Sonntag, 31. Dezember 2017

Berliner mit Senf

...no comment...

Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich unten bei'm Bäcker die Menschen, die sich für heute und morgen mit allem eindecken, was man vom Bäcker gebrauchen könnte. Das scheint eine Menge zu sein, denn die Schlange der Menschen reicht bis nach draußen, auf die Straße, im Regen. Sie haben für heute graues Wetter angesagt und eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Feuerwerk in's Wasser fallen könnte.

"Na und? Du hast es doch eh' nicht so mit den Festen und Feiertagen, oder?"

Es ist spannend. So wenig ich Weihnachten nachvollziehen kann, so wichtig sind mir die letzten Tage des Jahres. Silvester bedeutet mir etwas, und ich kann versuchen, das zu erklären, aber das wird vielleicht erfolglos bleiben, denn das ist etwas, was ich selbst nur spüre und vielleicht noch nicht ganz verstanden habe.

Schon als Kind hat sich Silvester für mich irgendwie "besonders" angefühlt. Ich habe das Feuerwerk geliebt; ich tue das immer noch, allerdings bin ich seit ein paar Jahren nicht mehr selbst der große Abfackler. Es liegt daran, dass ich die Effekte mittlerweile kenne. Wenn ich mir heute Abend das Feuerwerk anschaue, werde ich hier- oder dorthin deuten und aufzählen, was das gerade für Elemente sind, die die bunten Lichter erzeugen. Dass ich selbst nichts mehr abbrenne, heißt aber nicht, dass ich es mir nicht gern anschaue, im Gegenteil. Das ist auch einer der Gründe, warum ich jedes Jahr im Herbst, in den letzten zwei Wochen der Saison, einmal in den Hansa-Park fahre, um nach den Achterbahnfahrten im Dunklen zum Abschluss des Abends das dortige Feuerwerk anzuschauen.

Der Silvesterabend ist mir wichtig - und gerade weil er so wichtig ist, möchte ich ihn allein verbringen. Damit ich ihn genau so verbringen kann, wie ich es möchte - damit mir sozusagen niemand dazwischenfunken kann. Das klingt etwas verbohrt. Ist vielleicht wieder eine kleine Nische, die ich mir mit Autisten teile: Wenn der Abend nicht nach meinen Vorstellungen verläuft, werde ich wütend, oder traurig, oder beides. Das weiß ich mittlerweile, und deswegen reserviere ich den Abend nur für mich.

Ich decke mich mit allem ein, was ich brauchen kann. Leckeres Essen (kaum zu glauben, mirabile dictu, aber ich esse etwas an Silvester!), gute Filme, gute Musik. Alles, was ich für eine perfekte Meditation brauche. Denn ich werde nachdenklich. Sehr nachdenklich; das ausklingende Jahr lädt mich ein, über mein Leben nachzudenken. Ich lasse das vergangene Jahr Revue passieren - was sicherlich nichts Besonderes ist, es wimmelt dieser Tage ja nur so von Jahresrückblicken - ich rufe mir in Erinnerung, was Gutes und Schlechtes passiert ist. Und im Schlechten versuche ich das Gute zu sehen. Denn wir neigen dazu, uns eher auf die schlechten Ereignisse zu berufen und dann festzustellen, dass es doch irgendwie ein Scheißjahr war.

Und was haben wir nicht alles an Anlässen dazu! Terroranschläge, eine AfD, die in den Bundestg einzieht, ein komplett verregnetes Jahr, schlechte Ernten, Krieg auf der Welt, eine nicht enden wollende Flüchtlingskrise, schon wieder Arbeitslosigkeit, Betriebskostennachzahlung, ein gebrochener Finger und und und...

...und damit ihr sowas nicht den Abend verhagelt, hat die große Buba eine ganz geniale Methode dagegen: das Glücksglas. Wann immer ihr im Jahr etwas Schönes passiert ist, wann immer sie besonders glücklich war, hat sie dieses Ereignis, ihre Gedanken dazu, auf einen Zettel geschrieben, zusammengefaltet und in ein Glas gesteckt. So hat sie alles Glück über die Monate gesammelt und schaut zum Jahresausklang in das Glas, sie faltet die Zettel auseinander und wird beim Lesen daran erinnert, dass ihr so viel Schönes widerfahren ist. Eine tolle Methode, und ich überlege, ob ich sie im kommenden Jahr ebenfalls anwenden möchte.

Ich denke an Silvester nicht einfach nur über alles nach, was passiert ist, sondern ich versuche, mein eigenes Verhalten im Angesicht all' dieser Ereignisse zu analysieren - zu beschreiben, und schließlich zu beurteilen. Ich gehe mit mir selbst in's Gericht, mit der Frage: "Was möchte ich im neuen Jahr anders machen? An welchen Stellen möchte ich mein Verhalten ändern, im Idealfall zum Besseren wenden?" Ich verbringe an diesem Tag mehrere Stunden mit solchen Überlegungen.

Ich habe letztes Jahr zu Silvester ein kleines Rätsel gepostet und mich darin bei den Menschen bedankt, die ich liebe. Auch heute möchte ich mich bedanken, und zwar bei Euch, meinen Lesern - genauer gesagt: Bei Dir, und zwar genau jetzt, da Du diesen Beitrag liest. Vor bald zwei Jahren habe ich angefangen, diesen Blog zu schreiben. Wenn es Dich nicht gäbe, Dich und Deine Reaktionen, Antworten, Beiträge und Meinungen zu dem, was ich hier fabriziere, dann hätte ich wohl längst das Interesse am Bloggen verloren. Dann hätte ich nach ein paar Monaten aufgehört zu schreiben. Mittlerweile weiß ich, dass es da draußen Menschen wie Dich gibt, die tatsächlich daran interessiert sind, was ich hier zu sagen habe. Das ist ein tolles Gefühl; die Tatsache, dass ich aus einem Arbeitsvertrag nach dem anderen ausscheide, von einer Schule nach der anderen gehe, lässt mich denken, dass mein ganzes Handeln vergeblich ist. Hier im Blog ist das anders.

Ich staune immer wieder darüber, wer alles mitliest. Das erkenne ich nur an den Reaktionen auf die Beiträge, zu denen Du dich vielleicht hast hinreißen lassen, und für die ich sehr dankbar bin. Ich habe einst darüber geschrieben, wie toll es ist, Fußspuren im Leben anderer Menschen zu hinterlassen, und dieser Blog belegt mir quasi, dass es wirklich so ist.

Danke für Dein Interesse. Danke für Dein Feedback. Danke, dass Du mir das Gefühl gibst, etwas Sinnhaftes zu tun. Ich hoffe, dass es auch in Deinem Leben diese "Reflektoren" gibt, die Dir zeigen, wofür Du das alles machst. Ich wünsche Dir für das neue Jahr genügend Gesundheit, das Leben in vollen Zügen genießen zu können; worauf wartest Du? Ich habe mit dem Genießen viel zu lange gewartet, habe mir immer wieder gedacht, dass ich das erst mache, wenn ich einen festen Job habe. Die Tatsache, dass ich aus jedem Arbeitsverhältnis erneut wieder hinausgekickt werde, und das positive Beispiel der Sannitanic haben mir klargemacht, dass ich mein Leben jetzt leben sollte, und nicht in irgendeiner weit entfernten Zukunft.

Mach' Zweitausendachtzehn zu einem großartigen Jahr - zu Deinem großartigen Jahr!

DANKE!!!

post scriptum: Ich denke, die "Berliner mit Senf"-Tradition dürften die Meisten kennen. Nachdem unten die gefühlt kilometerlange Schlange beim Bäcker verschwunden ist, bin ich auch einmal runtergetrottet und habe mir ein paar Teile geholt, allerdings mit den Füllungen, die ich als etwas leckerer empfinde ;-)

Samstag, 30. Dezember 2017

Rückkehr nach Twin Peaks


"I'll see you again in twenty-five years."

Diesen Satz sagt Laura Palmer zu Special Agent Dale Cooper in der Black Lodge - und es ist wahr geworden. David Lynch hat fünfundzwanzig Jahre nach der zweiten Staffel der mittlerweile tatsächlich legendären Serie Twin Peaks viele Darsteller der Originalserie zusammengetrommelt und ein neues Kunstwerk erschaffen: Twin Peaks - A Limited Event Series.

Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll; ich bin extrem beeindruckt, dabei habe ich gerade einmal die erste Folge der neuen Staffel gesehen. Mehr als einmal konnte ich meinen Augen nicht trauen, denn sie sind alle wieder da, und sie sind fünfundzwanzig Jahre älter geworden: Deputy Andy Brennan und Lucy Moran haben einen vierundzwanzigjährigen Sohn. Hawk hat mittlerweile graue Haare. Margaret, die Log Lady, taucht auf; ihre Szene ist ein besonderer Genuss, denn die Darstellerin Catherine E. Coulson ist bereits 2015 verstorben. Dieser Umstand trägt zur Atmosphäre bei, die sich schnell beschreiben lässt: düster, verstörend.

Das neue Werk ist wesentlich tiefer im psychologischen Horror verwurzelt als die Originalserie. Ich muss zugeben, zeitweise hatte ich ein bisschen die schräg-lustige Seite von damals vermisst - das soll aber nicht heißen, dass kein Humor vorkommt, ganz im Gegenteil, es gibt wieder den rabenschwarzen Lynch-Humor. Ich habe zwischendurch einen Lachanfall bekommen bei einer Szene, in der es um das Öffnen einer Apartmenttür geht. Ich gehe nicht in's nähere Detail, denn ich könnte mir vorstellen, dass es da draußen mehrere Menschen wie mich gibt: aufgeschlossen für Neues, gierig nach Lynch-Input und ich möchte nicht "gespoilert" werden (was die Sprache so alles anstellt...).

David Lynch hat diesmal die Zügel nicht aus der Hand gegeben (wie in der zweiten Staffel), er hat eine ganz konkrete Vorstellung davon gehabt, wie sich das alles entwickeln soll. Die Serie ist eine achtzehnstündige Einheit. Wenn nicht die Credits über den Bildschirm laufen würden, wüsste man nicht, dass eine Folge zu Ende ist. Lynch hat alles gefilmt, was er zu "sagen" hatte, und hat dann das Ganze in achtzehn Episoden unterteilt.

Ich bin so beeindruckt - und auch dermaßen verstört - von der ersten Folge, dass ich unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht. Lynch hat die Pilotfolgen 1 und 2 beim Filmfestival in Cannes in diesem Jahr gezeigt und fünfminütige standing ovations bekommen. Das zeigt: David Lynch ist ein Meister seines Fachs, das hat nichts mehr mit Mainstream zu tun, das ist eine Nische, aber eine sehr tiefgründige, inspirierende und illuminierende Nische.

Es sollte erwähnt werden, dass die Serie in Deutschland das Siegel FSK18 bekommen hat, und das zu Recht. Der Inhalt ist definitiv nicht für Jugendliche gedacht. Es ist eine düstere Kunst und verlangt eine gewisse Reife, um das Gezeigte überhaupt verarbeiten zu können.

Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. Ich muss jetzt erstmal die Eindrücke der ersten Folge verarbeiten. Die älter gewordenen Darsteller. Die düsterer gewordene Grundstimmung (trotz Kaffee und Donuts). Die neuen Schauplätze (zusätzlich zur Stadt Twin Peaks). Ich weiß noch sehr gut, was am Ende der letzten Staffel mit Dale Cooper passiert ist, auch Er weiß das noch, und unzählige Menschen da draußen, und nun entwickelt sich alles genau in die in der letzten Folge angedeutete Richtung.

David Lynch hat ein unglaubliches Talent dafür, Alpträume mit der Kamera aufzuzeichnen. Das hat er schon in Mulholland Drive (2001) getan, und es ist ein Genuss, sich in sein düsteres Universum entführen zu lassen.

