Westküste gependelt. Das hängt damit zusammen, dass ich mir im Studium, wo zuletzt alles so wunderbar lief, ein Leben aufgebaut hatte mit FreundInnen, die mich so akzeptierten, wie ich bin. Ich war froh, in einer Stadt zu leben und nicht mehr auf dem Land. Das war meine Welt, hier fühlte ich mich sicher.

Für einen Autisten gibt es im Leben nichts Wichtigeres als Sicherheit. Die Welt ist chaotisch und unvorhersehbar, und das macht einem Autisten Angst. Er denkt immer logisch und kommt nicht mit dem emotionalen Chaos und der Dummheit vieler neurotypischer Menschen klar. Er eckt an, sie alle sind ihm dankbar, dass er weiterhilft und sich wirklich für sie interessiert, aber nur die wenigsten möchten mehr mit ihm zu tun haben.

Deswegen war mir mein Kieler Lebensumfeld so wichtig geworden und ein Grund, St.Peter-Ording zu beenden, mit weinenden Augen auf beiden Seiten. Ich musste etwas in Kielnähe finden, sonst würde mein Leben komplett auseinanderbrechen. Und dann begannen die vielen Schulwechsel. Jedesmal wieder, nachdem ich mich in einem Vertretungsjahr an Vieles gewöhnt hatte – die Gesichter, die Stimmen, die Gebäude, die Wege, die ich zu gehen hatte, den Stil der Schule – all' das ist dann wieder weggebrochen, nachdem die Schulleitung zu der Meinung gelangt war, ich sei zu kompliziert und man wolle lieber eine Fließbandlehrkraft haben.

Das wirkt sich auf mein Privatleben aus, in dem es seit sechs Jahren bergab geht. Meine Wohnung ist kaum noch bewohnbar, ich bekomme Krankheiten, von denen ich noch nie gehört hatte, weil ich es nicht mehr geschafft habe, die normalen Lebensabläufe auf die Kette zu kriegen. Wenn ein Autist unter Stress steht – zum Beispiel, wenn ihm sein Lebensumfeld weggerissen wird – dann funktioniert er nicht mehr. Ich bin wirklich am Ende mit den Nerven.

Natürlich will ich das Gute an dieser harten Zeit nicht herunterspielen – ich weiß jetzt endlich, dass ich geistig behindert bin, habe seit einigen Wochen mein fachärztliches Gutachten und der Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung läuft.

Aber die Toni-Jensen-Gemeinschaftsschule braucht kein Englisch.

Unser Schulleiter scheint sich nicht zu erinnern, dass ich mich bereits vor neun Jahren einmal an der Toni vorgestellt hatte – weil eine Kollegin überzeugt war (und immer noch ist), dass das die richtige Schule für mich ist, und dass ich der richtige Lehrer für diese Schule bin; da wären wir wieder bei der Chemie und dem Puzzle angekommen. Damals war kein Bedarf.

Als ich dann vor vier Jahren für eine Vertretung vorstellig wurde, durfte ich einen Satz hören, der ein direkter Schlag in die Magengrube war: „Wie kann es denn sein, dass jemand mit ihren Referenzen noch keine Stelle gefunden hat?“ Ich hätte fast an Ort und Stelle angefangen zu weinen, habe dann aber nur geantwortet „Fragen sie sich das noch einmal, wenn sie mich in ein paar Jahren von der Schule verabschieden.“ 

Das war vor vier Jahren. 

Als konnte man die Zukunft vorhersehen.


2 Kommentare:

  1. Hallo Dr. Hilarius,
    gibt es einen Weg dich (ich hoffe, es ist okay, dass ich dich duze) privat zu kontaktieren? Ich würde dir gerne erzählen, was aus mir geworden ist und wie mir dein Blog geholfen hat.
    Mit freundlichen Grüßen,
    dein ehemaliger Schüler aus dem Beitrag "...und trotzdem nett..."

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Hey, na klar gibt es die, meine private Mailadresse ist futureperfect@gmx.de - da kannst Du mich direkt erreichen ;-)

      Löschen