Dienstag, 31. Mai 2022

Unterricht zerfleddert


In dieser Phase des Schuljahres fällt es mir immer besonders schwer, den Überblick zu behalten, weil meine Gedanken sich in der Regel nur noch um die anstehende Arbeitslosigkeit drehen. So ist mir erst am Wochenende bewusst geworden, dass kaum noch Unterricht stattfinden wird: Nächstes Wochenende ist Pfingsten, in der Woche darauf ist bis auf Montag prüfungsfrei, und am Montag begleite ich wahrscheinlich eine Klasse auf einen Ausflug, und dann sind wir auch schon fast bei Projektwoche, Schulfest und letztem Schultag angekommen.

Also muss ich irgendwie noch Leistungsnachweise zusammenkratzen in diesen zerfledderten Unterrichtsstunden - so schreibt ein Kurs am Donnerstag seine vierte und am kommenden Dienstag seine fünfte Klassenarbeit. Manchmal geht es eben nicht anders, und ich sehe mich gerade nicht in der Lage, alternative Leistungsnachweise einzufordern.

Langsam kommt also das große Finale. Nächste Woche beende ich mit meinem Kurs in 9 die Arbeit an Lois Duncans Down a Dark Hall, das hat richtig Spaß gemacht und wir schauen uns an, ob die Romanverfilmung etwas taugt. Den Rest der Unterrichtszeit verbringe ich mit etwas, worüber ich hier im Blog nicht schreiben sollte. Es geht also langsam auf den (vorläufigen) Abschied zu.

Montag, 30. Mai 2022

Gefährliches Pflaster


Ich bin damals am Werner-Heisenberg-Gymnasium in Heide (Dithmarschen) zur Schule gegangen. Wenn das Wetter gut war, bin ich mit dem Fahrrad zur Schule gefahren, wenn es schlecht war, mit dem Bus. Linie 15 war das damals, Weddingstedt-Heide, alle zwei Stunden ein Bus. In Weddingstedt vor der Zahnarztpraxis eingestiegen, und für den Rückweg habe ich an der Bushaltestelle am Markt gewartet - es sei denn, der Unterricht war so zu Ende, dass ich besser mit der 14 oder 16 vom ZOB fahren konnte.

Diese Bushaltestelle ist berüchtigt. Gegenüber Wandmaker, so hieß der Laden damals, keine Ahnung, was da jetzt drin ist. Das war ganz praktisch, wenn ich warten musste, konnte ich mir bei Wandmaker noch einen Müsliriegel holen. Ich habe nicht gern am Buswartehäuschen gewartet, denn das war der Sammelplatz für Heider Obdachlose, mit viel Alkohol und dem Stress, den die Situation dann auch mal mit sich gebracht hat. Es ist öfters laut geworden.

Wandmaker gibt es zwar nicht mehr, aber das gefährliche Pflaster ist dort noch immer, nur gut fünfzig Meter verrutscht: Der Heider Südermarkt ist seit einer Weile offiziell zur "gefährlichen Zone" deklariert worden. Dort kommt es häufiger zu Schlägereien, allein in diesem Jahr sind bisher vierzig Anzeigen eingegangen. Und letzte Woche scheint dort ein junger Mann, zwanzig Jahre alt, an den Folgen einer Schlägerei verstorben zu sein.

Heide. Idylle auf dem Land.

Donnerstag, 26. Mai 2022

Kuh


best science fiction films 2021 rotten tomatoes

best psychological thrillers rotten tomatoes

best horror films 2022 rotten tomatoes

Das sind ganz klassische Suchanfragen, die ich Google stelle, wenn ich mir einen neuen Film anschauen möchte, und so war ich auch heute wieder auf der Suche. Da waren interessante Filme dabei, die ich noch nicht kannte (es ist sehr schade, dass man irgendwann die Besten alle kennt), über ein Attentat auf den amerikanischen Präsidenten, über einen afroamerikanischen Polizisten, der einen Mord in einer Kleinstadt aufklären soll und mit Rassismus konfrontiert wird, und dann fällt mir ein, dass mir ein anderer Film in den letzten Tagen häufiger untergekommen ist und dass ich heute eigentlich keinen Thriller brauche. Ich entscheide mich für ein anderes Genre - mit einem tollen Filmerlebnis.