Thank you for being unconventional.

Freitag, 29. Dezember 2017

Karma

Jeder Mensch hat seinen eigenen Blickwinkel im Leben, handelt dementsprechend und arbeitet an seinem Karma...

"Ich bin nicht böse, ich habe nur eine Dummheit gemacht."

So erklärt die mexikanische Haushaltshilfe den amerikanischen Kindern, auf die sie hat aufpassen sollen, warum sie von der Polizei abgeführt wird. Das ist eine Szene aus dem Film, den ich eben gesehen habe, dazu unten mehr. Wir alle machen Dummheiten. In meiner Wahrnehmung mache ich überdurchschnittlich viele Dummheiten, aber das kann täuschen. Jedenfalls haben diese Dummheiten Konsequenzen. Vielleicht kaum spürbar, vielleicht nicht sofort, vielleicht erst in Jahrzehnten. Aber ich glaube fest daran, dass all' unsere Aktionen Folgen haben.

Ich habe oft genug erklärt, dass ich nicht an das Christentum glaube, nicht an irgendeinen Gott oder so, und das erklärt auch, warum mir die Feiertage nichts bedeutet haben. Natürlich habe ich mich auch selbst schon öfters gefragt: "Glaube ich überhaupt an irgendetwas?" Und über die Jahre hinweg habe ich die Antwort gefunden, dass ich an das Karma glaube.

Ich nehme mir jetzt einmal die Frechheit heraus, das Karma schön bildlich wie eine Art "Seelenkonto" zu beschreiben. Mit jeder Handlung in unserem Leben zahlen wir auf dieses Konto ein. Das betrifft sowohl gute Taten, als auch Lügen, Betrügereien, Verstöße gegen das Recht und vieles mehr. Alles wird auf das Konto eingezahlt, man kann keine Aktion einfach ungeschehen machen. Auch wenn es vielleicht nur eine kleine Dummheit war (die unter Umständen eine Kettenreaktion ausgelöst hat).

Über die Jahre hinweg füllt sich das Konto immer weiter - und es gibt Zinsen obendrauf, indem zum Beispiel eine kleine Notlüge von einst mittlerweile zu einer persönlichen Lebenslüge angeschwollen ist. Allerdings erhalten auch die "guten" Taten ihre Zinsen. Das Konto existiert zu jeder Zeit, daran glaube ich, und daran, dass ich irgendwann meinen Anteil ausgezahlt bekomme.

Im Positiven heißt das, dass ich vielleicht für eine kleine Hilfe, die ich jemandem im Studium geleistet habe, eine große Hilfe im Erwachsenenalter zurückbekomme. Egal in welcher Form, auch egal in welchem Umfang: Das Positive wird sich auszahlen, expressis verbis. Im Negativen bedeutet das allerdings, dass jede kleine Dummheit sich auch irgendwann auszahlen wird. Da habe ich zum Beispiel einmal jemanden angelogen, diese Lüge jahrelang aufrecht erhalten und bekomme nun die Konsequenzen zu spüren, ohne eine realistische Chance, die Sache aufzuklären.

Ich glaube, das ist der Grund, warum ich immer nett und freundlich bin, und warum ich versuche, im Umgang mit anderen Menschen "gut" zu sein. Nicht als Gegenstück zu "böse", denn an das Böse glaube ich nicht. Ich verhalte mich so, dass mein Karma, mein persönliches Seelenkonto, jederzeit möglichst gut dasteht. Ich konsumiere keine illegalen Drogen - auch wenn die Versuchung hin und wieder sehr stark war. Ich stehle keine Ware - auch wenn ich noch so knapp bei Kasse bin. Ich beschädige nicht fremdes Eigentum - auch wenn ich mich manchmal für etwas würde rächen wollen, oder einfach nur Wut ablassen. Ich möchte mein Gewissen nicht mit diesen Dingen beladen.

Auch wenn meine direkte Ehrlichkeit manche Menschen sehr vor den Kopf stößt und sie für den Moment verblüfft, verstört oder verärgert: Ich benutze keine white lies mehr, keine Notlügen aus Höflichkeit.

Es gibt ein perfektes Filmgenre für genau diese Thematik, nämlich den Episodenfilm. Diese Filme haben in der Regel keine Exposition, keine Peripetie, kein Denouement. Es ist, als ob der Film sich für eine Weile in das Leben eines Menschen einschaltet und ihn beobachtet, bei seinem Alltag, bei seinen Missgeschicken und auch bei seinen kleinen Erfolgen im Leben. In der Regel verbindet jeder Episodenfilm mehrere verschiedene Handlungsstränge, verschiedene Personen, die wir bei ihrem Leben beobachten (viele Episodenfilme zeichnen sich durch hohen Realismus aus), und manchmal werden sie auf eine ziemlich geniale Art verknüpft. Dafür gibt es unterschiedlichste Techniken.

Richard Linklaters Slacker (1991) beobachtet zum Beispiel einen Mann, der im Bus fährt und über den Sinn des Lebens nachdenkt. Ich erfahre, wo er herkommt und wo er hin will, ich habe mich gerade richtig auf seine Geschichte eingelassen, da stoppt der Bus wegen eines Unfalls (ich nehme hier ein bisschen Freiheit, das ist nicht die genaue Abfolge im Film). Ein Fahrradfahrer ist angefahren worden, seine Freundin kniet neben ihm, der Notarzt ist verständigt. Ich erfahre, dass er auf dem Weg zu einer Preisverleihung war - der Busfahrer ist mittlerweile verschwunden, ich bin in einer neuen Episode. Und so geht es weiter.

Ein Meister der Episodenfilme ist Alejandro Gonzalez Inarritu, dessen Film Babel (2006) ich mir heute angesehen habe. Er verbindet drei scheinbar völlig unabhängig voneinander stattfindende Episoden in Marokko, Japan und den USA/Mexiko, auf sehr geschickte Art und Weise. Es beginnt alles damit, dass ein marrokanischer Vater von einem Bekannten ein Gewehr geschenkt bekommt, die beiden waren zusammen auf der Jagd. Der Vater zeigt das Gewehr seinen Söhnen und erklärt ihnen, dass sie damit in Zukunft Jagd auf Schakale machen werden (komplett in der Landessprache, natürlich untertitelt - soviel zum Thema Realismus). Die Jungen nehmen das Gewehr und machen Zielübungen. Sie glauben dem Bekannten ihres Vaters nicht, dass man damit angeblich auf drei Meilen genau treffen kann. So weit? Geht nicht! Sie sind Kinder und wissen es nicht besser, steigen auf einen Berg und machen weiter Zielübungen. In weiter Entfernung fährt ein Bus mit Touristen die Passstraße entlang. "Wetten, du triffst den Wagen nicht?" Und der Bruder schießt. Natürlich passiert nichts, der Bus fährt ganz normal weiter. Die Jungen stehen enttäuscht auf und wollen weggehen, da sehen sie, wie der Bus unten bremst.

Schnitt auf ein amerikanisches Ehepaar (sehr schön gespielt von Cate Blanchett und Brat Pitt, wenn auch etwas Overacting dabei war), das Urlaub macht und vom Bus aus die Landschaft betrachtet. Meilenweit nur Berge, Wüste, trockene Pflanzen. Es leises Geräusch kommt von irgendwoher, wir sehen, wir sich die Bluse der Frau an der Schulter langsam blutig rot verfärbt.

Damit beginnt eine Kettenreaktion, die - wie beschrieben - auch noch Mexiko und Japan beinhaltet, denn: Jede Tat, die in diesem Film ausgeübt wird, hat Konsequenzen, positive oder negative. Der Film verzichtet zum Glück auf spektakuläre Spezialeffekte, sondern bietet Szenen, mit denen jeder Erwachsene sich identifizieren kann, und dadurch trifft er umso stärker in mein eigenes Gewissen. Jede Handlung, die ich vollbringe, wird sich irgendwie auswirken. Es mag für mich nur eine Kleinigkeit sein (wie die Zielübungen der Jungen im Film), aber für jemand Anderen bedeutet es vielleicht sehr viel (Cate Blanchett droht an der Wunde zu verbluten, mitten im Land, ohne Ärzte und Verbindungen).

Das ist Karma.

Je älter ich werde, umso mehr bekomme ich meine ersten Auszahlungen zu spüren. Da unterrichte ich an der KGS zwei Schüler, die ich vor fünf Jahren in Husum einmal kurz hatte, und sie erinnern sich und haben mich in sehr guter Erinnerung. Und machen in meinem Unterricht toll mit. Da schickt mir die große Buba eine Nachricht, denn - Zufall - ich unterrichte den Sohn einer Bekannten von ihr und der scheint sehr positiv beeindruckt zu sein.

Ihr kennt solche Auszahlungen sicherlich selbst. Und, schauen wir uns nur diesen Blog an. Die verschiedensten Menschen lesen ihn. Manche reagieren auf die Beiträge. Zum Beispiel Renate Schalkalwies, meine benachbarte "Tante Renate" aus meiner Kindheit in meinem Heimatdorf. Oder Jeanette Bornträger, mit der ich einmal zusammen bei den Saturnalien auf der Bühne stand und die mir den Tipp gegeben hat, dass man zum Rasieren wunderbar Haarspülung nehmen kann. Oder Beke Hansen, die ich vor Jahren einmal an der Uni in meinem Tutorium hatte. Georg Leinhos, mit dem ich das Lateinmodul bei Herrn Kruse erleben durfte. Franka Wottawa: Die Schwester meiner angeheirateten Tante. Die Verbindungen können so vielfältig sein.

In all' ihren Leben habe ich einen Eindruck hinterlassen, der sich darauf auswirkt, wie wir heute zueinander stehen. Alles Karma. Und deswegen glaube ich daran, dass ich mich auch in Zukunft den Menschen gegenüber "gut" verhalten möchte. Auch wenn ich dabei naiv wirke. Auch wenn es Geld kostet. Auch wenn whatever.

Daran glaube ich. Das ist, sozusagen, meine Religion.

post scriptum: Noch mehr Episodenfilme, die sich mit Verbundenheit auseinandersetzen, wären "Cloud Atlas" (fantastisch!), Jim Jarmuschs "Mystery Train" (Jarmusch eben), Robert Altmans "Short Cuts", Martin Gypkens' "Wir".

"Babel" und "Mystery Train" kann man sich bei Amazon prime kostenlos anschauen.

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Schleimerella


Ich habe vor Kurzem von einem meiner Schüler ein extrem positives Feedback erhalten. Das macht mich misstrauisch, denn wir hatten bisher nicht einmal zehn Unterrichtsstunden. Aber ich lerne, dass ich es einfach genießen soll. Und klar, ich freue mich, gerade auch weil sich bei mir die Befürchtung breit gemacht hat, dass ich bei Gymnasialschülern nicht ankomme. Ich habe mich im Verhalten so sehr auf Gemeinschaftsschulen umgestellt, dass ich ein sehr loses Mundwerk mit recht zügelloser Unterrichtssprache pflege. Schön zu wissen, dass es nicht zu schlimm geworden ist.

Diese Erfahrung, das positive Feedback, hat mich in's Nachdenken gebracht. Ich habe einen relativ guten Zugang zu Schülern. Gilt das tatsächlich an jeder Schule? Und dann fällt mir wieder ein, dass auch ich Schüler habe, mit denen ich nicht klar komme, die mich in den Wahnsinn treiben können und zu denen ich keinen Draht knüpfen kann.

