Jeder Mensch hat seinen eigenen Blickwinkel im Leben, handelt dementsprechend und arbeitet an seinem Karma... |
"Ich bin nicht böse, ich habe nur eine Dummheit gemacht."
So erklärt die mexikanische Haushaltshilfe den amerikanischen Kindern, auf die sie hat aufpassen sollen, warum sie von der Polizei abgeführt wird. Das ist eine Szene aus dem Film, den ich eben gesehen habe, dazu unten mehr. Wir alle machen Dummheiten. In meiner Wahrnehmung mache ich überdurchschnittlich viele Dummheiten, aber das kann täuschen. Jedenfalls haben diese Dummheiten Konsequenzen. Vielleicht kaum spürbar, vielleicht nicht sofort, vielleicht erst in Jahrzehnten. Aber ich glaube fest daran, dass all' unsere Aktionen Folgen haben.
Ich habe oft genug erklärt, dass ich nicht an das Christentum glaube, nicht an irgendeinen Gott oder so, und das erklärt auch, warum mir die Feiertage nichts bedeutet haben. Natürlich habe ich mich auch selbst schon öfters gefragt: "Glaube ich überhaupt an irgendetwas?" Und über die Jahre hinweg habe ich die Antwort gefunden, dass ich an das Karma glaube.
Ich nehme mir jetzt einmal die Frechheit heraus, das Karma schön bildlich wie eine Art "Seelenkonto" zu beschreiben. Mit jeder Handlung in unserem Leben zahlen wir auf dieses Konto ein. Das betrifft sowohl gute Taten, als auch Lügen, Betrügereien, Verstöße gegen das Recht und vieles mehr. Alles wird auf das Konto eingezahlt, man kann keine Aktion einfach ungeschehen machen. Auch wenn es vielleicht nur eine kleine Dummheit war (die unter Umständen eine Kettenreaktion ausgelöst hat).
Über die Jahre hinweg füllt sich das Konto immer weiter - und es gibt Zinsen obendrauf, indem zum Beispiel eine kleine Notlüge von einst mittlerweile zu einer persönlichen Lebenslüge angeschwollen ist. Allerdings erhalten auch die "guten" Taten ihre Zinsen. Das Konto existiert zu jeder Zeit, daran glaube ich, und daran, dass ich irgendwann meinen Anteil ausgezahlt bekomme.
Im Positiven heißt das, dass ich vielleicht für eine kleine Hilfe, die ich jemandem im Studium geleistet habe, eine große Hilfe im Erwachsenenalter zurückbekomme. Egal in welcher Form, auch egal in welchem Umfang: Das Positive wird sich auszahlen, expressis verbis. Im Negativen bedeutet das allerdings, dass jede kleine Dummheit sich auch irgendwann auszahlen wird. Da habe ich zum Beispiel einmal jemanden angelogen, diese Lüge jahrelang aufrecht erhalten und bekomme nun die Konsequenzen zu spüren, ohne eine realistische Chance, die Sache aufzuklären.
Ich glaube, das ist der Grund, warum ich immer nett und freundlich bin, und warum ich versuche, im Umgang mit anderen Menschen "gut" zu sein. Nicht als Gegenstück zu "böse", denn an das Böse glaube ich nicht. Ich verhalte mich so, dass mein Karma, mein persönliches Seelenkonto, jederzeit möglichst gut dasteht. Ich konsumiere keine illegalen Drogen - auch wenn die Versuchung hin und wieder sehr stark war. Ich stehle keine Ware - auch wenn ich noch so knapp bei Kasse bin. Ich beschädige nicht fremdes Eigentum - auch wenn ich mich manchmal für etwas würde rächen wollen, oder einfach nur Wut ablassen. Ich möchte mein Gewissen nicht mit diesen Dingen beladen.
Auch wenn meine direkte Ehrlichkeit manche Menschen sehr vor den Kopf stößt und sie für den Moment verblüfft, verstört oder verärgert: Ich benutze keine white lies mehr, keine Notlügen aus Höflichkeit.
Es gibt ein perfektes Filmgenre für genau diese Thematik, nämlich den Episodenfilm. Diese Filme haben in der Regel keine Exposition, keine Peripetie, kein Denouement. Es ist, als ob der Film sich für eine Weile in das Leben eines Menschen einschaltet und ihn beobachtet, bei seinem Alltag, bei seinen Missgeschicken und auch bei seinen kleinen Erfolgen im Leben. In der Regel verbindet jeder Episodenfilm mehrere verschiedene Handlungsstränge, verschiedene Personen, die wir bei ihrem Leben beobachten (viele Episodenfilme zeichnen sich durch hohen Realismus aus), und manchmal werden sie auf eine ziemlich geniale Art verknüpft. Dafür gibt es unterschiedlichste Techniken.
Richard Linklaters Slacker (1991) beobachtet zum Beispiel einen Mann, der im Bus fährt und über den Sinn des Lebens nachdenkt. Ich erfahre, wo er herkommt und wo er hin will, ich habe mich gerade richtig auf seine Geschichte eingelassen, da stoppt der Bus wegen eines Unfalls (ich nehme hier ein bisschen Freiheit, das ist nicht die genaue Abfolge im Film). Ein Fahrradfahrer ist angefahren worden, seine Freundin kniet neben ihm, der Notarzt ist verständigt. Ich erfahre, dass er auf dem Weg zu einer Preisverleihung war - der Busfahrer ist mittlerweile verschwunden, ich bin in einer neuen Episode. Und so geht es weiter.
