Samstag, 13. Juli 2019

Ein Spaziergang

Langsam kommt der Durchblick...

vorweg: Ich weiß, dass meine Eltern das hier lesen, und das ist auch gut so, und vielleicht kommt meine Mutter ja auf die Idee, diesen Beitrag einmal ihrer Schwester zu zeigen - denn heute sind wir alle involviert.

Ich gehe nicht gern zu Familienfesten. Das war schon immer so, aber erst seit wenigen Jahren sage ich das auch offen. Da sind zu viele Menschen, und wenn wir dann zum Essen alle an einem Tisch sitzen, und direkt links und rechts neben mir sitzt jemand und berührt mich, das mag ich nicht gern. Und alle reden durcheinander über alles Mögliche, ich habe also keinerlei Kontrolle über den Ablauf. Und eigentlich warte ich nur darauf, dass ich endlich wieder weg kann, und ich frage mich, warum ich eigentlich überhaupt gekommen bin.

Heute war das ein bisschen anders. Meine Oma ist fünfundneunzig geworden, und da ich keinen Job mehr habe, der mich kopftechnisch in Anspruch nimmt, habe ich die Gelegenheit genutzt und bin einmal Richtung Dithmarschen gefahren. Ich wollte unbedingt mit meiner Mutter über die Asperger-Thematik reden und hatte ein bisschen Angst, dass sie vielleicht nur "normale" Kinder haben wollte, und dass das ein wundes Thema sein könnte, oder dass sie enttäuscht ist - aber ich habe mich geirrt.

Unsere Familie hatte nie ein Talent für offene, aufgeschlossene Gespräche. Nie. Es musste immer alles normal sein, und über Abweichungen von der Norm sprach man nicht. Was sollen denn die Leute denken. Und nun endlich könnte ein Punkt erreicht sein, an dem wir dieses Verhalten in die Tonne treten, und deswegen bin ich heute sehr erleichtert nach Kiel zurückgefahren. Endlich kann meine Mutter problemlos erzählen, über jene lesbische entfernte Verwandte, oder über diesen latent schwulen Opa. Das sind keine Tabuthemen mehr, genausowenig wie Zigaretten, Tee und schwarze Outfits.

Ich bin gestern Abend ziemlich glücklich in's Bett gegangen, weil ich die Gewissheit hatte, dass meine Eltern immer hinter mir stehen, und wenn sie nach Kiel zu einem Elterngespräch mit dem Psychiater kommen sollen, dass sie das machen. Dieses Gefühl, dass ich nicht mehr normal sein muss. Denn unsere Familie hat einen Knall, von oben bis unten, und wenn man irgendwann erfährt, dass Dinge wie Autismus oder Hochbegabung vererbbar sind, dann fragt man sich natürlich: Woher kommt das? Ist meine Mutter auch so? War mein Opa auch so? Und auf einmal fühlt es sich etwas mehr OK an. Im Sinne der Transaktionsanalyse: Ich bin OK und du bist OK.

Das gestrige Gespräch mit meiner Mutter war also ein voller Erfolg. Und ein weiterer Grund, warum ich nun doch zu Omas Geburtstag gefahren bin, war Die Tante (DT). DT hat schon vor Jahrzehnten gemerkt, dass ich verhaltensauffällig bin. Und das wollte ich jetzt einmal mit ihr persönlich beprechen, und so meinte ich nach dem Essen zu DT "Hast du Lust, mal die Auffahrt rauf und runter zu geben?" und daraus wurde dann ein Spaziergang die Straße herunter.

Ich habe ganz direkt gefragt: "Seit wann war Dir bewusst, das ich verhaltensauffällig bin?" und dann hat sie mir meine Kindheit aufgedröselt in etwas, was wie das Asperger-Einmaleins klang. Vor der Waschmaschine sitzen, Menschen bei'm Wort nehmen, Wutausbrüche, wenn es nicht nach dem eigenen Kopf läuft und vieles mehr. Ich habe ihr dann von meinem Verdacht mit dem Asperger-Syndrom erzählt, und für sie war das völlig klar: Das würde passen. Sie hat in ihrer Zeit an der Gemeinschaftsschule viele Autisten und Aspis unterrichtet und dadurch einen Erfahrungsschatz, und so hat dieses Gespräch mir extrem gutgetan.

Das war ein wichtiger Spaziergang, denn endlich bricht langsam mal das Schweigen in der Familie auf, und am liebsten hätte ich noch angemerkt "Also, ich bin jetzt ein Fall für den Psychiater, und ich erwarte, dass ihr euren Freunden davon erzählt!" - Dinge offen auf den Tisch bringen, das ist nicht leicht, wenn man jahrzehntelang unter einem Mantel des Schweigens agiert hat. Wer den Film Hereditary (2018) gesehen hat, oder Caché (2005), der versteht das.

Wir machen kleine Schritte voran - aber wir machen sie. Ich bin ja fast froh, dass ich psychologisch etwas zu bieten habe, denn dann könnte meine Diagnostik-Zeit ein wunderbarer Stoff sein zum offenen Erzählen. Um das zu trainieren. Ich bin wirklich glücklich, dass ich das Bewusstsein habe, mich nicht mehr verstellen zu müssen, und dass ich OK bin und meine Eltern auch hinter einem autistischen Kind stehen werden.

post scriptum: Mama, ich habe die Zeit gestoppt - an diesem Beitrag habe ich exakt neunzehn Minuten und vierundzwanzig Sekunden gesessen. Das ging recht schnell, weil ich mir in der Meditation meinen Text vor dem geistigen Auge zurechtgelegt habe, Aufbau, Titel, Phrasen, die ich unterbringen wollte, und so konnte ich nach der Meditation diesen Text fix runterschreiben. So funktioniert das bei mir meistens ;-)

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