Aus meiner Erfahrung heraus sind es ganz brave Kinder, Lehrerlieblinge, mit denen es Stress geben kann. Ein solcher Lehrerliebling ist Schleimerella. Schleimerella bringt sich ein, wo sie nur kann, natürlich arbeitet sie in der Schülervertretung, natürlich ist sie sehr fleißig. Das halbe Kollegium liebt Schleimerella und ist stolz auf seine Vorzeigeschülerin.

Ich gebe jedem Schüler die Chance, bei mir mit "ausgeglichenem Konto" zu starten. Damit meine ich, dass es mich herzlich wenig stört, wenn die Kollegen den Schüler als verhaltensauffällig, Leistungsverweigerer und Asozialen abstempeln: Er bekommt bei mir, da ich über seine "Vorgeschichte" nichts weiß, genau die gleichen Startbedingungen und Chancen wie Schleimerella. Auch ihre Vorgeschichte kenne ich nicht, scheint positiv zu sein.

Schleimerella geht davon aus, dass ich ihren Ruf natürlich schon kenne, und sie arbeitet fleißig weiter daran. Sie macht nicht wirklich viel im Unterricht, außer hübsch auszusehen und zu lächeln. Sorry, Mädel, aber der angebliche Leistungsverweigerer trägt mehr zum Unterricht bei als Du. Das zieht sich dann die Wochen über hin, und dann wird es Zeit für Noten. Schleimerella ist unzufrieden.

"Warum habe ich nur eine 3 bekommen?"
"Deine Mitarbeit im Unterricht, die Klassenarbeiten... tut mir leid, aber ich komme nicht über die 3 hinaus."

Und so bekommt man dann beef. Sorry, aber ich werde Schleimerella nicht besser bewerten, nur weil sie sonst total beliebt ist. Und genau solche Schleimerellen sind für ich ein rotes Tuch. An Gemeinschaftsschulen war die Frequenz solcher Schüler nicht sehr hoch; ich hoffe, dass ich an meiner jetzigen Schule keine Schleimerella bekomme.

Montag, 25. Dezember 2017

Urlaub in den Misanthropen

Man sieht Menschen wieder, die einem etwas bedeuten. Zumindest theoretisch.

Ich gehe nicht davon aus, dass irgendjemand diesen Beitrag liest. Es ist Heiligabend - solltet Ihr die Zeit nicht mit den Menschen verbringen, die Euch am Herzen liegen?

Da haben wir es wieder - "solltet Ihr nicht...", denn es ist Weihnachten und es geht um Konventionen und Traditionen. Ich habe das Fest nie wirklich verstanden. Nachdem ich mittlerweile aus der Kirche ausgetreten bin, wäre es auch kein Verlust für mich, überhaupt nichts davon mitzubekommen. Ich mag nicht den Einkaufsrummel. Ich mag nicht die ganze Weihnachtsdeko. Ich mag nicht, wenn Familien sich gegenseitig vorspielen, alles sei in Ordnung, nur weil ein bestimmtes Datum im Kalender erreicht ist.

An diesem Datum soll ich etwas feiern, woran ich nicht glaube. Nie geglaubt habe; ich bin dazu erzogen worden, das toll zu finden, wenn überall die Lichter leuchten, wenn die Familie zusammenkommt, wenn es leckeres Essen gibt, und die Geschenke. Damals habe ich das alles nicht hinterfragt. Mittlerweile denke ich anders darüber, und ich bin tatsächlich froh, wenn die Feiertage vorüber sind.

Ich mag die Stille nicht. Überall ist es ruhig, weil ja alle die Zeit mit ihren Lieben verbringen. Für einen Menschen, der nicht so gern viel Zeit mit Anderen verbringt, ist diese Zeit eher belastend. Ich bin nicht gern außerhalb meiner Wohnung, wenn ich es mir aussuchen kann. Ich mag es nicht, von einem Essen zum nächsten zu feiern und ich habe Probleme damit, so zu tun, als sei alles super. Für mich ist es schöner, wenn ich danach wieder nach Hause komme, in meine eigene Wohnung, in der ich Möglichkeiten habe, die Zeit herumzubringen, bis endlich wieder Leben in die Straßen und Häuser einkehrt.

Es ist jetzt der Vorabend des Vierundzwanzigsten. Morgen fahre ich zu meiner Familie und werde am ersten Feiertag wieder zurückfahren. Ich weiß, dass es antisozial klingen muss, aber ich genieße die Zeit nun mal nicht wirklich. Ich freue mich jetzt schon drauf, wenn ich wieder zurück bin. Mir tut das immer sehr leid, meiner Mutter gegenüber.

Ich gewöhne mich langsam daran, dafür schräg angeschaut zu werden. Wenn ich bei Familientreffen nicht dabei bin, egal, zu welchen Anlässen. Denn warum soll ich dorthin kommen - nur damit die Anderen mich zu sehen bekommen? Für mich sind diese Anlässe nichts Tolles oder Angenehmes.

Ich lege gerade die Sachen zurecht, die ich für den kurzen "Urlaub" brauche. Sachen, um mich zwischen den "Familienanlässen" zu beschäftigen, Buch, Videospiel, Hörspiele. Morgen werde ich diesen Beitrag dann auch weiterschreiben.

(...)

Okay, erster Feiertag, ich habe den Heiligabend einfach mal genossen, so gut es geht, und eigentlich war es irgendwie auch ganz schön. Mit allen zu reden und gut gehen lassen. Aber jetzt ist mein Bedarf an menschlicher Kommunikation schon wieder gedeckt und ich bin gerade dabei, die Sachen für die Rückfahrt zu packen. Ich freue mich tatsächlich wieder, wenn ich in meine Wohnung zurückkommen kann und mein Kurzurlaub in den Misanthropen vorbei ist. Bevor ich diesen Beitrag dann veröffentliche, werde ich noch einen letzten Absatz hinzufügen, wie es sich anfühlt, wieder die eigenen Gefilde zu betreten. Jetzt muss ich erstmal schauen, dass ich nichts vergesse. Und wie Mütter nun mal so sind, wird mir meine viel mehr Dinge mitgeben, als ich jemals gebrauchen kann, darunter ein paar Tonnen Essen, damit ich auch ja nicht verhungere. Der mütterliche Instinkt ist auch nach den Jahrzehnten noch sehr stark. Und gerade wenn Du Dein Kind nur noch einmal alle paar Monate zu Gesicht bekommst, kann dieses eine Wiedersehen sehr viel bedeuten. Das sollte ich ihr gönnen.

(...)

Es fühlt sich schön an, wieder in meine Wohnung zu kommen. Hier habe ich definitiv nicht das Gefühl, dass ich mich verstellen muss, und ich glaube, das ist einer der Hauptgründe, warum ich nicht so viel rausgehe.

Der mütterliche Instinkt hat mich reichlich versorgt, ich dürfte die nächsten drei Monate essenstechnisch über die Runden kommen. Dabei hatte sie mir noch eine Geschichte erzählt, ging gar nicht um's Essen, sondern um eine befreundete Familie, die vor längerer Zeit schon aus der Kirche ausgetreten ist, aber immer noch fleißig Weihnachten feiert. Sollen sie gern machen, aber irgendwie ist das unsinnig, und ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich in den letzten Tagen öfters genau darüber nachgedacht habe. Ich bin auch vor ein paar Monaten aus der Kirche ausgetreten. Und da ich an das alles nicht glaube, verstehe ich auch nicht, warum ich Weihnachten feiern sollte. Klar, Familie beisammen und so. Aber eigentlich sehe ich keinen Grund, das Fest ob des religiösen Hintergrundes zu feiern. Ehrlich gesagt vermisse ich seit dem Kirchenaustritt überhaupt nichts.

Und nun gibt es ein Hörspiel und dann ist wieder Bubatime, Rätsel knacken und explodieren. Genießt Eure Feiertage. Genießt die Zeit bei Euren Liebsten. Tankt etwas Energie, damit danach der Alltag wieder beginnen kann.

post scriptum: Der schöne Ausdruck "Urlaub in den Misanthropen" stammt nicht von mir, sondern aus einem Liedtext, aber ich konnte den nicht ungeteilt lassen (Grossstadtgeflüster - Fickt-Euch-Allee).

Samstag, 23. Dezember 2017

Susi & Peter

Bosch würde vor Neid erblassen!

Es wird mal wieder Zeit für einen Artikel aus der Kategorie geisteskrank: eine kleine Geschichte aus meiner Schulzeit. Ich habe mich im Unterricht sehr oft gelangweilt. Einen Großteil dieser Zeit habe ich mit dem Intelligenztrainer verbracht, der alle paar Monate erschien und reichlich anspruchsvolle Rätsel zur Beschäftigung bereit hielt. Das war immer noch besser, als meine Lehrer zu nerven, zum Beispiel, indem ich einen fünfminütigen Lachkrampf wegen des Wortes "Vulva" bekam und Herr Mordhorst mich wild herumbrüllend aus dem Deutschunterricht geworfen hat. Das war herrlich, eine Lehrstunde für jeden Pädagogen. Gegen das Lachen hat es allerdings nicht geholfen.

Ich bin sehr dankbar für diese Phasen des Nichtstuns, denn manchmal bin ich auch sehr kreativ dabei geworden - so ist zum Beispiel Das Schwimmbad entstanden, mein erstes eigenes Rollenspiel. In anderen Langeweilephasen habe ich kleine Comics gezeichnet. Ich konnte damals nicht zeichnen und kann es heute noch weniger, daher hatte ich die Comics auf das Nötigste begrenzt, nämlich auf zwei Figuren und etwas "Werkzeug". Und ich brauchte nichts weiter als einen Kugelschreiber und einen Rotstift.

Diese Comics mit dem Namen Susi & Peter folgen immer derselben Strategie: Susi und Peter, zwei Schulkinder, treffen sich, und einem von beiden geht es besser als dem Anderen, aus unterschiedlichsten Gründen: Keine Hausaufgaben, ein Geschenk bekommen, Lehrer in den Wahnsinn getrieben, irgendwelche Anlässe ließen sich immer finden. Und das fröhliche Kind (die Rollen haben immer gewechselt) hat es dem anderen auf die Nase gebunden, so dass das andere Kind erst traurig war, dann wütend wurde und dann, völlig random, mit einem x-beliebigen Gegenstand sein Gegenüber ermordet hat, so dass im Schlussbild die Rollen vertauscht waren: Das traurige Kind hat sich biestig gefreut und das andere Kind, nun ja, war tot (und traurig).

Deswegen auch der Rotstift. Damit man genau sieht, wo überall das Blut herumgespritzt ist, und der Mordgegenstand wurde auch immer beschriftet, damit man auch wirklich wusste, was da genau passiert ist. Ich war zu der Zeit etwa vierzehn Jahre alt, ich glaube, das sind ganz normale Teenagerfantasien. Oder etwa nicht? Wie kann ich dann erklären, dass tatsächlich ein paar Freunde die S&P-Comics lustig fanden und immer wieder neue haben wollten? Mit diversen Mordwaffen, Pürierstab, Haarfön, Käseigel, Staubsauger, Einhorn... und dass zum Schluss sogar jemand Anderes eine S&P-Geschichte für mich gezeichnet hat, mit allem, was dazugehört?

Ein Hauch von Wahnsinn aus der Kindheit, hier nur für Euch, die erste Susi & Peter-Geschichte, die ich je gezeichnet habe. Nicht in der Originalausgabe, ich habe sie eben neu gezeichnet, aber ich freue mich, dass ich mich noch so gut daran erinnern konnte:



post scriptum: Ich muss zugeben, dass ich auch heute wieder nicht enden wollende Lachkrämpfe ob der Absurdität des vierten Bildes hatte... (man beachte die willkürlich auftauchenden und verschwindenden Hände und dass die Köpfe im zweiten Bild selbst wie Luftballons aussehen)... und Mord per Käseigel...

