Mittwoch, 15. Januar 2020

Der Horror der Selbsterkenntnis

Erkenne Dich selbst...?

Ich liebe gute Horrorfilme. Manche der besten Horrorfilme sind gar nicht als solche deklariert; gestern habe ich mir eine Dokumentation angeschaut, deren letzter Akt mich bis in's Mark erschüttert hat - eine wahre Geschichte. Tell Me Who I Am (2019) handelt von zwei eineiigen Zwillingsbrüdern, deren Leben eine drastische Wendung erfährt, als einer von ihnen nach einem Motorradunfall in's Koma fällt. Das Ereignis liegt Jahrzehnte zurück, zwei der drei Akte werden quasi aus Interviews in der Gegenwart rekonstruiert.

Der erste Akt des Films beginnt mit Alex' Erwachen. Er öffnet die Augen, realisiert, dass er in einem Bett liegt, und dass ein Mann daneben steht. Er erkennt ihn sofort, "Hey Marcus!" sagt er zu ihm. Zu seiner Linken steht eine Frau, die ihn aufgeregt begrüßt, doch er erkennt sie nicht. Es ist eine wildfremde Frau; es ist nur verständlich, dass er seinen Zwillingsbruder fragt, wer diese Frau ist. Marcus stutzt - und erklärt ihm, dass es sich um seine Mutter handelt. "Weißt du, wer du bist?" fragt Marcus, und erst jetzt realisiert Alex, dass er sein Gedächtnis verloren hat.

Mit der Hilfe seines Bruders lernt Alex alles erneut, was er bisher wusste - wer seine Eltern sind, was ein Fahrrad ist, wer seine Freunde sind, wozu ein Stuhl gut ist, und er lernt dabei auch, dass die Brüder mit achtzehn Jahren immer noch unter der strengen Herrschaft des Vaters stehen. Dabei ist es besonders faszinierend, wie neugierig Alex auf all' das zugeht, fast schon freudig, obwohl man vielleicht eher Angst erwarten würde bei einem Gedächtnisverlust. Auch bemerkenswert: Er gewinnt die Chihuahuas seiner Mutter lieb, obwohl er sie früher gehasst hat.

Der zweite Akt zeigt das Erwachen und das Neu-Erlernen aus der Perspektive des Bruders Marcus. Er beschreibt, welche Gedanken er sich damals gemacht hat, wie er überlegt hat, was er seinem Bruder alles beibringt, in welcher Reihenfolge, und was er vielleicht auslässt. Wir erfahren, dass er eine sehr wichtige Information für sich behalten hat, und wir erfahren, dass Alex davon natürlich nichts gemerkt hat - bis zum Tod seiner Mutter, infolge dessen die Brüder zum ersten Mal das gesamte Haus betreten dürfen, aufräumen und dabei ein sehr verstörendes Foto finden. An dieser Stelle ist es mit Alex' freudiger Neugier vorbei, und Marcus erklärt nun, warum ihn dieses Ereignis noch viel mehr aus der Bahn geworfen hat als seinen Bruder.

Diese beiden Akte sind Inhalte des Buches, das die Brüder vor Jahren über dieses Ereignis veröffentlicht hatten. Der Film geht einen mutigen Schritt weiter, indem er einen dritten Akt eröffnet, in dem die Brüder sich einander gegenüber setzen und Marcus jetzt, sechsunddreißig Jahre nach dem Unfall, seinem Bruder endlich die ganze Wahrheit zukommen lässt über das, was vor dem Unfall passiert ist. Diese Szenen sind sehr kraftvoll und erschütternd, weil sich dem Zuschauer - und Alex - erst jetzt das gesamte Ausmaß des Horrors erschließt, den Marcus ein Leben lang kannte. Vermutlich konnte man schon ahnen, worum es sich bei diesem "Geheimnis" handelte, aber live mitzuerleben, wie Alex endlich die Wahrheit erfährt, besitzt eine ganz eigene Dynamik.

Gedächtnisverlust ist ein beliebter Topos in Filmen wie Dark City (1998), Memento (2000), Radius (2017), Remember (2015) und vielen weiteren. Die suspense ergibt sich ganz natürlich daraus, dass auch der Zuschauer erst nach und nach alle wichtigen Informationen erhält, bis zu einer abschließenden anagnórisis, einer Wiedererkennungsszene. Der wesentliche Unterschied zu Tell Me Who I Am besteht darin, dass dieser Film keine Fiktion darstellt. Und der Horror steigert sich durch das Bewusstsein, dass die Brüder mit ihrer Vergangenheit nicht allein sind.

Tell Me Who I Am ist auf Netflix verfügbar.


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