Sonntag, 22. Dezember 2019

Stay away!


Gedächtnisverlust ist ein wunderbares plot device, eine hervorragende Möglichkeit, spannende und wendungsreiche Geschichten, Bücher, Filme und vieles mehr zu schaffen. Hervorragend deswegen, weil es in fast allen Geschichten um Gedächtnisverlust früher oder später eine anagnórisis gibt, wie in mancher antiken Komödie (Plautus' Cistellaria und mehr) - eine Wiedererkennungsszene, in der die Vergangenheit bewusst wird, in der die wahre Beziehung zwischen den Figuren aufgezeigt wird.

Wenn man mittlerweile ein paar Filme gesehen hat, gibt es nicht mehr so viele twists, die einen überraschen. Man hat das Gefühl, das alles schon einmal gesehen oder gelesen zu haben - zum Beispiel musste ich bei'm twist ending von The Sixth Sense (1999) zuerst an Carnival of Souls (1962) denken, und auch in der Serie Are You Afraid of the Dark? gibt es eine Episode mit diesem Twist; ich habe dann aber im Studium die Kurzgeschichte An Occurrence at Owl Creek Bridge (1890) gelesen, die denselben Twist fast ein Jahrhundert früher beschrieben hat. Vielen Dank, Ambrose Bierce!

Keine Sorge, das ist nicht der Twist, der mich im vorliegenden Film angesprochen hat - sonst wäre ich wahrscheinlich nicht so beeindruckt gewesen. Hier gibt es ein Ende, das emotional vernichtend sein kann, oder aber total affig und unglaubwürdig, je nachdem, wie man als Zuschauer an die Sache herangeht. Ich habe seit The X-Files gelernt, auch die abgefahrensten Prämissen erstmal zu glauben und mitzuspielen, und das hilft, denn so konnte ich viele total abgefahrene Geschichten genießen. Der kanadische Film Radius (2017) ist so eine Geschichte, und ich will versuchen, ein bisschen Neugier darauf zu wecken, ohne irgendwelche Spoiler zu geben.

Wobei... kann ich den Film überhaupt schmackhaft machen? Die schauspielerischen Leistungen wirken zumindest in der ersten Hälfte recht hölzern und kaum nachvollziehbar. Das niedrige Budget merkt man dem Film hier und da an. Und es geht um ein SciFi-Phänomen, aber die Erlkärung dafür wirkt sehr beliebig, unsinnig, albern, wie mancher Zuschauer denken mag. Aber schauen wir mal mit dem Auge für menschliches Verhalten auf den Film, für zwischenmenschliche Beziehungen, dafür, was uns wirklich ausmacht. Was uns als "uns" definiert - und schon landen wir bei Genregrößen wie Blade Runner (1982). Fangen wir doch einfach mal am Anfang an. Obwohl... nein, tun wir nicht. Macht der Film nämlich auch nicht. Wie bei den meisten Folgen der X-Files werden wir mitten in eine abgefahrene Situation geworfen.

Gewitter, nachts, einem Mann fallen am Steuer des Autos fast die Augen zu. Crash, das alles nur in extrem kurzen Sequenzen. Am nächsten Morgen sehen wir den Mann orientierungslos, mit einer Platzwunde am Kopf, über eine Wiese laufen. Er wirkt verwirrt - bis er schließlich an eine Straße kommt und ihr Richtung Ortschaft folgt. Nach einer Weile fährt ein Auto heran. Der Mann springt auf die Straße, wedelt mit den Armen und ruft laut nach Unterstützung. Wir sehen nicht, wer im Auto sitzt, aber der Blinker wird gesetzt und der Wagen fährt an den Straßenrand. Immer weiter auf den Mann zu. Ohne zu bremsen; der Mann springt im letzten Moment zur Seite, während der Wagen langsam in den Straßengraben rollt, der Motor läuft weiter.

Vorsichtig nähert sich der Mann dem Auto, schaut durch das Fenster und sieht, dass die Fahrerin des Wagens tot ist, mit einem milchigen Schleier über den Augen. Erschrocken weicht der Mann zurück, durchsucht seine Taschen nach einem Handy und ruft die Polizei. Er wird nach seinem Namen gefragt, aber er kann nicht antworten, und erst jetzt dämmert es ihm, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Weiterhin orientierungslos folgt er der Straße in die Ortschaft hinein, zu einem Diner, um dort um Hilfe zu bitten - dort findet er mehrere Menschen, aber auch sie sind alle tot, an Ort und Stelle zusammengebrochen, mit diesen milchigen Augen. Dem Mann schwant, dass es sich hierbei um eine Infektion handeln muss; er reißt einen Stofffetzen von seinem Hemd ab und hält ihn sich vor Nase und Mund (bei dieser Szene muste ich an Robert Wises The Andromeda Strain (1971) denken, bei dem es nämlich um eine per Atemluft übertragene Krankheit geht).

Jedes weitere Wort wäre zuviel. Ich kann spoilerfrei sagen, dass der Film sich um die Odyssee des Mannes auf der Suche nach sich selbst und dem Ursprung dieser mysteriösen Krankheit dreht, dass er dabei von einer Frau unterstützt wird, die von dieser Krankheit nicht betroffen zu sein scheint, und dass am Ende die meisten pragmatischen Fragen beantwortet sind - und größere Fragen aufwerfen: Wenn wir irgendwann unser Gedächtnis verlieren sollten, sind wir danach immer noch derselbe Mensch? Oder können wir uns ändern? Dialogfetzen - A: "Ich bin hungrig, wollen wir uns Pizza bestellen?" B: "Wie? Du mochtest noch nie Pizza!" A: "Was? Wie kann jemand keine Pizza mögen?"

Das mag ein ganz banales Beispiel sein, aber der Film trägt die Frage auf eine existentiellere Ebene - können wir nach einem Gedächtnisverlust unsere komplette Persönlichkeit umstellen, da wir ja nicht mehr wissen, wer wir einmal waren? Machen unsere Erinnerungen aus, wer wir sind? Bei dieser Frage musste ich an den großartigen Film Dark City (1998) denken, der dieselbe Frage stellt und dadurch das Nachdenken und Gespräche nach Ende des Films anregt.

Noch einmal: Wer die ganze Zeit auf eine spannende Erklärung für das Phänomen der toten Menschen wartet, könnte bitter enttäuscht werden. Wer erkennt, dass es sich dabei quasi nur um einen Macguffin handelt, um einen Aufhänger für das menschliche Drama, das dadurch ausgelöst wird, dürfte das denouement des Films in seiner ganzen Tragweite spüren und sicherlich reicher aus dem Film hinausgehen.

Gute Unterhaltung!

post scriptum: Ich werde "Radius" in die Liste der Mindfuck Movies aufnehmen, auch wenn er vielleicht nicht ganz so brain twisty ist wie andere Vertreter dort - ich finde, er gehört trotzdem dazu.

paulo post scriptum: Heute gab es Spielbergs "Ready Player One" (2018), weil er auf Netflix verfügbar ist. Der Film ist zwar gut gemacht, da erwartet man von Spielberg auch nichts Anderes, aber er macht mir klar, dass ich mich nach intelligenten und/oder originellen Filmen sehne. Keine verschwendete Zeit, aber auch kein Film, den ich ein zweites Mal schauen muss.

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