Freitag, 22. Dezember 2017

Advent, Advent, das Drecksgör brennt

Manchmal wünschte ich mir, das ganze Weihnachtsgedöns würde einfach in Flammen aufgehen...

"Heute aktualisiere ich endlich meine Bewerbung im pbOn!" Mit diesem Gedanken stehe ich aus dem Bett auf, denn bald ist ja schon die Hälfte meiner Zeit an der neuen Schule um. Und in den Ferien kommen häufiger Vertretungsgesuche zutage, also sollte ich dafür sorgen, dass jedermann mich anfordern kann. Ehrlich gesagt ist das ein grauenhafter Gedanke: Ich habe noch nicht einmal richtig angefangen, mich an die KGS zu gewöhnen, und dann soll ich schon wieder an eine andere Schule? Ich hasse dieses Scheiß-System.

Ich tapere in Zeitlupe in's Bad; gestern war die große Buba da, das war toll, und die Nacht war kurz. Aus dem Treppenhaus höre ich das Klappern der Briefschlitze der Nachbarn weiter unten, sieh' an, da kommt die Post, vielleicht ist ja auch etwas für mich dabei. Ich stehe im Bad, schaue meine Überreste im Spiegel an und tatsächlich klappert es in dem Moment auch bei mir. Ein Luftpolsterbrief landet auf meiner Fußmatte und ich bin mit einem Mal hellwach: Ist das etwa...?

Koffein gefrühstückt, Fenster geöffnet, etwas Sauerstoff tut sicherlich gut, und ich reiße den Briefumschlag auf. Tatsächlich: Obwohl sie erst ab dem Siebenundzwanzigsten ankommen sollte, hat sie es überraschenderweise jetzt schon aus Spanien zu mir geschafft, die Bluray mit der restaurierten Version von Metropolis. Ohne Zögern werfe ich den kompletten Tagesplan um, dieser Tag gehört diesem Film. Habe ich alles, was ich brauche?

"Nur noch schnell Tiefkühlpizza holen. Ach so, und Hustenstiller habe ich auch keine mehr, lieber besorgen, bevor ich über die Feiertage nichts da habe."

Es klingt nach einem schnellen Gang, allerdings sind es zwei unterschiedliche Ziele, Apotheke und Laden mit TK-Pizzen. Ich entscheide mich, in den Cittipark zu gehen. Da gibt es eine Apotheke, da finde ich etwas zu essen. Und, naja, vielleicht sehe ich ihn ja dort. Nachdem Er mir geschrieben hat, dass Er heute und morgen da arbeiten muss, sehe ich eine schöne Chance, ihm zufälligerweise über den Weg zu laufen. Einmal anstrahlen würde schon reichen, ich weiß, dass Er das auch mag.

Gewappnet gegen die Kälte marschiere ich los, es ist eine herrlich klare Luft, Sonne, ich atme beides ein, so reichlich ich kann. Kombiniert mit der Vorfreude, ihn vielleicht zu treffen, kann ich nicht anders, als extrem breit zu grinsen. Wie sagte Buddha noch gleich? "Lächle - und die Welt verändert sich", und recht hat er. Es fühlt sich toll an, die noch weiter gesteigerte Vorfreude darauf, endlich Fritz Langs SciFi-Epos mit knapp einer halben Stunde restaurierter Szenen zu sehen... ich gehe über den Bahnsteig, die Treppe hinauf, rechts abbiegen und geradeaus in das Einkaufszentrum, Grinsen weiter zementiert. Die automatische Schiebetür öffnet sich.

Wuff.

Es ist, als ob ich gegen eine unsichtbare Wand laufe. Mit einem Schlag überrollt mich die Luft aus dem Inneren, warm, stickig, nach Schweiß und Deo, nach Zimt und Kotze. Die Temperatur erhöht sich schlagartig um etwa achtunddreißig Grad Celsius. Wo eben noch klare, herrliche, übersichtliche Umgebung war, stehen nun Menschen. Tausende. Es müssen Millionen sein. Familien. Sie stehen einfach nur herum. Überall stehen Familien. Halluziniere ich ob der schlechten Luft, oder hat da tatsächlich gerade die kleine Schantalle-Mandragora dem Kähwien-Hasduball (nein, hab' ich nicht!) auf die Schuhe gekotzt?

Ich möchte stehen bleiben. Ich brauche einen Moment Ruhe. Orientierung. Gedankenzüge fahren in tausend Richtungen gleichzeitig. Ich atme tief durch, aber ich kann nicht stehenbleiben, da ich mit einer perpetuum-mobile-Masse von einkaufenden Familien verschmolzen bin. Ich werde gnadenlos weiter in das Einkaufszentrum geschoben, von kalter, klarer Luft ist nichts mehr zu spüren, nur die Sonne scheint durch die Dachfenster herein, ein Strahl erhellt meinen Weg gerade noch rechtzeitig, damit ich um die Kotze herumsteuern kann.

Ich ahne nicht, dass es im Moment noch halbwegs erträglich ist. Die puddingartigen Bewegungen der Menschenmasse befördern mich aus dem Verbindungskorridor in den Hauptteil des Einkaufszentrums. Ich erblinde fast, was allerdings nicht an der Sonne liegt, sondern daran, dass sie von zigmilliarden Christbaumkugeln reflektiert wird, die sich mit Grünzeug verbunden wie ekelhaftes Gewürm um alles schlängelt, was sich umschlängeln lässt. Das Einkaufszentrum ist zu einem Mekka der einkaufenden Familien geworden, kurz MedeF, wobei Moloch ein passenderer Name gewesen wäre. Und auf einmal stehe ich still.

In der Tat. Ich bin nicht mehr Teil der sich wie Soße ausbreitenden Menschen mit zuviel Geld auf dem Konto, ich stehe still. Allerdings nicht, weil etwa dafür genügend Platz wäre, nein, es sind überall Menschen. Das ist nicht übertrieben. Aber die Menschen, die nicht von einem Geschäft zum nächsten wabern, stehen an. Anstellschlangen in Ausmaßen, dass eine Naturdoku angebracht wäre. Ich weiß noch nicht einmal, wofür ich gerade anstehe, ich weiß nur, dass es noch lange dauern wird, bis ich es herausfinde. Da nützt es auch nichts, wenn man ein fast zwei Meter großer Mann ist, denn ich schaue lieber weiterhin auf den Fußboden, wohl ahnend, dass das erste Riff der Kotze nicht das letzte gewesen sein wird.

Apotheke, dröhnt es in meinen Ohren, und zu Citti, Pizza und vielleicht ist Er ja gerade dort. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass meine Chance sehr gering ist, in diesem Menschenauflauf eine bestimmte Person zu finden. "Wofür stehen sie hier an?" fragt mich eine ältere Dame von rechts und ich muss zugeben, dass ich immer noch keine Ahnung habe, allerdings finde ich es in genau diesem Moment heraus, denn ich fahre runter. In's Erdgeschoss. Wo noch mehr Kotze is'. Denn das war die Warteschlange für die Rolltreppen. Dort, Erlösung, ich sehe die Apotheke! Doch halt! Ich brauche Geld! Und zeitgleich schwant mir Übles - wie lange werde ich wohl am Geldautomaten warten müssen? Ich suche das Ende der Warteschlange schon gar nicht mehr am Automaten selbst, sondern schaue mich direkt im Umkreis von etwa einhundert Metern um. Ist das zu glauben? Ich finde nichts! Überall fließt der Menschenpudding weiter, nirgends steht jemand still. Ich vertraue auf meinen Orientierungssinn und kehre zurück zum Geldautomaten: Es ist kaum zu glauben, dort steht niemand an. Wahrscheinlich haben die einkaufenden Familien den heutigen Einkauf lange vorher geplant, um eine Chance auf Überleben zu haben, und dazu gehört natürlich auch, das Weihnachtsgeld und die letzten beiden Monatsgehälter in bar auszahlen zu lassen, damit man wenigstens ein kleines Geschenk für die Kinder kaufen kann.

Da also niemand noch mehr Geld vom Konto abheben musste (konnte?), erledige ich diesen Punkt rasant. Rasant, damit ich nicht meinen Kontostand sehen musste, denn rote Zahlen trifft es nicht so ganz, meine Kreditkarte schämt sich für mich und ich rede mir ein, wenn ich einfach nicht auf den Kontostand schaue, dann wird es schon nicht so schlimm sein.

Selbst in der Apotheke stehen die Familien Schlange, und das, obwohl sechs Apotheker gleichzeitig bedienen. Leute, was zur Hölle ist mit euch nicht in Ordnung? Warum müsst ihr gerade vor Weihnachten noch Medikamente einkaufen, als gäbe es danach keine mehr? Ich bin dabei, mich richtig aufzuregen über das dämliche Verhalten wohlsituierter Großstädter zur Einkaufszeit, da fällt mir ein, dass ich selbst gerade jetzt gerade hier stehe, auf der Suche nach Medikamenten. Schade, ich hatte mich gerade so schön aufgeregt. Da kann Buddha noch so viel labern, seitdem diese Schiebetür aufgegangen ist, befinde ich mich in einer Parallelwelt, in der ich gar nicht mehr ausgeglichen sein möchte.

Schnaufend begebe ich mich in das nächste Geschäft, Ziel: Tiefkühlpizza. In diesem Laden, Citti höchstpersönlich, gibt es ein interessantes Fließverhalten der Menschenmassen zu beobachten: In den Hauptgängen fließt alles dicht gedrängt, schwitzend, fluchend, geldausgebend wie überall - doch in den Seitengängen steht kein Mensch. Meine Erlösung! Und so lasse ich mich nach links aus dem Strom herausrempeln. Endlich durchatmen - und so atme ich tief ein, die ganze Schweiß-Deo-Kotze-Zimt-Mischung und überlege, zur Apotheke zurückzugehen und mir etwas gegen Übelkeit mitgeben zu lassen.

Indem ich von Seitengang zu Seitengang husche, bekomme ich schließlich meine Pizza, und zwar die ohne Tomatensoße, weil die herrlich abgestimmte Aromen hat - als mir das bewusst wird, geht ein seliges Lächeln über mein Gesicht, eine Sekunde Paradies in dieser Weinachtshölle. Wo sind die Kassen? Ich muss gar nicht suchen: Die einkaufenden Familien sind so sehr darauf fixiert, möglichst viel Geld auszugeben, um ihre Mistbälger für einen Abend ruhig zu stellen, dass sie alle aus einem Instinkt heraus die Kassen ansteuern, und so lasse ich mich von dem Strom treiben.

Auch vorbei an der Obst- und Gemüseabteilung und ich schaue nach rechts, denn ich weiß ja, dass Er da arbeitet. Sehe ich ihn irgendwo? Einen großen Mann mit Ohrlöchern, Tattoos und muskulösen Oberarmen, der verzweifelt-freundlich lächelt, um die Kunden abzufertigen, und dabei nichts lieber als einen ruhigen Tag mit seiner Freundin verbringen möchte. Ich schaue hin und her, mehrmals, aber kann ihn nicht entdecken. Anhalten ist nicht angesagt, da ich mich im Kassenstrom befinde - so wie das Wasser immer bergab fließt, so wabern die einkaufenden Familien zu den Kassen, und schließlich sind die Einkäufe erledigt.

Nur noch raus - aber das ist gar nicht so einfach in dem Gedränge. Immerhin muss ich an der Rolltreppe nach oben diesmal nicht anstehen, während die Gegenrichtung unter dem Gewicht der Massen den Geist aufgegeben hat und gerade vom technischen Dienst überprüft wird. Eingedenk meines Beinahe-Kotzeriff-Fiaskos gehe ich diesmal in einem großen Bogen um die widerliche Stelle, die inzwischen mit blauem Band vom Strom der Menschen abgetrennt ist. Und da höre ich fast schon das Zischen der automatischen Schiebetür (kann aber auch weiteres Halluzinieren sein). Ich fühle mich, als ob das Einkaufszentrum jetzt mich auskotzt - und kann endlich wieder die klare, kalte, frische Lust atmen, endlich wieder die Sonne genießen, endlich wieder einfach stehenbleiben. Was zur Hölle habe ich gerade durchgemacht???