Im Stil einer Dokumentation zeigt der Film Cow (2021) Szenen aus dem Leben einer Kuh - erfrischend unsentimental, einfach sachlich, fast komplett ohne Dialoge und es gibt keinerlei talking heads. Die subjektive Kamera zeigt uns das Leben einer Milchkuh. Wir sehen, wie sie kalbt. Zweimal. Wir sehen, wie sie frisst, hören, wie sie atmet. Das klingt unglaublich langweilig.

Aber es ist wie mit den Filmen Andrej Tarkovskys: Lange Szenen geben einen Denkimpuls und lassen uns als Zuschauer dann reichlich Zeit, ernsthaft philosophisch nachzudenken. Und so habe ich heute auch viel nachgedacht, während ich mir angeschaut habe, wie diese friedliche Kuh täglich zum Melken geführt wird, wie eine Maschine sie zur Seite klappt, damit ihre Hufe gefeilt werden können, wie sie mit einem Zuchtbullen zusammengebracht wird, wie sie Milch gibt, frisst, und irgendwann schleicht sich dieser Gedanke ein:

Wir holen uns also nüchtern nach Zyklen berechnet aus dieser Kuh (mit dem Namen Luma) möglichst viele Kälber heraus (sechs). Wir pumpen aus ihr so viel Milch heraus wie möglich. Jeden Tag. Und jedes Jahr ein neues Kalb. Das Ende ist natürlich erwartbar, Luma hat inzwischen ein riesiges Euter, sie kann kaum noch geradeaus gehen, also führt der Bauer sie in eine Scheune, gibt ihr einen Eimer mit Kraftfutter, verschwindet kurz, kommt mit Kopfhörern wieder und erschießt die Kuh, die - unsentimental - umfällt und ihr Leben aushaucht. Und ich frage mich, wie wir eigentlich mit Tieren umgehen.

Ein ganz großartiger Film, gerade weil kein Kitsch dabei ist, keine romantische Verklärung der fröhlichen Milchkuh auf der grünen Weide, sondern cinéma vérité - beobachten und zum ernsthaften Nachdenken anregen.

Das schafft kaum ein Thriller.

Mittwoch, 25. Mai 2022

And... again.

Symbolbild, Oxford hat nix damit zu tun

"He shot and killed, horrifically, incomprehensibly..." (Greg Abbott, Texas' Governor)

Ich würde ja schreiben "Es geht schon wieder los", aber passender wäre wohl "Es hört einfach nicht auf." - ein Achtzehnjähriger hat an der Robb Elementary School in Uvalde, Texas mindestens neunzehn SchülerInnen und zwei Erwachsene erschossen. Die Waffe hat er sich kurz zuvor gekauft, direkt nach seinem achtzehnten Geburtstag.

Jetzt wird es in den USA ablaufen, wie es immer abläuft in diesem Zweiparteienland mit seiner gun lobby: Die Demokraten werden laut nach strengeren Waffengesetzen schreien, die Republikaner werden zurückschreien, dass jetzt nicht der Zeitpunkt sei, um über gun control zu reden, jetzt müsse man erstmal trauern. Und es wird nichts passieren - da können Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris noch so fassungslos sein und Beflaggung auf Halbmast für den Rest der Woche anordnen. Sie kommen nicht gegen die einflussreiche Waffenlobby an, in einem Land, das die Wörterbuchdefinition von trigger happy darstellt.

Das muss man sich mal vorstellen. Diese GrundschülerInnen haben überhaupt nichts verbrochen, und jemand kommt und erschießt sie nacheinander mit zwei assault rifles (Sturmgewehren). Und dann soll mir nochmal irgendjemand erzählen, die Szene in Gus Van Sants Elephant (2003) sei unrealistisch: An einem ganz normalen Schulvormittag, an dem jeder seinen Tätigkeiten in einer High School nachgeht, betreten zwei Schüler das Gebäude und erschießen systematisch Mitschüler und Lehrer. Emotionslose Darstellung, unsentimental, ohne Glamor, ohne Erklärung.

"incomprehensibly" sagt Greg Abbott - unverständlich, nicht nachvollziehbar sei diese Tat gewesen. Unverständlich? Unbegreiflich?? Was erwartet ihr denn, wenn in eurem Land jeder volljährige Einwohner Zugriff auf eine oder mehrere Waffen haben kann? 

