Freitag, 22. Dezember 2017

Advent, Advent, das Drecksgör brennt

Manchmal wünschte ich mir, das ganze Weihnachtsgedöns würde einfach in Flammen aufgehen...

"Heute aktualisiere ich endlich meine Bewerbung im pbOn!" Mit diesem Gedanken stehe ich aus dem Bett auf, denn bald ist ja schon die Hälfte meiner Zeit an der neuen Schule um. Und in den Ferien kommen häufiger Vertretungsgesuche zutage, also sollte ich dafür sorgen, dass jedermann mich anfordern kann. Ehrlich gesagt ist das ein grauenhafter Gedanke: Ich habe noch nicht einmal richtig angefangen, mich an die KGS zu gewöhnen, und dann soll ich schon wieder an eine andere Schule? Ich hasse dieses Scheiß-System.

Ich tapere in Zeitlupe in's Bad; gestern war die große Buba da, das war toll, und die Nacht war kurz. Aus dem Treppenhaus höre ich das Klappern der Briefschlitze der Nachbarn weiter unten, sieh' an, da kommt die Post, vielleicht ist ja auch etwas für mich dabei. Ich stehe im Bad, schaue meine Überreste im Spiegel an und tatsächlich klappert es in dem Moment auch bei mir. Ein Luftpolsterbrief landet auf meiner Fußmatte und ich bin mit einem Mal hellwach: Ist das etwa...?

Koffein gefrühstückt, Fenster geöffnet, etwas Sauerstoff tut sicherlich gut, und ich reiße den Briefumschlag auf. Tatsächlich: Obwohl sie erst ab dem Siebenundzwanzigsten ankommen sollte, hat sie es überraschenderweise jetzt schon aus Spanien zu mir geschafft, die Bluray mit der restaurierten Version von Metropolis. Ohne Zögern werfe ich den kompletten Tagesplan um, dieser Tag gehört diesem Film. Habe ich alles, was ich brauche?

"Nur noch schnell Tiefkühlpizza holen. Ach so, und Hustenstiller habe ich auch keine mehr, lieber besorgen, bevor ich über die Feiertage nichts da habe."

Es klingt nach einem schnellen Gang, allerdings sind es zwei unterschiedliche Ziele, Apotheke und Laden mit TK-Pizzen. Ich entscheide mich, in den Cittipark zu gehen. Da gibt es eine Apotheke, da finde ich etwas zu essen. Und, naja, vielleicht sehe ich ihn ja dort. Nachdem Er mir geschrieben hat, dass Er heute und morgen da arbeiten muss, sehe ich eine schöne Chance, ihm zufälligerweise über den Weg zu laufen. Einmal anstrahlen würde schon reichen, ich weiß, dass Er das auch mag.

Gewappnet gegen die Kälte marschiere ich los, es ist eine herrlich klare Luft, Sonne, ich atme beides ein, so reichlich ich kann. Kombiniert mit der Vorfreude, ihn vielleicht zu treffen, kann ich nicht anders, als extrem breit zu grinsen. Wie sagte Buddha noch gleich? "Lächle - und die Welt verändert sich", und recht hat er. Es fühlt sich toll an, die noch weiter gesteigerte Vorfreude darauf, endlich Fritz Langs SciFi-Epos mit knapp einer halben Stunde restaurierter Szenen zu sehen... ich gehe über den Bahnsteig, die Treppe hinauf, rechts abbiegen und geradeaus in das Einkaufszentrum, Grinsen weiter zementiert. Die automatische Schiebetür öffnet sich.

Wuff.

Es ist, als ob ich gegen eine unsichtbare Wand laufe. Mit einem Schlag überrollt mich die Luft aus dem Inneren, warm, stickig, nach Schweiß und Deo, nach Zimt und Kotze. Die Temperatur erhöht sich schlagartig um etwa achtunddreißig Grad Celsius. Wo eben noch klare, herrliche, übersichtliche Umgebung war, stehen nun Menschen. Tausende. Es müssen Millionen sein. Familien. Sie stehen einfach nur herum. Überall stehen Familien. Halluziniere ich ob der schlechten Luft, oder hat da tatsächlich gerade die kleine Schantalle-Mandragora dem Kähwien-Hasduball (nein, hab' ich nicht!) auf die Schuhe gekotzt?