Zweiundzwanzigster Dezember.

Egal welches Jahr, egal wo. Es wird sich nie ändern.

Donnerstag, 21. Dezember 2017

Mein erstes Mal mit Leni Riefenstahl

Bei dem Anblick schaudert's mir...

Leni Riefenstahl. Ich habe den Namen schon so oft gehört, er hat sich wie ein Bild in mein Gehirn gebrannt. Ich hatte keine Ahnung, wer Leni Riefenstahl war, aber der Name hatte etwas. Hat mein Interesse geweckt. Warum auch immer; allerdings nicht so weit geweckt, dass ich mich mal über die Riefenstahl informiert hätte. Hatte einfach nur einen interessanten Klang.

Und dann kam das: Dieser Tage setze ich mit mit alten Filmen auseinander. Ich lerne etwas über die Geschichte des Films. Wann ungefähr der Wechsel stattfand von den Stummfilmen zu den Talkies, ich schaue gemischt Stummfilme und Sprachfilme aus jener Zeit. Immer mit dem Hintergedanken, dass ich gern jene Filme sehen möchte, die als beste Filme der Welt erachtet werden. Ich bin eben neugierig, ich möchte wissen, was sie so großartig macht. Ich möchte wissen, warum ein Film ohne Sprachausgabe so großartig sein kann, zum Beispiel (über Metropolis werde ich später mal etwas schreiben, wenn ich die restaurierte Fassung gesehen habe).

Um Leni Riefenstahl kommt man einfach nicht herum, wenn man dieses Mindset hat. Und ich weiß jetzt auch, wieso. Ich fühle mich gehirngespült - aber es ist nur ein Gefühl. Kudos an den Film Triumph des Willens (1934), den ich heute angeschaut habe.

Ich sollte das vielleicht vorweg sagen, damit kein falscher Eindruck entsteht: Dieser Film ist pure Propaganda. Er besitzt keinerlei inhaltliche Tiefe und ist ein Dokument der NSDAP. Roger Ebert nannte ihn einst evil. Das sollte vermerkt werden, weil der Film vom Standpunkt eines Filmliebhabers ein Meisterwerk ist und ich nun in's Schwärmen kommen werde.

Leni Riefenstahl war eine kontroverse Figur der deutschen Geschichte. Sie hat sich von der NSDAP instrumentalisieren lassen - anders als ihr Regiekollege Fritz Lang, der "rechtzeitig" in die USA auswanderte. Adolf Hitler soll sehr angetan gewesen sein von Riefenstahls Arbeit, allerdings hat er ihr garantieren müssen, dass der Triumph der letzte Propagandafilm sein würde, den er bei ihr in Auftrag gegeben hat.

Wie schon erwähnt, gibt es in diesem Film keinen Inhalt. Er ist eine Dokumentation des Reichsparteitages der NSDAP im Jahr 1934. Wir sehen stramme Jungs marschieren, Soldaten und Parteigänger den Hitlergruß ausführen, wir sehen Goebbels, Himmler, wir hören Reden, alles auf ausschweifende Art und, wie es sich nun einmal für Propaganda gehört, einseitig und dauerpositiv. Der Film sollte niemanden umstimmen - deswegen habe ich mich oben ein bisschen geziert mit der "Gehirnwäsche" - er sollte einfach jene Menschen, die bereits der NSDAP treu ergeben waren, bestätigen, dass sie das "Richtige" taten, und das tut der Film über knapp zwei Stunden.

Eigentlich würde ich abgeschaltet haben bei einem solchen Mangel an Inhalt und Plot. Aber ich komme nicht umhin zuzugeben, dass der Stil der Frau Riefenstahl mich begeistert hat. Ich habe mittlerweile zeitgenössische Filme gesehen, zum Beispiel M - Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) von erwähntem Fritz Lang. Und dadurch, dass ich den Vergleich habe, bemerke ich die Klasse dieses Films. Luftaufnahmen, Massenszenen, nicht ein einziges Gesicht, das nicht ernst marschiert, nicht eine einzige Mütze sitzt schief. Überkopfaufnahmen von einem Torbogen, während unten im Takt der Musik die Soldaten marschieren. Ein fantastischer Einklang von Musik und Bildern, und immer wieder habe ich mich gefragt: Wie hat die Riefenstahl das gemacht? Mittlerweile habe ich gelesen, dass sie mit dreißig Kameras gearbeitet hat und mit einhundertfünfzig Kameraleuten.

Das erklärt Einiges und ist ein Zeugnis des Talents der Regisseurin. Es hat einen Grund, dass Hitler angetan war. Goebbels muss diesen Film geliebt haben; war der nicht Reichspropagandaminister?

Warte mal, Dr Hilarius, fängst du etwa gerade an, dich ernsthaft für die Zeit des Nationalsozialismus zu interessieren? Musste ich dafür erst vierunddreißig Jahre warten? In der Schulzeit hat das Thema mich nur genervt, ich hatte keine Ahnung von gar nichts, und Herr Lasch hatte es leider nicht drauf, Geschichte wirklich lebendig werden zu lassen. Und wie das bei Hochbegabten so ist: Wenn sie eine Sache nicht interessiert, merken sie sich auch nichts. Scheinbar hat mein Interesse für Filmgeschichte mir einen Blickwinkel auf das Dritte Reich eröffnet, der mir vorher verborgen geblieben ist.

Ich komme einfach nicht drumherum: Dieser Film ist fantastisch, und er ist fürchterlich. Ein Meisterwerk für einen sehr üblen Zweck.

post scriptum: Und ich bin schockiert, wie viele Parallelen ich zum Verhalten der AfD ziehen konnte...

Mittwoch, 20. Dezember 2017

Ich werde gestalked

Das musste ich zum Glück an dieser Schule noch nirgendwo drunterschreiben.

Der ursprüngliche Titel dieses Beitrags lautete "JKK - Jammer, Kisten, Konnektoren", aber das hätte nur eine Person verstanden, nämlich die große Tuba. Und ja, ich lasse "Tuba" stehen, denn ich habe mich qua Liaison mit Freud vertippt, natürlich müsste da "Buba" stehen.

Es sind Ferien! Und da geht es schon los: Die große Buba muss morgen nämlich noch einmal in die Schule. Ein Individualisierungsmerkmal der Waldorfschulen. Ich habe meinen letzten Schultag sehr genossen, er war sehr kurz. Bestand eigentlich nur aus einer Klassenarbeit, die wirklich etwas fies gelegt war, nachdem gestern Schulgottesdienst und Abiparty obligatorische Events für die Schüler waren. So konnte ich heute morgen in teils sehr rote Augen schauen. Hoffen wir mal, dass die Klassenarbeitsrückgabe nicht irgendwann wieder für rote Augen sorgt.

Besonders gefallen hat mir der Abschied von unseren Sekretärinnen (habe ja bereits erwähnt, dass das hier ein lustiges Sekretariat ist), die beschlossen haben, mich zu stalken; genau in diesem Moment lesen sie diesen Eintrag. Hoffen wir mal, dass Blog und Schule sich diesmal besser vertragen als an meiner vorletzten Schule; dort wurde ich quasi mundtot gemacht, damit ich nichts Schlechtes über die Schule schreibe.

Und mit dem JKK - ich freue mich riesig darauf, die große Buba wiederzusehen. Wir spielen zur Zeit The TALOS-Principle. Genau gesagt, spielt sie und ich schaue zu, ich kenne den Plot ja schon und möchte nix verraten. Hoffen wir mal, dass wir beide morgen Abend noch in Ansätzen fit sind.

Dreimal Hoffnung. Eine gute Ausgangslage für die Weihnachtsferien.

Dienstag, 19. Dezember 2017

Aus dem Gesicht gefallen

Total süß, im wahrsten Sinne des Wortes.

Irgendwie ist es immer wieder ein schöner Moment, wenn man einen Menschen überraschen kann (solange der Anlass positiv ist). Wenn der Andere gar nicht damit rechnet. Das Staunen im Gesicht, oder einfach nur Ungläubigkeit. Für mich fühlt sich das schön an, weil ich dadurch das Gefühl bekomme, bei anderen Menschen etwas bewirken zu können. Muss wohl Teil der Egozentrik sein - mir selbst zu beweisen, wie "toll" ich bin. Irgendwie lässt sich doch alles auf egozentrische Bedürfnisse herunterbrechen.

Gestern habe ich meinen E-Jahrgang einen Test schreiben lassen. Das "Oh mein Gott, wie sollen wir das nur schaffen"-Entsetzen zählt nicht zu den Überraschungen, die ich gern herbeiführe. Allerdings zweifle ich mittlerweile an, dass das ein authentisches Entsetzen war. Bei meinen derzeitigen Lerngruppen scheint es ein Automatismus zu sein: Wann immer sie eine Aufgabe gestellt bekommen, jammern sie drei Viertel der Arbeitszeit herum, dass das ja zu viel und zu schwer sei, und dann erledigen sie es problemlos. Sollte ich u.U. an der Schule bleiben, möchte ich etwas gegen diese (bei ein paar Schülern authentische) Panik tun. An den letzten Gemeinschaftsschulen hatte ich das irgendwie nicht. Die haben einfach ihre Aufgaben erledigt.

Aber zurück in den E-Jahrgang; es war die letzte Doppelstunde vor den Ferien, und nachdem wir die Hälfte der Zeit mit dem Test verbracht haben, habe ich ihnen eine kleine Kurzgeschichte vorgelesen, als Alternative zum Film, sozusagen. Auf Englisch, und zwischendurch regelmäßig Verständnis gesichert. Und was haben sie sich gelangweilt! So ein idyllisches Dorf, um das es ging, lahm. Und alles im Sommer, und viel zu friedlich, und erzkonservativ, Traditionen und blablabla. Und in der Tat geht es in der Geschichte sehr gesittet zu. Nur im letzten Viertel wird es etwas sinister, und im letzten Absatz folgt dann das twist ending, und ich habe es genossen.

Genossen, langsam zu lesen, mit mehr Betonung, und dann die grausigen Szenen auf der Zunge zergehen zu lassen. Zu hören, wie ein paar Schüler den Atem anhalten in dem Moment, als ihnen klar wird, worauf diese Geschichte hinausläuft. Das Entsetzen in den Gesichtern dieser lieben, braven Kinder zu sehen. "Das ist doch nicht wahr, oder?" - "Machen die das gerade wirklich?" - "Was, der eigene Sohn???" Und direkt, bevor die Szene zu explizit wird - The End. Und ich kann förmlich sehen, wie die Bilder in den Köpfen der Schüler weiterlaufen, damit haben sie nicht gerechnet. Ich habe damals, beim ersten Lesen, auch nicht damit gerechnet. Und mir ist damals auch alles aus dem Gesicht gefallen. Es muss einen Grund haben, dass es eine der bekanntesten Kurzgeschichten Amerikas ist.

The Lottery von Shirley Jackson.

Mir ist nichts aus dem Gesicht gefallen, denn ich kannte den Twist ja mittlerweile (und natürlich gibt es hier keine Spoiler). Dafür ist mir heute das Grinsen eingefroren, als die achte Klasse mir, nachdem sie heute (mit ingesamt fünf Unterrichtsstunden Vorbereitung) ihre erste Klassenarbeit geschrieben haben, ein kleines Präsent für die Weihnachtstage mitgegeben haben. Das fand ich so süß, da hat sich tatsächlich die Klassensprecherin am Tag davor in die Küche gestellt und Vanillekipferl gebacken, hübsch eingepackt mit einer Karte dazu, und bei solchen Aufmerksamkeiten bin ich völlig überfordert.