Ein Meister der Episodenfilme ist Alejandro Gonzalez Inarritu, dessen Film Babel (2006) ich mir heute angesehen habe. Er verbindet drei scheinbar völlig unabhängig voneinander stattfindende Episoden in Marokko, Japan und den USA/Mexiko, auf sehr geschickte Art und Weise. Es beginnt alles damit, dass ein marrokanischer Vater von einem Bekannten ein Gewehr geschenkt bekommt, die beiden waren zusammen auf der Jagd. Der Vater zeigt das Gewehr seinen Söhnen und erklärt ihnen, dass sie damit in Zukunft Jagd auf Schakale machen werden (komplett in der Landessprache, natürlich untertitelt - soviel zum Thema Realismus). Die Jungen nehmen das Gewehr und machen Zielübungen. Sie glauben dem Bekannten ihres Vaters nicht, dass man damit angeblich auf drei Meilen genau treffen kann. So weit? Geht nicht! Sie sind Kinder und wissen es nicht besser, steigen auf einen Berg und machen weiter Zielübungen. In weiter Entfernung fährt ein Bus mit Touristen die Passstraße entlang. "Wetten, du triffst den Wagen nicht?" Und der Bruder schießt. Natürlich passiert nichts, der Bus fährt ganz normal weiter. Die Jungen stehen enttäuscht auf und wollen weggehen, da sehen sie, wie der Bus unten bremst.
Schnitt auf ein amerikanisches Ehepaar (sehr schön gespielt von Cate Blanchett und Brat Pitt, wenn auch etwas Overacting dabei war), das Urlaub macht und vom Bus aus die Landschaft betrachtet. Meilenweit nur Berge, Wüste, trockene Pflanzen. Es leises Geräusch kommt von irgendwoher, wir sehen, wir sich die Bluse der Frau an der Schulter langsam blutig rot verfärbt.
Damit beginnt eine Kettenreaktion, die - wie beschrieben - auch noch Mexiko und Japan beinhaltet, denn: Jede Tat, die in diesem Film ausgeübt wird, hat Konsequenzen, positive oder negative. Der Film verzichtet zum Glück auf spektakuläre Spezialeffekte, sondern bietet Szenen, mit denen jeder Erwachsene sich identifizieren kann, und dadurch trifft er umso stärker in mein eigenes Gewissen. Jede Handlung, die ich vollbringe, wird sich irgendwie auswirken. Es mag für mich nur eine Kleinigkeit sein (wie die Zielübungen der Jungen im Film), aber für jemand Anderen bedeutet es vielleicht sehr viel (Cate Blanchett droht an der Wunde zu verbluten, mitten im Land, ohne Ärzte und Verbindungen).
Das ist Karma.
Je älter ich werde, umso mehr bekomme ich meine ersten Auszahlungen zu spüren. Da unterrichte ich an der KGS zwei Schüler, die ich vor fünf Jahren in Husum einmal kurz hatte, und sie erinnern sich und haben mich in sehr guter Erinnerung. Und machen in meinem Unterricht toll mit. Da schickt mir die große Buba eine Nachricht, denn - Zufall - ich unterrichte den Sohn einer Bekannten von ihr und der scheint sehr positiv beeindruckt zu sein.
Ihr kennt solche Auszahlungen sicherlich selbst. Und, schauen wir uns nur diesen Blog an. Die verschiedensten Menschen lesen ihn. Manche reagieren auf die Beiträge. Zum Beispiel Renate Schalkalwies, meine benachbarte "Tante Renate" aus meiner Kindheit in meinem Heimatdorf. Oder Jeanette Bornträger, mit der ich einmal zusammen bei den Saturnalien auf der Bühne stand und die mir den Tipp gegeben hat, dass man zum Rasieren wunderbar Haarspülung nehmen kann. Oder Beke Hansen, die ich vor Jahren einmal an der Uni in meinem Tutorium hatte. Georg Leinhos, mit dem ich das Lateinmodul bei Herrn Kruse erleben durfte. Franka Wottawa: Die Schwester meiner angeheirateten Tante. Die Verbindungen können so vielfältig sein.
In all' ihren Leben habe ich einen Eindruck hinterlassen, der sich darauf auswirkt, wie wir heute zueinander stehen. Alles Karma. Und deswegen glaube ich daran, dass ich mich auch in Zukunft den Menschen gegenüber "gut" verhalten möchte. Auch wenn ich dabei naiv wirke. Auch wenn es Geld kostet. Auch wenn whatever.
Daran glaube ich. Das ist, sozusagen, meine Religion.
post scriptum: Noch mehr Episodenfilme, die sich mit Verbundenheit auseinandersetzen, wären "Cloud Atlas" (fantastisch!), Jim Jarmuschs "Mystery Train" (Jarmusch eben), Robert Altmans "Short Cuts", Martin Gypkens' "Wir".
"Babel" und "Mystery Train" kann man sich bei Amazon prime kostenlos anschauen.
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