Kapitel 3 - Dafür
Trotz aller berechtigten Argumente gegen ein Videospiel im Unterricht glaube ich daran, dass es einen positiven Effekt haben wird. Das fängt an bei der Präsentation des Spiels in Englisch. Englische Sprachausgabe, englische Untertitel und englische Menütexte - soweit eigentlich genau wie jeder englische Film, den ich mit Schülern schaue. Videospiele gehen allerdings einen Schritt weiter.
Ich habe hier im Blog schon einmal darüber berichtet, als es um survival horror ging, konkret um Project Zero 2: Crimson Butterfly, eines der unheimlichsten Videospiele, die ich bisher spielen durfte. Dort hatte ich den Vergleich gezogen mit Horrorfilmen: Bei einem Film sitzt man als passiver Zuschauer vor der Leinwand, man wird beschallt, mit Effekten übergossen, mit unheimlichen Szenen überschüttet, man ist zwar wehrlos, aber zur Not kann man sich immer noch die Augen zuhalten und warten, bis die gruselige Szene vorbei ist.
Ein Videospiel ist da etwas anders, denn ich kontrolliere (in der Regel) den Protagonisten. Ich stehe vor einer knarzenden Tür, und dahinter ist es dunkel. Ich weiß, dass da gleich etwas Schlimmes passieren wird - aber ich kann nicht einfach stehen bleiben und die Augen zumachen und abwarten - denn von allein geht es nicht weiter. Ich selbst muss mich mit meiner Figur in die Gefahr wagen, um diese oder jene Ecke blicken, hier in den Schatten greifen, dort ein verfluchtes Objekt aufheben. Ich bin dadurch viel mehr eingebunden als bei einem Film. Ich werde nicht bespielt, sondern ich spiele selbst - Stichwort Immersion.
Bezogen auf unser classroom experiment bedeutet das: Ich sitze als Lehrkraft vorn mit dem Controller in der Hand, aber ich mache nur das, was die Schüler mir sagen. Und wenn die Schüler mit einer Ansage zu lange brauchen, dann verpassen sie eben die Chance, einen Freund zu retten. Oder sie tragen mit ihrer Entscheidung dazu bei, dass eine Stadt zerstört wird. Indem die Schüler Verantwortung für ihre Aktionen und deren Konsequenzen nehmen, sind sie bei'm Videospiel viel involvierter, als sie es bei einem Film oder einer Serie je sein könnten. Auf diese Weise prägt sich das Erlebte viel stärker im Gehirn ein - und die erste Unterrichtserfahrung bestätigt mir das: Der Kurs ist viel grundaufmerksamer und aktiver am Geschehen beteiligt, und zwar eben nicht nur die "Jungs, die sich ja sowieso mit Videospielen auskennen."
Mal abgesehen von den heteronormativen Hintergründen einer solchen Aussage muss es das Ziel dieses Unterrichtsversuchs sein, alle Schüler einzubinden. Ich muss ein Spiel finden, dass gleichermaßen Jungs und Mädchen anspricht - und ich fand es bemerkenswert, dass in einer Lerngruppe alle Anweisungen und Kommentare in der ersten Stunde von den Mädchen kamen.
Womit wir wieder zurück bei'm Punkt der Spracharbeit wären; die rezeptiven Fähigkeiten sind oben schon erwähnt worden - es gibt viel zu lesen und viel zu hören. Als Spieler mit dem Controller in der Hand akzeptiere ich allerdings nur Handlungsanweisungen auf Englisch. Die dürfen gebrochen sein, grammatikalisch nicht perfekt, Vokabeln etwas verdreht, das ist mir alles egal, solange ich verstehe, was der Schüler mir mitteilen will. Und wenn es dazu führt, dass auch diejenigen etwas sagen, die sich sonst im Unterricht eher still verhalten, umso besser!
Das ist anders als in einer normalen Unterrichtssituation - "Describe the picture." - "Comment on the statement." - blablabla. Hier entsteht der Sprechimpuls aus dem, was auf der Leinwand gezeigt wird, und dem Wunsch, die Situation der Spielfigur zu beeinflussen. Intrinsische Motivation als Sprechanreiz ist - zumindest meiner Meinung nach - wesentlich besser als die oft zu gestelzten Arbeitsaufträge des Englischunterrichts, wie wir sie im Referendariat mitunter gelernt haben.
Bleibt noch die produktive Schreibarbeit, und wenn man sich das richtige Videospiel ausgesucht hat, sollte es kein Problem sein, Schreibaufträge abzuleiten, die sich mit den Anforderungen des ESA oder MSA decken. Anfangs entlasse ich die Schüller aus der Stunde mit einem einfachen Auftrag: "Write a diary entry about today's English class." Hier gibt es kein inhaltliches Richtig oder Falsch, hier können sie einfach drauflos schreiben, und gleichzeitig sammle ich damit schon erste Eindrücke für eine spätere Evaluation des Unterrichtsversuchs. Wer möchte, kann mir die Texte dann im Unterricht abgeben oder per Mail zuschicken, und natürlich geht das in die Note der Unterrichtsbeiträge ein. Gleichzeitig kann ich bei von den Schülern wahrgenommenen Mängeln auf diese Weise frühzeitig entgegensteuern und das Unterrichtsformat abwandeln, falls nötig.
Eigentlich klingt das alles geil: Rezeptive und produktive Spracharbeit, mündlich und schriftlich, entstehend aus einer intrinsischen Motivation der Schüler. Allerdings muss für eine solche Situation das Medium stimmen: Ich brauche das passende Videospiel. Es muss Schüler und Schülerinnen ansprechen, intro- wie extrovertierte, verteilt über das ganze kognitive Spektrum. Es muss... ja, was eigentlich? Soll ich einfach mein Lieblingsspiel nehmen?
So einfach ist es mal wieder nicht.
Fortsetzung folgt...
post scriptum: Die große Buba, falls Du das liest und Du an der Geschichte der Videospiele interessiert bist, gibt es auf Netflix eine Dokuserie "High Score" (2020). Nerd-Heaven ;-)
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