Anders als bei Geburtstagsgeschenken, die mir nicht zusagen, da komme ich mittlerweile gut mit method acting zurecht. Hier geht es um Kleinigkeiten, die mir wirklich gefallen und mich wirklich überraschen. Tja, da war ich dran mit der Überraschung, und die Kiddies haben es genossen. Ich fand das unglaublich aufmerksam, von einer Klasse, die ich gerade mal fünf Stunden unterrichtet hatte.

Ich wollte heute eigentlich etwas über meine zunehmende Begeisterung für Epen schreiben, ist auch halb fertig, aber das hier hat den heutigen Beitrag eher verdient. Und es ist einer der Gründe, warum ich gern Lehrer bin, trotz all' der Widrigkeiten seitens des Ministeriums, Formalitätenhickhack und wie ein Niemand behandelt zu werden. Das wertet es wieder auf.

post scriptum: Wer zwanzig Minuten Zeit hat, kann sich diese sehr treffende Verfilmung von "The Lottery" anschauen:
 

Samstag, 16. Dezember 2017

Gehirn sagt "Nein"

Ivor Novello in The Lodger (1927) - sind das nicht verführerisch sinistre Augen?

Heute ist Samstag, ein sonniger, wie ich feststelle. Und wie an so gut wie jedem dritten Samstag im Monat findet heute Abend die Lost Souls statt. Natürlich gehe ich dort hin: Ich liebe die Gelegenheit, mal etwas schwärzer als sonst auszugehen, die Nägel frisch lackieren und endlich mal wieder etwas Kajal und Lidschatten dazu. Und ein paar Runden zu tanzen mit anderen Kreaturen der Schwarzen Szene. Heute abend ist es also wieder soweit.

Aber das Gehirn sagt "Nein".

Weil da der gestrige Freitag mit drei schönen Filmen war, die einfach Lust auf mehr gemacht haben. Und weil ich momentan ein Interesse für Stummfilme hege; heute soll es Langs Metropolis (1927) geben, vielleicht auch einen anderen Hitchcock-Novello-Film, Abwärts (Downhill, 1927). Vielleicht auch etwas von Buster Keaton, wenn etwas humorvoller sein soll.

Das ist vielleicht wieder so eine HB-Sache. Dass mein Gehirn manchmal spontane Planänderungen vornimmt, obwohl ich sie eigentlich überhaupt nicht ausstehen kann, wenn sie mir von außen aufgezwungen werden. Da hege ich Plan A, und plötzlich kommt mir etwas Interessantes, Spannendes unter die Augen und mein Gehirn beschäftigt sich nur noch damit - übrigens eine herrliche Gelegenheit, mal wieder das Essen zu vergessen.

So ist es dieses Mal auch wieder. Die gestrigen Filme waren so großartig (auch die von davor), dass ich komplett im Film-Modus bin. Ich will heute Abend gar nicht ausgehen - auch wenn die nächst LS wieder einen Monat hin ist. Gehirn sagt "Nein" - und kann ich ihm das verübeln, angesichts The Graduate (Die Reifeprüfung - eigentlich hat mich der Film gar nicht soooooo sehr interessiert, aber die Musik von Simon&Garfunkel ist einfach zu großartig [wenn auch "eigentlich" nicht meine Musikrichtung] und für Anne Bancroft in der Rolle der Mrs Robinson würde ich zur Hete werden, und jetzt verstehe ich auch einige Szenen von Wayne's World wesentlich besser) - wobei vorletzterer Gedanke angesichts von Ivor Novello (s. ganz oben) wieder in den Hintergrund rutscht; deswegen will ich ihn auch heute wieder sehen, in einem anderen Film. Ein bisschen Eisensteins Battleship Potemkin - wow, echt klasse, mit einer ziemlich intensiven Szene (wer es kennt - die Odessa Steps, ziemlich beeindruckend), endlich, endlich Orson Welles' Citizen Kane - ziemlich genial, ich verstehe, warum viele diesen Film für den besten aller Zeiten halten. But I won't tell - findet es selbst heraus. Eine weitere Bildungslücke habe ich mit Forrest Gump abgeschlossen - ich bin ganz froh, dass ich den Film nach meiner Zeit an Gemeinschaftsschulen gesehen habe und dadurch Menschen mit einem niedrigen IQ kennenlernen durfte; dadurch konnte ich in dem Film besser mitgehen (wenn man irgendwie immer nur hohe Intelligenz "kennengelernt" hat, ist das nicht so einfach zu verstehen, und unbedarft hätte ich den Film vielleicht für übertrieben in Forrests Darstellung gehalten).

Zwei Stunden später...

Ich muss durchatmen. Und eine kleine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Früher dachte ich immer, dass ich keine epischen Filme schauen möchte. Die sind so lang und unhandlich und immer das Gleiche, Gut gegen Böse, und noch ein bisschen Liebe rein, Kitsch blabla, fühlt sich an wie "alles schon gesehen", ich brauche Unkonventionelles.

Während es stimmt, dass ich immer auf der Suche nach Unkonventionellem im Film bin, stimmt das "alles schon gesehen" nicht. Warum rede ich mir ein, ich würde die Klassiker schon kennen, wenn ich sie nicht kenne? Entsteht daraus so ein starker Drang, anders zu sein? Ich habe eben einen weiteren Klassiker erlebt, Fritz Langs Metropolis (1927). Es ist irre, was man damals für Effekte zur Verfügung hatte. Es ist irre, wie sehr dieser Film mich packen kann. Es ist irre, wie sehr der Film nachwirkt. Das tut er jetzt, Zeit für eine Meditation. Meditation darüber, dass ich ein wenig reifer werde und aufgeschlossener gegenüber den Dingen.

Eigentlich eine recht coole Alternative zur Party.

post scriptum: Ich habe heute sehr viel Spaß mit dem "Amazon Fire TV Stick" gehabt. Das Teil lässt einen auf das Film-, Serien- and whatnot-Sortiment von Amazon zugreifen. Ganz einfach per Knopfdruck und Sprachsteuerung. Also suche ich per Sprachsteuerung "Metropolis" - nichts. Ich sage "Eraserhead" - nichts. Ich sage "The Wind" - und bekomme die Wettervorhersage für Kiel. Da platzt mir der Kragen und als nächste Suchanfrage pöbel ich das Gerät an - mit folgendem Suchergebnis, das mir herrliche Lachkrämpfe beschert hat:

 

Freitag, 15. Dezember 2017

ineffabilis, e (adi.)

Letztlich ist das alles nur wieder Chemie. Oder?

Aus dem Griechischen abgeleitet beschreibt es etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Unaussprechlich, unsagbar. Ein bisschen wie der Name Voldemort bei Harry Potter, aber halt auch nur ein bisschen, denn der Name wird oft genug ausgesprochen. Was dagegen tatsächlich als ineffabilis gilt, sind Psychedelische Reisen.

Manch' ein Mensch möchte erfahren, was es noch so alles auf dieser Welt gibt, indem er dazu psychedelisch wirksame Substanzen konsumiert. Das Bewusstsein wird erweitert und es ist eine unvergleichliche Reise. Unvergleichlich, denn jede Reise ist anders, teilweise komplett anders. Viele Psychonauten (Seereisende der Seele, das ist ein schönes Bild) sind von ihrem Erlebnis so begeistert, dass sie Andere daran teilhaben lassen wollen. Das ist aber gar nicht so leicht: Sobald man versucht, einen sogenannten "Tripbericht" zu verfassen, wird es kompliziert. Nicht, weil man die Inhalte der Reise vergessen hätte (was allerdings auch oft passiert), sondern weil die Worte fehlen, um das Erlebte angemessen schriftlich festzuhalten.

Denn, wenngleich solch' ein Trip für Außenstehende sehr unspektakulär sein kann (der Reisende liegt vielleicht einfach nur auf seinem Bett), geht im Kopf die wahre Action ab. Behind Closed Eyelids öffnen sich Welten, bunt oder auch nicht, real, tatsächlich, vielfältig, bekannt oder unbekannt, philosophisch, metaphysisch. Man kann es versuchen, aber es ist sehr schwer, ein akkurates Bild der Reise wiederzugeben. Es gibt unzählige solcher Tripberichte im Internet, manche zeigen ein erstaunliches literarisches Niveau. Man kann beschreiben, was man sieht - aber was man fühlt, auf so einer substanzgestützten Gedankenreise, das bleibt ineffabilis (besser mit -e, nicht wahr?).

Vor knapp neun Jahren, im Studium, habe ich das auch einmal probiert. Und wenn ich das heute lese, realisiere ich, wie wenig ich damals das Erlebte in Worte fassen konnte - Effekte ja, Inhalte nein. Ich wünsche gute Unterhaltung - stellenweise zensiert, weil ich niemanden auf irgendwelche Ideen bringen möchte:

Ich nehm das XXX gerne so um 18 Uhr ein, dann bin ich gegen Mitternacht wieder einigermaßen klar. Also hab ich gestern (wegen Telefonat etwas später) so gegen 18.15 Uhr XXX geschluckt. Dazu dann gleich zwei Emesan (100mg DPH) gegen die Übelkeit, wobei ich immer noch finde, dass die Dinger schon selbst zum Kotzen schmecken. Warum machen sie da keine Filmtabletten draus? Evtl. nehme ich nächstes Mal gegen die Übelkeit Dimenhydrinat, mal schauen.

Dann erstmal Musik angemacht, ruhige Soundtracks zum Runterkommen und nur Schwarzlicht im Zimmer an. Ich hab störende Sachen aus dem Weg geräumt, damit ich nicht stolpere oder Sachen verschütte, alles schon passiert ;-) Ich hab mich aufs Bett gelegt und erstmal versucht, zu entspannen. Nach 20-30 Minuten kamen dann ganz leichte Magenkrämpfe, aber das ist bei mir zu dem Zeitpunkt ganz normal. Hab erstmal die Augen geschlossen und die Musik genossen. XXX braucht bei mir ziemlich lange zum Wirken (1,5-2h), also ist erstmal Geduld angesagt. Gegen 19.30 Uhr war meine provisorische Winamp-Playlist dann abgelaufen und ich musste aufstehen, um neue Songs draufzupacken. Hab dann schon gemerkt, dass mir leicht schwindelig wurde und hab mir gedacht, alles klar, geht langsam los, noch zwei, und dann wechseln wir mal den Musikstil. Also noch ein paar ruhige Sachen dazu, nochmal 20 Minuten hingelegt und etwa um 20 Uhr hab ich dann meine XXX-Playlist rausgekramt (Techno, Rave&Hardtrance). Dazu dann etwas Räucherware angesteckt, das gibt immer ne schöne Atmosphäre.