Ich möchte stehen bleiben. Ich brauche einen Moment Ruhe. Orientierung. Gedankenzüge fahren in tausend Richtungen gleichzeitig. Ich atme tief durch, aber ich kann nicht stehenbleiben, da ich mit einer perpetuum-mobile-Masse von einkaufenden Familien verschmolzen bin. Ich werde gnadenlos weiter in das Einkaufszentrum geschoben, von kalter, klarer Luft ist nichts mehr zu spüren, nur die Sonne scheint durch die Dachfenster herein, ein Strahl erhellt meinen Weg gerade noch rechtzeitig, damit ich um die Kotze herumsteuern kann.

Ich ahne nicht, dass es im Moment noch halbwegs erträglich ist. Die puddingartigen Bewegungen der Menschenmasse befördern mich aus dem Verbindungskorridor in den Hauptteil des Einkaufszentrums. Ich erblinde fast, was allerdings nicht an der Sonne liegt, sondern daran, dass sie von zigmilliarden Christbaumkugeln reflektiert wird, die sich mit Grünzeug verbunden wie ekelhaftes Gewürm um alles schlängelt, was sich umschlängeln lässt. Das Einkaufszentrum ist zu einem Mekka der einkaufenden Familien geworden, kurz MedeF, wobei Moloch ein passenderer Name gewesen wäre. Und auf einmal stehe ich still.

In der Tat. Ich bin nicht mehr Teil der sich wie Soße ausbreitenden Menschen mit zuviel Geld auf dem Konto, ich stehe still. Allerdings nicht, weil etwa dafür genügend Platz wäre, nein, es sind überall Menschen. Das ist nicht übertrieben. Aber die Menschen, die nicht von einem Geschäft zum nächsten wabern, stehen an. Anstellschlangen in Ausmaßen, dass eine Naturdoku angebracht wäre. Ich weiß noch nicht einmal, wofür ich gerade anstehe, ich weiß nur, dass es noch lange dauern wird, bis ich es herausfinde. Da nützt es auch nichts, wenn man ein fast zwei Meter großer Mann ist, denn ich schaue lieber weiterhin auf den Fußboden, wohl ahnend, dass das erste Riff der Kotze nicht das letzte gewesen sein wird.

Apotheke, dröhnt es in meinen Ohren, und zu Citti, Pizza und vielleicht ist Er ja gerade dort. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass meine Chance sehr gering ist, in diesem Menschenauflauf eine bestimmte Person zu finden. "Wofür stehen sie hier an?" fragt mich eine ältere Dame von rechts und ich muss zugeben, dass ich immer noch keine Ahnung habe, allerdings finde ich es in genau diesem Moment heraus, denn ich fahre runter. In's Erdgeschoss. Wo noch mehr Kotze is'. Denn das war die Warteschlange für die Rolltreppen. Dort, Erlösung, ich sehe die Apotheke! Doch halt! Ich brauche Geld! Und zeitgleich schwant mir Übles - wie lange werde ich wohl am Geldautomaten warten müssen? Ich suche das Ende der Warteschlange schon gar nicht mehr am Automaten selbst, sondern schaue mich direkt im Umkreis von etwa einhundert Metern um. Ist das zu glauben? Ich finde nichts! Überall fließt der Menschenpudding weiter, nirgends steht jemand still. Ich vertraue auf meinen Orientierungssinn und kehre zurück zum Geldautomaten: Es ist kaum zu glauben, dort steht niemand an. Wahrscheinlich haben die einkaufenden Familien den heutigen Einkauf lange vorher geplant, um eine Chance auf Überleben zu haben, und dazu gehört natürlich auch, das Weihnachtsgeld und die letzten beiden Monatsgehälter in bar auszahlen zu lassen, damit man wenigstens ein kleines Geschenk für die Kinder kaufen kann.

Da also niemand noch mehr Geld vom Konto abheben musste (konnte?), erledige ich diesen Punkt rasant. Rasant, damit ich nicht meinen Kontostand sehen musste, denn rote Zahlen trifft es nicht so ganz, meine Kreditkarte schämt sich für mich und ich rede mir ein, wenn ich einfach nicht auf den Kontostand schaue, dann wird es schon nicht so schlimm sein.

