Donnerstag, 9. Januar 2020

"Wer bist du nochmal?"

Es ist immer noch nicht so leicht, in Deutschland schwul zu sein...

Kiel Dreiecksplatz. Ich warte auf den Bus nach Hause, in sechs Minuten kommt die Fünfhundertzwei, die Zweiundsechzig kommt erst in einer halben Stunde, die habe ich nämlich gerade verpasst. So stehe ich dort und schaue in's Nichts, da gehen drei Schülerinnen von der Schule da über die Straße, eine hatte ich mal im Unterricht. Sie schaut zu mir; als ich ihren Blick erwidere und lächele, schaut sie verschämt zur Seite und tuschelt zu ihren Begleiterinnen "Das da vorne ist Dr Hilarius!" - wieso scheinen Schülerx so oft zu glauben, dass man nichts von dem mitbekommt, was sie "flüstern"? Ich strahle sie weiterhin freundlich an, sie verschwindet rot im Gesicht hinter der Werbeanzeige für Kondome. Ich freue mich, dass ich gar nicht mitbekommen habe, wie drei Minuten vergangen sind, und da hinten kommt auch schon mein Bus nach Schulensee, ich lese "Schwulensee", als hätte ich hellseherische Begabung. Alles einsteigen, bitte!

Und der Bus ist recht voll. Ich arbeite mich in den hinteren Bereich durch, ich hätte zwar gern einen Stehplatz im Busgelenk gehabt, aber je nun. Also stelle ich mich in den Bereich des hinteren Ausgangs, froh, ein freies Fleckchen gefunden zu haben, drehe mich um und atme tief durch, und schaue herum, ob vielleicht noch weitere ehemalige Schülerx dort sitzen. Mein Blick bleibt an einem jungen Mann haften, irgendwie kommt mir das Gesicht... und dann fängt er an zu grinsen - ja, ich kenne ihn, und offensichtlich erkennt er mich, ich muss das Gesicht einordnen, Studium? Referendariat? Ehemaliger Kollege? Oder Schüler? Oh nein, ich habe keine Ahnung, aber ich habe auch schon angefangen zu grinsen, irgendwas muss ich jetzt sagen, ach herrje...

DrH: "Hey, wir haben uns ja ewig nicht gesehen!"

???: "Ja, tatsächlich, wie läuft es bei dir so?"

Weiß er, dass ich Lehrer bin? Haben wir zusammen studiert? Weiß er, dass ich arbeitslos bin? Wie komme ich möglichst unverfänglich weiter?

DrH: "Hm, eigentlich ganz gut, ich bin momentan mal wieder in einer Bewerbungsphase und hoffe, dass sich was Gutes findet."

???: "Ah, du bist jetzt Lehrer, oder?"

Wie peinlich. Er weiß das, und ich weiß nix von ihm, okay, was sage i...

DrH: "Und wie ist es bei dir momentan?"

???: "Im Moment wieder ganz gut, es war ein bisschen schwierig nach dem Coming Out, aber jetzt komme ich gerade wieder auf die Bahn, bin auf dem Weg zur Stadtmission, da arbeite ich zur Zeit."

Okay, das sind Anknüpfungspunkte, ich frage ihn einfach ein bisschen über seine Arbeit aus, und währenddessen kann ich überlegen, wie sein Name war, also einfach...

DrH: "Ja, das Outing ist manchmal eine echt schwierige Phase, ich bin auch froh, dass ich das lange hinter mir habe. Wie ist es denn bei dir gelaufen?"

???: "Eigentlich ganz gut, naja, mit meinen Eltern nicht so. Streng katholisches Elternhaus und so..."

DrH: "Wie bist du denn auf die Idee gekommen, dass du schwul bist?"

???: "Ich war in einer Beziehung mit einer Freundin, aber hab da irgendwie gemerkt, dass das nicht so wirklich lief, und dann hatte ich Schluss gemacht und gemerkt, dass es mit Jungs wesentlich besser läuft."

DrH: "Und deine Eltern kommen damit nicht klar?"

???: "Nein, meine Mutter sagt, sie hätte es lieber gern wie früher, da war alles in Ordnung. Und ich meinte dann, ach so, wie früher, als ich depressiv war und die ganze Welt angelogen habe und überhaupt nicht ich selbst sein konnte?"

DrH: "Hoffentlich können sie dich irgendwann so akzeptieren, wie du bist... wie gehst du mit der Situation um?"

???: "Naja, ich habe jetzt erstmal den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen..."

Ach du Scheiße. Und ich dachte, solche harschen Geschichten gibt es nur in Filmen oder anderen Kulturkreisen, oder bei den Amerikanern... aber jetzt sitzt da vor mir dieser junge Mann, den ich nicht identifizieren kann, in einer absolut miesen Situation, und jetzt werde ich wirklich neugierig und interessiere mich für seine Geschichte...

...und deswegen hat der Rest des Gesprächs hier auch nichts zu suchen. Das hat die Busfahrt wie eine leichte Brise wirken lassen, auch wenn das ein hartes Gesprächsthema war. Ich habe ihm gesagt, dass ich es toll finde, dass er sich geoutet hat. Und es zeigt, dass wir in Deutschland noch ein gewaltiges Entwicklungspotential in LGBTQ-Angelegenheiten haben. Nur weil wir (endlich) die Ehe für Alle haben, und weil es mittlerweile m/w/d-Ausschreibungen gibt, heißt das nicht, dass man als schwuler Mann vollkommen akzeptiert wird. Das tut mir verdammt leid, und hat mich in's Nachdenken gebracht. Und erst als ich in meiner Wohnung angekommen bin, wird mir bewusst, dass ich vergessen habe, das Wichtigste zu fragen:






post scriptum: Fachschaft, in meiner Abschlussphase, ich erinnere mich wieder, und wünsche ihm ehrlich, dass er irgendwann den Kontakt zu seinen Eltern wieder herstellen kann, denn es ist traurig, wenn man den familiären Rückhalt verliert, nur weil man schwul - oder irgendwas aus der LGBTQ-Ecke - ist. Zeigt auch, dass wir als Lehrkräfte dort noch eine Menge Aufklärungsarbeit leisten müssen.

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