So langsam ist mir schön schwindelig geworden und ich hab bereits auf dem Bett das Gefühl gehabt, als würde mein Körper nach und nach in warme Decken eingepackt. Ich hab mir ein T-Shirt angezogen, weils im Pullover zu warm war. Hab mir dann überlegt, zur Musik wieder XXX-typisch zu tanzen (also etwas zombie-like, mit langsamen, spacigen Bewegungen), aber davon ist mir dann schlecht geworden und ich hab mich einfach wieder aufs Bett gelegt. Hab nen ordentlichen Kopf bekommen und mich auf dem Bett hin und her gedreht, weils ein geiles Gefühl ist. Die Schwerkraft hat irgendwie anders gewirkt, hat mich auf dem Bett nach rechts gezogen und gegen die Wand geklatscht. Ich hab mich nach links gedreht, bin aber wieder nach rechts zurück gerollt, wie magnetisch *g*

Tja, dazu die Musik und das Schwarzlicht, bin dann mehrmals aufgestanden, durchs Zimmer getaumelt und hab mich wieder aufs Bett gepackt, Kopf total dicht, warmes, weiches Kribbeln am Körper, nur zwischendurch hats am Kopf tierisch gejuckt und ich hab mich heftig gekratzt (Fehler, ich weiß *g*). Bin auch ein paar Mal gegen die Tür oder meinen Schrank gelaufen und hab blöderweise mein Glas Wasser auf dem Schreibtisch umgehauen (was auch immer meine Hand da auf dem Schreibtisch zu suchen hatte). War auch schwer, im Schwarzlicht die Wasserflecken aufzuwischen, naja, immerhin konnte ich meine Armbanduhr aus der Überflutung retten, den Rest hab ich erstmal so gelassen *g*

So ab 22 Uhr hat dann der Schwindel nachgelassen und ich hatte "nur" noch diesen tierisch angenehmen dichten Kopf. Hab nochmal ne Emesan gegen Übelkeit eingeworfen. Gegen 23 Uhr bin ich dann zu Fuß zu Burger King (5 Minuten) getapst, hab im Laufe des Abends mehrere Male versucht, die Bestellung so aufzusagen, dass nicht gleich jeder merkt, dass ich noch stoned bin *g* Hat dann trotzdem nicht geklappt, mit der Koordination beim Gehen wars noch nicht so ideal. Egal, wieder zuhause, gefuttert (hat trotz Pappmaul noch einigermaßen geschmeckt) und so gegen 24 Uhr ist auch das angenehme Gefühl langsam abgeklungen, dann hatte ich nur noch nen Brummschädel. Ins Bett, heute um 8.30 Uhr aufgewacht, nüchtern und wieder fit in den neuen Tag ;-)

So, Fazit? ;-) Schöner Trip, etwas ruppig, hatte bei 6,3mg/kg nicht mehr so viel Bock zu tanzen wie bei 4,2mg/kg, war einfach zu anstrengend. Dafür war das spacige Gefühl schöner und der Kopf besser! Jetzt ist erstmal wieder ein Monat Pause angesagt, dann schauen wir mal weiter ;-)

Donnerstag, 14. Dezember 2017

Alte Schule

Was da wohl alles drinsteckt?

"Und, wie ist es hier so?" fragen mich Kollegen, die sich mir bestimmt schon einmal vorgestellt haben, aber mein Gehirn sagt sich, wenn ich sowieso nur zwei Monate bleibe, muss ich mir keine Namen merken. Eine objektive Antwort kann ich auf die Frage noch nicht geben, das ist meinem Gehirn klar, und deswegen ist das für mich ein unangenehmer Moment: Was antworte ich denn jetzt?

Gehirn denkt: "So ein geiles Sekretariat habe ich bisher nur in SPO erlebt, das rettet mir das Leben. Kollegen sind sicherlich nett, aber da sind so viele neue Menschen, ich möchte am liebsten gar nicht angesprochen werden, ich weiß nicht, wen ich wie grüßen soll, die Schüler sind halt gymnasial. Brav, lieb, nett, melden sich tatsächlich, wenn man eine Aufgabe gibt, bringen mir von sich aus bunte Kreide mit, wenn ich über deren Fehlen jammere - gutes Stichwort, die Schüler jammern wesentlich mehr "Wie sollen wir das schaffen?"-mäßig rum als GemS-Schüler. Bürokratie läuft extrem unkompliziert ab, ich mag zwar, wie man offen miteinander umgeht, aber hab schon einen "hinter dem Rücken"-Moment gehabt und ich kann all' diese Eindrücke nicht unter einen Hut bringen."

Mund sagt: "Die Lerngruppen sind ganz nett. Und irgendwie hätte ich mir das hier spießiger vorgestellt."

Es sind einfach zu viele Eindrücke, die ich alle nur mit Mühe verarbeiten kann (Donnerstag wird zum Meditationstag erklärt). Und natürlich mischt sich eine Angst hinein, dass alles so fake-freundlich sein könnte. Aber das Sekretariat. Das ist so authentisch, das zerstreut diese Angst wieder. Und dann solche Momente:

Ich sitze im kleinen, familiären Lehrerzimmer, versuche, Nepos auf irgendeine Form des Leistungsnachweises herunterzubrechen, und schräg von hinten kommt Herr Schöneich, der Schulleiter, auf mich zu, ach herrje, jetzt sind bestimmt die ersten Beschwerden angekommen und ich habe mal wieder direkt in's Klo gegriffen. Ist in SPO passiert, tatsächlich, als ich etwas zu unbedacht im Unterricht über Suizid gesprochen habe; ich habe damals einen freundlichen Hinweis vom Schulleiter bekommen, mann, war mir das peinlich! Aber da ich ja generell gern unbedacht und naiv bin, ordne ich das "Schöneich-Nahen" ein in die Kategorie "Ist ja schön, dass wir sie jetzt hier haben, aber vielleicht sollten sie dann doch ein wenig mehr auf ihre Unterrichtssprache achten". So in der Art.

Alle diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, vor mir Nepos in der für Schüler ansprechend aufbereiteten Legamus!-Ausgabe, hinter mir der Geniekopf im Anzug. Geniekopf. Ich habe Rainer Schöneich schon während meines Studiums öfters erlebt. Und irgendwie dachte ich schon damals, das wäre ein perfekter verrückter Professor. Ist halt so:

Wo weise Kräfte walten, könn' sich keine Haare halten.

Irgendwann aufgeschnappt und nie vergessen. Und dann drehe ich mich zu Herrn Schöneich um, wir lächeln uns freundlich an, wie man das so macht, er begrüßt mich und gibt mir die Hand - und geht wieder in Richtung seines Büros. WTF? Einfach nur mal Hallo sagen? Ja, das macht er, und das habe ich heute auch nicht zum ersten Mal erlebt. Ich kenne das gar nicht, eine so "aufmerksame" Schulleitung. Das ist halt alte Schule, mit wesentlich mehr Manieren als ich so mit mir herumtrage. Und ich denke direkt wieder an Jay. Auch alte Schule: Als ich ihn besucht habe, begrüßt er mich an der Haustür, wie man das so macht, und nimmt mir dann tatsächlich meine Jacke ab (und hilft mir beim Abschied auch wieder hinein); völlig unbeeindruckt von den zwanzig bis dreißig Zentimetern Größenunterschied, völlig unbeeindruckt davon, dass er ein paar Jahrzehnte älter ist: Er weiß sich zu benehmen und das hat mir mächtig imponiert.

Menschen wie Jay oder Schöneich leben uns Kästner vor:

"Es nützt nichts, unsere Kinder irgendwie erziehen zu wollen; sie machen uns sowieso alles nach."

Mittwoch, 13. Dezember 2017

"Wo siehst du deine Stärken?"

"Stärken? Ich gebe den Schülern die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer Individualität, zum Beispiel, indem sie sich aussuchen dürfen, wie sie genannt werden." - "Individualität? Sorry, aber das hat nichts mit Stärken zu tun. Das ist einfach nur Blumenwiesengerede, damit können sie an die Waldorfschule gehen und dort beim Vorstellungsgespräch ihre Ideologie vortanzen." (Die große Buba möge mir das verzeihen, aber wir beide wissen, dass die Klischees und das Unverständnis nun mal leider so gelagert sind.)

Vielleicht habt Ihr diese Frage schon einmal gehört. Vielleicht wurde sie Euch selbst ein- oder mehrmalig gestellt. Ich habe gemerkt, dass ich früher anders darauf geantwortet habe als es heute der Fall ist. Das muss noch nicht einmal abhängig sein von der Situation: Bei beiden folgenden Beispielen geht es um Vorstellungsgespräche.

An meiner ersten, hier nicht namentlich genannten (was allerdings nichts mit Respekt zu tun hat) Schule fragte mich die Schulleitung, wo ich meine Stärken sähe. Noch gar nicht auf einen schulischen Alltag bezogen; das wäre Unsinn gewesen, denn woher hätte ich einschlägige Erfahrungswerte ziehen sollen?
Meine Eltern haben mich zur Bescheidenheit und zur Zurückhaltung erzogen, gerade gegenüber Menschen, die ich nicht kenne. Ganz davon abgesehen, dass es eine wunderbare Variante des method acting ist, sich seinem Kommunikationspartner gegenüber dumm zu stellen. Also habe ich mich auch in diesem Gespräch als unerfahren, unterlegen gezeigt (Dinge, die die Schulleitung - wie ich später erfahren habe - generell gern gesehen hat, welch' Alliteration). Ich habe erzählt, dass ich im Englischstudium einigermaßen gute Noten hatte. Ich habe nicht von sozialem Engagement erzählt. Ich habe nicht von sehr guten Noten gesprochen, eigentlich, so meinte ich, wüsste ich gar nicht, ob der Lehrerberuf überhaupt das Richtige für mich ist.
Bis auf den letzten Satz war meine Antwort also geprägt von Unwahrheiten und Understatement. Aber ich habe die Stelle bekommen, denn ich habe schön der Schulleitung nach dem Mund geredet, die - wie ich ebenfalls später erfahren habe - verschlossener gegenüber Kollegen war, die sich als zu selbstbewusst entpuppt haben. Die Frage nach meinen Stärken ist also nicht mit der Absicht einer ehrlichen Antwort gestellt worden.

Nun habe ich also an unterschiedlichen Schulen (und Schularten) ein paar Jahre Erfahrung sammeln können. Ich habe mittlerweile eine recht akkurate Einschätzung darüber, wo meine Stärken und Schwächen im schulischen Kontext liegen. Zumindest habe ich einen Ansatz. So kam es also auch bei einer Bewerbung vor Kurzem wieder zu der Frage: "Wo siehst du deine Stärken?" Und nun, mehrere Jahre nach meinem ersten Vorstellungsgespräch, habe ich ehrlich geantwortet. Bei diesem armseligen Arbeitsmarkt für Lehrkräfte in Schleswig-Holstein muss man sich schmackhaft machen, wurde mir mittlerweile oft genug gesagt.
Ich kann sehr gut mit Menschen arbeiten, habe ich geantwortet. Ich finde besonders guten Zugang zu "schwierigen" Schülern. Ich kann eine gute Vertrauensbasis und daraus resultierende Lehrer-Schüler-Beziehung aufbauen, einer der sehr wichtigen Faktoren für sichtbaren Lernerfolg (wenn man einer gewissen Metastudie glauben möchte; viele konservative Lehrkräfte möchten das nicht). Ich schaffe es, dass Schüler gern in meinen Unterricht gehen, weil ich sie auf eine Reise mitnehmen kann. Ich kann gut schauspielern; nicht zuletzt dadurch erreiche ich in der Regel mein Ziel, dass die Schüler am Ende der Stunde den Unterricht "reicher" verlassen, als sie ihn betreten haben.
Das war ehrlich, und das war ein Fehler. Diese Performance möchten manche Menschen nicht hören, denn das ist zu selbstbewusst. Jemand in einem solchen Outfit kann noch gar nicht die Expertise besitzen, solche Aussagen über seinen Unterricht zu treffen. Das ist vermessen und wirkt unweigerlich arrogant. Kurz zitiert.