You're fucking kidding me. 

This will never stop.

post scriptum: Hier gibt es eine knapp dreiminütige, sehr emotionale Rede von Steve Kerr, Basketballcoach, vor einem anstehenden Spiel, in der er sich über die Bedeutungslosigkeit der Schweigeminuten und die Machtlosigkeit angesichts des Senats aufbringt:

Hier geht's zum Video der Ansprache

Montag, 23. Mai 2022

Have your cake... and eat it!


Oh mann.

Das war mal echter Horror - so schlecht, dass es wehgetan hat. Und dieser Schrott hat haufenweise Nominierungen für Preise erhalten, darunter Golden Globe und Emmy-Awards. Jetzt werde ich einen Beitrag schreiben, in dem ich fürchterlich arrogant klingen werde, wenn man zwischen meine Zeilen etwas hineinliest. Aber wer mich kennt, weiß, dass ich einfach nur Fakten aufliste.

Es ist ein Irrglaube, wenn man denkt, nur weil eine TV-Serie viele Staffeln hat, weil einige Gaststars dort auftreten, weil sie Publikumspreise bekommen hat, weil sie in der IMDb eine sehr gute Wertung halten hat, dass das dann tatsächlich eine gute Show ist. Es ist mal wieder ein Fall von unterschiedlicher Wahrnehmung: Das Publikum liebt es, die Kritiken verreißen es.

Zumindest teilweise: Viele bemühen sich, der Serie American Horror Story Gutes abzugewinnen. Gibt es auch: Etwa Eins Komma Drei gute Szenen in jeder Folge und Jessica Lange spielt mit. Eine der großen Schauspielerinnen, die sich trotz der Triple Crown of Acting nicht zu schade dafür sind, sich dem Schrott hinzugeben. Helen Mirren ist auch so eine. Ich akzeptiere das.

Und ich glaube, wenn man mit dem Bewusstsein herangeht, dass es eine Serie von inkompetenten Machern ist, dann kann man da auch viel Spaß haben; wenn man einfach nicht zu viel erwartet. Da fällt das alles gar nicht auf: Grottenschlechte Schauspieler, tonnenweise acting out of character, plot holes, fehlende Anschlüsse, Kameraführung ohne Konzept, Sinn und Verstand, infantile Dialoge, negativ-dimensionale Charaktere, die ohne Vorwarnung zwischen verschiedenen Persönlichkeiten hin und her springen (und dafür gibt es leider keine plotbedingte Erklärung), male gaze, dass es einem zu den Ohren herauskommt, Homophobie und natürlich auch eine Frau mit dem Down-Syndrom, die "tragisch" in der Mitte der Serie stirbt, nachdem sie eine Barrikade von "Mongo-Sprüchen" abbekommen hat. 

Wenn man tatsächlich die ganze erste Staffel (Murder House) durchgeschaut hat, ergibt am Ende alles irgendwie Sinn, und die vorletzte Szene ist auch gut. Blöd nur, dass der schöne Eindruck durch die letzte Szene kaputt gemacht wird - als hätten die Macher das Gefühl, sie müssten immer noch einen obendrauf setzen, völlig egal, ob die Drehbuchlogik das überhaupt hergibt.

Unheimlich ist das ganze an keiner Stelle. Das ist kein Horror, das ist Trash-Comedy. Sicherlich hat auch das Genre seine Berechtigung, aber ich habe gemerkt, dass ich das nicht aushalte. Ich habe eine Aufmerksamkeitsspanne von mehr als drei Sekunden, und deswegen fällt mir jede noch so kleine Ungereimtheit auf, und ich kann nicht einfach drüber hinweglächeln und Spaß haben. Ich habe mehrfach überlegt, das Ganze abzubrechen - aber sowas mache ich nicht. Ich habe Geld für die gesamte Staffel ausgegeben, also schaue ich sie mir auch bis zum Ende an. Have your cake... and eat it! 

Hier ist mir meine Intelligenz im Weg. Ich bin völlig unfähig, so etwas zu genießen. Ich habe mittlerweile so viele von Roger Eberts Filmrezensionen gelesen, dass ich zu dem Schluss komme, er könnte auch ein Aspi gewesen sein. 

