Dienstag, 19. Dezember 2017

Aus dem Gesicht gefallen

Total süß, im wahrsten Sinne des Wortes.

Irgendwie ist es immer wieder ein schöner Moment, wenn man einen Menschen überraschen kann (solange der Anlass positiv ist). Wenn der Andere gar nicht damit rechnet. Das Staunen im Gesicht, oder einfach nur Ungläubigkeit. Für mich fühlt sich das schön an, weil ich dadurch das Gefühl bekomme, bei anderen Menschen etwas bewirken zu können. Muss wohl Teil der Egozentrik sein - mir selbst zu beweisen, wie "toll" ich bin. Irgendwie lässt sich doch alles auf egozentrische Bedürfnisse herunterbrechen.

Gestern habe ich meinen E-Jahrgang einen Test schreiben lassen. Das "Oh mein Gott, wie sollen wir das nur schaffen"-Entsetzen zählt nicht zu den Überraschungen, die ich gern herbeiführe. Allerdings zweifle ich mittlerweile an, dass das ein authentisches Entsetzen war. Bei meinen derzeitigen Lerngruppen scheint es ein Automatismus zu sein: Wann immer sie eine Aufgabe gestellt bekommen, jammern sie drei Viertel der Arbeitszeit herum, dass das ja zu viel und zu schwer sei, und dann erledigen sie es problemlos. Sollte ich u.U. an der Schule bleiben, möchte ich etwas gegen diese (bei ein paar Schülern authentische) Panik tun. An den letzten Gemeinschaftsschulen hatte ich das irgendwie nicht. Die haben einfach ihre Aufgaben erledigt.

Aber zurück in den E-Jahrgang; es war die letzte Doppelstunde vor den Ferien, und nachdem wir die Hälfte der Zeit mit dem Test verbracht haben, habe ich ihnen eine kleine Kurzgeschichte vorgelesen, als Alternative zum Film, sozusagen. Auf Englisch, und zwischendurch regelmäßig Verständnis gesichert. Und was haben sie sich gelangweilt! So ein idyllisches Dorf, um das es ging, lahm. Und alles im Sommer, und viel zu friedlich, und erzkonservativ, Traditionen und blablabla. Und in der Tat geht es in der Geschichte sehr gesittet zu. Nur im letzten Viertel wird es etwas sinister, und im letzten Absatz folgt dann das twist ending, und ich habe es genossen.

Genossen, langsam zu lesen, mit mehr Betonung, und dann die grausigen Szenen auf der Zunge zergehen zu lassen. Zu hören, wie ein paar Schüler den Atem anhalten in dem Moment, als ihnen klar wird, worauf diese Geschichte hinausläuft. Das Entsetzen in den Gesichtern dieser lieben, braven Kinder zu sehen. "Das ist doch nicht wahr, oder?" - "Machen die das gerade wirklich?" - "Was, der eigene Sohn???" Und direkt, bevor die Szene zu explizit wird - The End. Und ich kann förmlich sehen, wie die Bilder in den Köpfen der Schüler weiterlaufen, damit haben sie nicht gerechnet. Ich habe damals, beim ersten Lesen, auch nicht damit gerechnet. Und mir ist damals auch alles aus dem Gesicht gefallen. Es muss einen Grund haben, dass es eine der bekanntesten Kurzgeschichten Amerikas ist.

The Lottery von Shirley Jackson.

Mir ist nichts aus dem Gesicht gefallen, denn ich kannte den Twist ja mittlerweile (und natürlich gibt es hier keine Spoiler). Dafür ist mir heute das Grinsen eingefroren, als die achte Klasse mir, nachdem sie heute (mit ingesamt fünf Unterrichtsstunden Vorbereitung) ihre erste Klassenarbeit geschrieben haben, ein kleines Präsent für die Weihnachtstage mitgegeben haben. Das fand ich so süß, da hat sich tatsächlich die Klassensprecherin am Tag davor in die Küche gestellt und Vanillekipferl gebacken, hübsch eingepackt mit einer Karte dazu, und bei solchen Aufmerksamkeiten bin ich völlig überfordert.

Anders als bei Geburtstagsgeschenken, die mir nicht zusagen, da komme ich mittlerweile gut mit method acting zurecht. Hier geht es um Kleinigkeiten, die mir wirklich gefallen und mich wirklich überraschen. Tja, da war ich dran mit der Überraschung, und die Kiddies haben es genossen. Ich fand das unglaublich aufmerksam, von einer Klasse, die ich gerade mal fünf Stunden unterrichtet hatte.

Ich wollte heute eigentlich etwas über meine zunehmende Begeisterung für Epen schreiben, ist auch halb fertig, aber das hier hat den heutigen Beitrag eher verdient. Und es ist einer der Gründe, warum ich gern Lehrer bin, trotz all' der Widrigkeiten seitens des Ministeriums, Formalitätenhickhack und wie ein Niemand behandelt zu werden. Das wertet es wieder auf.

post scriptum: Wer zwanzig Minuten Zeit hat, kann sich diese sehr treffende Verfilmung von "The Lottery" anschauen:
 

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