Wie also soll ich in meinem (unweigerlich nahenden) nächsten Vorstellungsgespräch antworten, wenn mir diese Frage gestellt wird? Am liebsten würde ich sagen: "Ich bin nicht sehr gut darin, meine Berufseignung selbst herauszustellen. Ich denke, dass sie meine Stärken dem vorliegenden Gutachten entnehmen können; darüber hinaus werden meine bisherigen Schulleitungen ihnen sicherlich eine objektivere Rückmeldung geben können als ich."
Aber das würde Aufwand für die Schulleitung bedeuten. Sie müssten den Text des Gutachtens lesen (und das dauert, und schließlich kann ja jeder alles Mögliche in die Gutachten schreiben), sie müssten Telefonate führen, sie müssten sich noch nach dem Vorstellungsgespräch mit mir als potentiellem Kandidaten auseinandersetzen. Es ist viel angenehmer, wenn man nach zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten Gespräch zu einem Entschluss kommen kann.
Entweder, sie mögen Deine Visage, oder Dein Outfit, oder Deine Art zu reden. Oder sie haben tatsächlich einen Blick für Menschen (wie z.B. die Schulleitung der Nordseeschule in St.Peter-Ording oder der Meldorfer Gelehrtenschule). Es geht hier nicht um Talent.

Ich hasse diese Bewerbungsscheiße.
Abgrundtief.

post scriptum: Und ich HASSE es, mich nach jeder einzelnen Absage wieder erklären zu müssen, wenn es heißt "Oooohhhh, wieso das denn?" Begründungen bekommt man eh' nur unter der Hand. Und sorry, aber mit meinem Outfit sehe ich nicht sozialtauglich aus. So etwas kann kein guter Lehrer sein. Arm, aber ist so.

Außerdem: Thank goodness, dass in Alabama der Demokrat Jones gewonnen hat. Nicht wegen seiner Vita, nicht wegen seines Wahlprogrammes, sondern einfach nur, weil er nicht Moore ist. Das erspart den Republikanern die Peinlichkeit, drei Jahre ertragen zu müssen, dass ein pädophiler Geisteskranker den Senat betritt. Reicht schon, wenn es ein sexistischer, golfsüchtiger Geisteskranker tut. Ich bin stolz drauf, dass die Stimmen der Afroamerikaner endlich wirklich etwas bewirkt haben - denn sie haben den Ausschlag gegeben. Dass drei Viertel der weißen Männer trotzdem für Moore gestimmt haben, lädt mich nicht zu einem Urlaub in Alabama ein. Nicht, dass ich mir das derzeit leisten könnte ^^ Und der nächste USA-Freizeitpark, den ich erobern möchte, liegt eh' in Ohio - mal wieder, aber so isses nun mal. Es gibt eben nur ein "Cedar Point" da drüben.

Und: Ich verbringe heute den Großteil des Tages im Bett, Erkältung oder so, jedenfalls Kopfschmerzen und kaum existenter Kreislauf. Hat jemand von Euch schon einmal die Erfahrung gemacht, dass es in diesem Zustand nicht ganz so einfach ist, eine faire Klassenarbeit für Schüler zu entwerfen, die man insgesamt nur drei Stunden lang gesehen hat?

Dienstag, 12. Dezember 2017

Nix da!

Beweis: Ich bin Lehrer... (und offensichtlich nicht in der Lage, mir die Hände zu waschen)

Dieser Tage schaut manch' ein Latinist aus seinem Fenster und denkt sich: "Nix da!" - oder zumindest "Nix!"; jeder Lehrer schiebt schnell noch ein "nivis, femininum" hinterher. Und betrachtet stolz seine Finger, die aussehen, als sei ein Lastwagen drübergefahren. Was ihnen tatsächlich "zugestoßen" ist, hat tatsächlich ähnliche Auswirkungen auf sein Nervenkostüm: Das Thema "Übersetzungsmethoden: Satzgliedanalyse", in einer Zeit glitzernder Einhörner ist dieses regenbogenbunte Thema beliebt wie nie. Wie lässt sich sonst erklären, dass scheinbar jeder Lehrer andere Farben dafür verwendet?

Wie es aussieht, sind sich alle nur beim Prädikat (rot) und dem Subjekt (blau) einig. Was früher mal Akkusativ (grün) und Dativ (braun) und Ablativ (gelb) war, ist jetzt Akkusativ (gelb), Dativ (orange), Ablativ und Subjunktionen (grün). Das alte Frettchen kommt damit kaum noch klar, deswegen habe ich heute in der Hauptsache rot und blau verwendet. Und überlege, jegliche Satzglieder - ausgenommen Subjekt und Prädikat - aus Sätzen zu streichen. Wir dürfen es unseren Schülern schließlich nicht zu schwer machen.

Das farbige Durcheinander ist eine willkommene Abwechslung zum Grau. Und während viele Regionen sich über den Schnee freuen können, sollte bitte niemand vergessen: Ich lebe in Kiel. Quodcumque nivis sit, ja, also was immer es hier auch an Schnee geben mag (mal gewissen "Schnee" ausgenommen), verwandelt sich dank Regen innerhalb kürzester Zeit in Matsch, von dem dann nichts Schönes mehr übrig bleibt. Nur eine Sandspur durch das Treppenhaus, die man dann in der Flurwoche wegputzen darf.

Warum eigentlich nicht Kalifornien?

post scriptum: Sollte sich irgendeine Möglichkeit ergeben, den aktuellen Vertrag zu verlängern, sollte ich SEHR gründlich aufpassen - ich verdiene bereits jetzt etwa zweihundert Euro weniger als mit dem Arbeitslosengeld. Wenn auf dieser Grundlage dann das nächste ALG (60%) berechnet wird...

Samstag, 9. Dezember 2017

"Die Schüler sind echt saudumm!"

Aber es betrifft nicht nur Lateinschüler...

Vorwort: Aus diesem Text wird man ein wenig Gegenwind gegen die eine oder andere Schule herauslesen können. Falls Du dich von dem Text angegriffen fühlst, falls Du dich im ganz konkreten Beispiel unten wiederfindest: Shame on you! Das ist nicht mein Problem, denn dann scheinst Du einen Fehler zu machen, den ich im heutigen Text einmal aufzeigen möchte. 

Es geht schon wieder um Schule. Sorry, aber über diesen Punkt möchte ich seit über anderthalb Jahren schreiben, und nun nutze ich die Gelegenheit dazu. Der Aufhänger ist der Satz im Titel des Beitrags. Es geht mir nicht darum, dass irgendeine Lehrkraft ihn so gesagt haben könnte (würde natürlich NIE jemand machen...), sondern dass im Kopf einiger Schüler der untilgbare Eindruck entsteht, dass sein Lehrer derart über ihn denkt. Dass ein Lehrer seinem Schüler das Gefühl gibt, dumm zu sein. Und das geht unglaublich einfach, unglaublich schnell, und ganz oft bekommen wir es nicht einmal mit. 

Vielleicht zuerst ein Beispiel aus meiner eigenen Lebenswelt, noch gar nicht auf die Schule bezogen. Wer braucht schon Prädikate. Eines Tages habe ich meinen besten Freundinnen von den Inhalten in der Uni erzählt, muss in der Nähe des Examens gewesen sein, und habe ihnen gesagt, dass ich mich so dumm dabei fühle und dass ich das Examen versemmeln werde. Dieser Eindruck sei entstanden, als ich mit meiner Englischprofessorin Inhalte meiner Examensarbeit besprochen habe. Sowohl die Sannitanic als auch die große Buba haben dann unabhängig voneinander zu mir etwas gesagt wie: "Ja, jetzt weißt du mal, wie man sich fühlt, wenn man sich mit dir unterhält. Da fühle ich mich manchmal auch sehr dumm."

Bitte?!? Das habe ich nicht verstanden und habe mir das dann erklären lassen. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass ich hochbegabt bin, aber meine Art zu sprechen scheint wohl symptomatisch gewesen zu sein, und auch die Art und Weise, wie ich Inhalte aus Lehrveranstaltungen gelernt habe. Das hat also zu einem "Gegen dich komme ich nicht an"-Gefühl geführt. Und ich habe das nicht einmal bewusst wahrgenommen.

In unseren Unterrichtsfächern sind wir Lehrer fast immer fitter als unsere Schüler. Schließlich haben wir sie irgendwann einmal im Rahmen einer Fachwissenschaft studiert, bevor wir dann alle Inhalte auf ein Schulniveau herunterbrechen mussten. Und weil wir fitter sind, fällt es uns nicht schwer, unsere Schüler sich dumm fühlen zu lassen: Wir stellen Fragen, auf die wir natürlich die Antworten wissen, während manche Schüler auch nach langem Grübeln nicht auf die Lösung kommen. Für uns ist in unserem Fach (so gut wie) alles klar, während es Schüler gibt, die auch nach stundenlangem Lernen einfach gewisse Zusammenhänge nicht verstehen. Und so schaffen wir es, dass sie sich dumm fühlen, und ganz oft bemerken wir es nicht einmal. Nein, eher kommt es vor, dass eine richtige Antwort seitens des Schülers von uns nicht einmal gelobt wird, sondern als selbstverständlich hingenommen wird, womöglich noch mit einem "Na, das hättest du aber auch schneller wissen können".

Das zweite Beispiel eines Angriffs auf das Selbstwertgefühl eines Schülers liegt in den Erwartungen, die von allen Seiten an ihn gestellt werden. Nehmen wir eine Schülerin in der Oberstufe eines Gymnasiums. Alle Welt scheint zu erwarten, dass Schüler eines Gymnasiums das Abitur machen - ob sie es nun für ihren Lebens- bzw. Berufsweg brauchen oder nicht. Nun frage ich die Schülerin im Rahmen einer Vorstellungsrunde, was sie denn einmal machen möchte, wenn sie das Abitur bestanden hat. Sie antwortet mir, dass sie das Abitur nicht machen wird, sondern mit der Fachhochschulreife abgehen und eine Ausbildung machen wird. Ich antworte ihr, dass ich das großartig finde. Dass sie so einen konkreten Plan im Kopf hat und auch, dass sie sich entschieden hat, eben nicht das Abitur zu machen und noch mehr Zeit an der Schule zu verschwenden.

Nach der Stunde meint die Schülerin auf dem Weg nach draußen zu mir: "Ich wollte nochmal danke sagen. Sie sind der einzige Lehrer, der das gut findet, dass ich mit der Fachhochschulreife von der Schule gehe." Ich sage ihr, dass ich mir das nicht vorstellen kann und sie erzählt mir, horribile dictu, dass tatsächlich von allen Seiten, auch im familiären Umfeld, Gegenwind kommt, weil alle von ihr einen "vollwertigen Gymnasialabschluss" erwarteten und die FHR da anscheinend nicht zählt.

Ich weiß nicht, ob ich dieses Beispiel noch weiter kommentieren muss. Ich hoffe einfach, dass beide kleinen Geschichten erklären, warum ich aus dem Titel des Beitrags ein Zitat in Anführungszeichen gemacht habe, auch wenn vielleicht niemand ihn expressis verbis gesagt hat. Er steckt in den Köpfen vieler Schüler, und zwar oft unabhängig von deren tatsächlicher Intelligenz und unabhängig von der Schulform.

Lasst uns mal etwas dagegen tun, damit die Schule nicht noch mehr zu einem Ort der Erniedrigung wird, den die Schüler fürchten.

post scriptum: Das geht heute an Herrn Leinhos, der mir ein grandioses Beispiel für die Besessenheit der Japaner mit deutschen Namen gegeben hat (ein Typ, der "Frau" heißt...); ich spiele derzeit ein Spiel, in dem zwei Figuren "Adam" und "Eva" heißen. Natürlich zwei Männer. Und um es noch absurder zu machen, stellt Eva irgendwann beim Blick in ein Buch über die Menschheit fest, dass Eva ja eigentlich ein Frauenname ist. Und natürlich sind Adam und Eva spindeldürr, mit den üblichen hervortretenden Hüftknochen und die einzige Bekleidung besteht aus schwarzen, eng anliegenden Lederhosen, die just unter den Hüftknochen enden. Herrlich, wie sich sowas immer wieder findet!