*kurze Recherche* 

OMG! Ich lese, dass Ebert tatsächlich auch ein Aspi war - da fällt mir alles wie Schuppen von den Augen - warum er so viel Gutes in Filmen sehen konnte (wie zum Beispiel in The Cell (2000) oder Stay (2005), die von den meisten anderen Kritikern komplett verrissen wurden), warum er mit Dummheit überhaupt nicht klargekommen ist, warum so viele ihn gehasst haben, warum ich seine Rezensionen liebe.

Das macht jetzt alles einen Sinn.

Ich sollte American Horror Story dankbar sein.

post scriptum: Ich brauche dringend ein Antidot, ein Gegengift gegen diese stupide Unterhaltung, Zeitverschwendung, wie auch immer man es nennen will. Also schaue ich mir nochmal "The Haunting of Hill House" an - um wieder zu erleben, was eine wirklich gute Haunted House-Serie ist.

paulo post scriptum: Ohklott, das klingt jetzt alles so bösartig! War aber nicht so gemeint. Es ging mir nur darum: Ich kann mein Gehirn nicht abschalten, und ich kann den Fehler-Geigerzähler nicht abschalten. Ich *kann* so eine Serie nicht genießen, und ehrlich gesagt beneide ich die Zuschauer, die das schauen und einen Mordsspaß haben...

Freitag, 20. Mai 2022

Die Korrekturen


Ich habe vor einer Weile hier im Blog geschrieben, dass meine Schule ganz besondere Vibes habe, die mich an SPO erinnern. Das ist falsch. Die Toni hat keine SPO-Vibes.

Und trotzdem unterrichte ich dort von Herzen gern.

post scriptum: So, endlich sind alle Abschluss-Prüfungs-Angelegenheiten durch, jetzt stehen neun freie Tage bevor. Zeit zum Aufräumen.

Und sorry an alle, die bei dem Beitragstitel vielleicht an Jonathan Franzen dachten, oder an Klausuren. Hat nix damit zu tun.

Mittwoch, 18. Mai 2022

Projektwoche


vorweg: Eine Woche Nachdenken. Das muss reichen. Gedankliche Klarheit hergestellt.

Wir beenden das Schuljahr mit einer Projektwoche zum Thema Vielfalt. Ich muss zugeben, ich liebe es, mir ein Projekt auszudenken, an dem ich dann mit Schülern arbeiten kann. Vor Jahren hatte ich mal Rollenspiele selbstgemacht angeboten, dabei mit den Schülern am ersten Tag Das Schwimmbad gespielt und ihnen dann Tipps an die Hand gegeben, wie sie solche Spiele selbst entwerfen können, und am letzten Tag haben wir die Spiele der Schüler ausprobiert. Ein Aspi war in der Gruppe - die vier Schüler aus dem elften Jahrgang fanden ihn zu anstrengend und sind nach dem zweiten Tag nicht wiedergekommen. Scheint einfach menschlich zu sein, dass neurotypische Menschen sich vom Verhalten eines Asperger-Autisten genervt fühlen. Da hilft auch keine Aufklärung. Dabei ist ja gerade die Behinderung etwas, was eine Schule vielfältig macht, und das spielt dann auch in mein Projekt in diesem Jahr hinein:

Vielfalt im Film - im Wandel der Zeit

"Der amerikanische Hays-Code hat von 1930 bis 1967 Hollywoodfilmen die Darstellung bestimmter gewalttätiger, sexueller und politischer Verhaltensweisen verboten. Darunter fielen nicht nur längere Kuss-, Sex- oder Gewaltszenen sowie Vulgarität, sondern auch Filme, in denen gesellschaftliche Vielfalt als Norm oder als Ziel gezeigt wird. Sexuelle und kulturelle Vielfalt waren damit von den Leinwänden verschwunden.

Man könnte nun leicht denken, dass alte Filme prüder sind und dass heutzutage viel mehr Vielfalt auf der Leinwand präsentiert wird – aber ist das wirklich so? In diesem Projekt wollen wir uns zunächst zwei Filme anschauen, die sich mit den Themen Vielfalt und gesellschaftliche Ausgrenzung beschäftigen, zwischen denen aber fast ein Jahrhundert liegt. Wir werden lernen, wie man einen Film auf die Darstellung von Vielfalt hin analysiert. Danach soll jeder Projektteilnehmer einen Film (verteilt über einen möglichst großen Veröffentlichungszeitraum) wählen und ihn selbst analysieren.