Selbst in der Apotheke stehen die Familien Schlange, und das, obwohl sechs Apotheker gleichzeitig bedienen. Leute, was zur Hölle ist mit euch nicht in Ordnung? Warum müsst ihr gerade vor Weihnachten noch Medikamente einkaufen, als gäbe es danach keine mehr? Ich bin dabei, mich richtig aufzuregen über das dämliche Verhalten wohlsituierter Großstädter zur Einkaufszeit, da fällt mir ein, dass ich selbst gerade jetzt gerade hier stehe, auf der Suche nach Medikamenten. Schade, ich hatte mich gerade so schön aufgeregt. Da kann Buddha noch so viel labern, seitdem diese Schiebetür aufgegangen ist, befinde ich mich in einer Parallelwelt, in der ich gar nicht mehr ausgeglichen sein möchte.

Schnaufend begebe ich mich in das nächste Geschäft, Ziel: Tiefkühlpizza. In diesem Laden, Citti höchstpersönlich, gibt es ein interessantes Fließverhalten der Menschenmassen zu beobachten: In den Hauptgängen fließt alles dicht gedrängt, schwitzend, fluchend, geldausgebend wie überall - doch in den Seitengängen steht kein Mensch. Meine Erlösung! Und so lasse ich mich nach links aus dem Strom herausrempeln. Endlich durchatmen - und so atme ich tief ein, die ganze Schweiß-Deo-Kotze-Zimt-Mischung und überlege, zur Apotheke zurückzugehen und mir etwas gegen Übelkeit mitgeben zu lassen.

Indem ich von Seitengang zu Seitengang husche, bekomme ich schließlich meine Pizza, und zwar die ohne Tomatensoße, weil die herrlich abgestimmte Aromen hat - als mir das bewusst wird, geht ein seliges Lächeln über mein Gesicht, eine Sekunde Paradies in dieser Weinachtshölle. Wo sind die Kassen? Ich muss gar nicht suchen: Die einkaufenden Familien sind so sehr darauf fixiert, möglichst viel Geld auszugeben, um ihre Mistbälger für einen Abend ruhig zu stellen, dass sie alle aus einem Instinkt heraus die Kassen ansteuern, und so lasse ich mich von dem Strom treiben.

Auch vorbei an der Obst- und Gemüseabteilung und ich schaue nach rechts, denn ich weiß ja, dass Er da arbeitet. Sehe ich ihn irgendwo? Einen großen Mann mit Ohrlöchern, Tattoos und muskulösen Oberarmen, der verzweifelt-freundlich lächelt, um die Kunden abzufertigen, und dabei nichts lieber als einen ruhigen Tag mit seiner Freundin verbringen möchte. Ich schaue hin und her, mehrmals, aber kann ihn nicht entdecken. Anhalten ist nicht angesagt, da ich mich im Kassenstrom befinde - so wie das Wasser immer bergab fließt, so wabern die einkaufenden Familien zu den Kassen, und schließlich sind die Einkäufe erledigt.

Nur noch raus - aber das ist gar nicht so einfach in dem Gedränge. Immerhin muss ich an der Rolltreppe nach oben diesmal nicht anstehen, während die Gegenrichtung unter dem Gewicht der Massen den Geist aufgegeben hat und gerade vom technischen Dienst überprüft wird. Eingedenk meines Beinahe-Kotzeriff-Fiaskos gehe ich diesmal in einem großen Bogen um die widerliche Stelle, die inzwischen mit blauem Band vom Strom der Menschen abgetrennt ist. Und da höre ich fast schon das Zischen der automatischen Schiebetür (kann aber auch weiteres Halluzinieren sein). Ich fühle mich, als ob das Einkaufszentrum jetzt mich auskotzt - und kann endlich wieder die klare, kalte, frische Lust atmen, endlich wieder die Sonne genießen, endlich wieder einfach stehenbleiben. Was zur Hölle habe ich gerade durchgemacht???

Zweiundzwanzigster Dezember.

Egal welches Jahr, egal wo. Es wird sich nie ändern.

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