Am letzten Projekttag werden wir uns unsere Filme gegenseitig vorstellen, den anderen erklären, ob Vielfalt gezeigt wird, welche Meinung der Film zu dem Thema hat und schließlich anhand einer Timeline veranschaulichen, ob sich die Zeiten für Kinofilme geändert haben oder ob es auch nach Abschaffung des Hays-Code immer noch Gründe für Filmemacher gibt, unsere Gesellschaft nicht als vielfältig darzustellen."

Die beiden Filme, die wir uns anschauen werden, tragen beide den Titel Freaks, einmal von 1932 (also pre-Code) und einmal von 2018. Ich bin gespannt, was sich daraus für Gespräche ergeben werden; gerade der ältere Film hat damals Entsetzen ausgelöst. Das wird er heute nicht mehr tun, aber er bleibt noch immer ein provokatives Stück über die Frage "Wie verhalte ich mich einem behinderten Menschen gegenüber?"

Das ist natürlich nur eine Form der Vielfalt. Wir werden uns im Bereich LGBTQ umschauen, auf kulturelle Diversität in den Casts achten, und ohne den Bechdel-Test geht mir kein Schüler nach Hause. Und vielleicht finden wir heraus, wie sich die Filmlandschaft in den vergangenen einhundert Jahren verändert hat.

Ich freue mich riesig darauf!

Mittwoch, 11. Mai 2022

Protokolle


Endlich kann ich mit dem Kopf aus den Abschlussprüfungen rauskommen. Das hat mich alles sehr interessiert - eigentlich vollkommen in Ordnung, ich habe mich komplett darauf konzentriert, aber für einen Aspi bedeutet das, das alles Andere liegen geblieben ist. 

Ich habe mit meinen Schülern mitgefiebert, ich habe mir über das Wochenende den Kopf zerbrochen, ob sie es wohl in den sprachpraktischen Prüfungen packen. Ob sie bestehen. Ob ich vielleicht der Nagel bin, an dem ihr Schulabschluss hängt. Ich bin meiner Zweitkorrektorin so dankbar, dass sie extrem schnell mit den Arbeiten fertig geworden ist, so dass ich gestern und heute fast alles eintüten konnte. Fast, weil eine mündliche Prüfung noch nachgeholt werden muss.

In allen anderen Fällen habe ich den riesigen Papierberg sortiert, zugeordnet und unterschrieben - Prüfprotokolle der mündlichen Prüfung, Bewertungsbögen, Bewertungsbögen der schriftlichen Prüfung und Protokolle für die Stufenleitung. Das Ministerium war diesmal leider nicht so nett, zusammen mit den Prüfungsaufgaben auch die Protokolle zu schicken, also habe ich die vom letzten Jahr wiederverwertet. Sowas kann einen Autisten extrem unruhig machen - denn oben auf dem Protokoll steht jetzt ganz klein "MSA 2021", und das ist natürlich falsch. Klar, der Bogen ist dann mit den richtigen Daten ausgefüllt und unterschrieben, aber dieser Widerspruch stört. Typisch Aspi: Fehler-Geigerzähler.

Bleibt unter'm Strich: MSA ist durch, und jetzt brauche ich einen Platz in der Psychiatrie (irgendwie klingt das witzig).

Montag, 9. Mai 2022

Einen Moment innehalten


Ellerbeker Markt
. Ich gehe den Weg von meinem Einkauf (Em Eukal-Bonbons mit Granatapfel-Honig-Geschmack) Richtung Parkplatz zurück. Vor dem Gymnasium Wellingdorf steht eine Horde Schüler an der Bushaltestelle, und ich überlege, ob ich einfach hindurchgehen soll, oder lieber etwas langsamer, bis ein Bus mich überholt und die Kinder vom Gehweg wegsammelt. Ich entscheide mich, langsamer zu gehen; die Sonne scheint, es ist draußen sehr angenehm, und ich gehe auf eine Drossel zu meiner Rechten zu, die auf dem Rasen am Fuß eines Baums herumhopst und irgendwas im Gras entdeckt zu haben scheint.

Sie pickt mehrfach in den Boden, und dann sehe ich, dass sie einen Regenwurm erwischt hat. Sie versucht ihn aus dem Boden zu ziehen, aber das ist gar nicht so einfach; sie kommt nur stückchenweise voran und braucht mehrere Versuche. Ich bleibe stehen, wende mich ihr zu und beobachte ihre Aufgabe gespannt. Ich muss schmunzeln und sage ihr, dass sie sich anstrengen soll, und sie kommt tatsächlich mit jedem Versuch etwas weiter, aber der Regenwurm ist lang und steckt zur Hälfte im Boden fest. Immer wieder hackt sie auf ihn ein und zerrt ihn etwas weiter aus dem Boden.

Ich freue mich für jeden kleinen Fortschritt, den dieser Vogel da unten macht. Irgendwie ist das ein schöner Moment, und plötzlich höre ich eine Frauenstimme irgendwo rechts neben mir: "Ich habe mir schon gedacht, dass sie anhalten und der Drossel zuschauen würden." Eine Fahrradfahrerin, vielleicht Mitte fünfzig, steigt ab und schiebt ihr Rad an mich heran. "So wie sie zum Vogel geschaut haben und dann langsamer gegangen sind. Ich hab' mir gedacht, der bleibt bestimmt stehen. Sie sind also einer dieser Menschen, die so einen schönen, kleinen, unauffälligen Moment zu genießen wissen. Ich finde das toll. Das kann nicht jeder Mensch."

Ich hasse es, von unbekannten Menschen angesprochen zu werden, weil ich Angst habe, dass irgendwas schief geht. Heute nicht - denn diese Frau hat Recht mit jedem Wort, das sie gesagt hat, also drehe ich mich lächeln zu ihr: "Ja, ich finde, wir leben in einer so hektischen Welt, und so viele Menschen suchen ihr Glück irgendwo anders und können nicht sehen, dass es so schöne Momente direkt vor ihrer Nase geben kann. Irgendwie sind alle in Eile, jeder muss irgendwo hin, so wenige Menschen können einfach mal da sein. Ich habe auch irgendwie das Gefühl, dass wir erst mit dem Älterwerden irgendwann lernen, das zu sehen, was um uns herum passiert."

"Sehen sie, und solche Momente wertschätzen, das können oft nur ganz besondere Menschen", sagt sie zu mir. "Menschen, die etwas in ihrem Leben durchgemacht haben, was sie bremst. Vor meiner Krebserkrankung bin ich an solchen Situationen auch zu schnell vorbeigegangen, und erst dadurch habe ich gelernt, mal anzuhalten."

Und so sprechen wir ein paar Minuten auf einer Wellenlänge - ich und diese Frau, die ich noch nie gesehen habe, deren Namen ich nicht kenne und die ich vielleicht auch nie wiedersehen werde. In dem Moment ist es mir plötzlich überhaupt nicht mehr wichtig, schnell zum Auto und zurück nach Hause zu kommen. Der Drossel-Moment hält eine Weile an, und schließlich bedanke ich mich bei der Frau für diesen tollen Moment und sage ihr, dass ich den jetzt mit nach Hause und in's Wochenende nehmen werde. Sie wird das auch tun, sagt sie, und tatsächlich sehe ich diesen Moment vor meinem geistigen Auge immer noch so, als wäre er gerade eben passiert.

Nicht nur im Buddhismus trainiert man die Fähigkeit, mal einen Moment innezuhalten, um die Welt um sich herum wahrzunehmen, und das ist eine tolle Fähigkeit: So oft suchen wir unser Glück in der Ferne und släsch oder in der Zukunft und übersehen, dass wir es jetzt und hier direkt bei uns haben können, auch wenn wir uns gerade vielleicht in einer schwierigen Situation befinden.

Unerwartet in Wellingdorf - ein kleiner Moment Ruhe.

Freitag, 6. Mai 2022

Abschlussprüfung


"Liebe Leute, das muss ich jetzt kurz noch loswerden. Das ist für mich das erste Mal, dass ich auf der anderen Seite des Lehrerpultes sitze, und in den letzten Tagen habe ich immer wieder daran denken müssen, wie ich mich in meinen Abschlussprüfungen gefühlt hab'. Abitur, erstes Staatsexamen, zweites Staatsexamen, und ich war immer panisch und aufgeregt, und ich sehe bei einem oder zweien von euch die Aufregung gerade auch im Gesicht. Und ich wünschte, ich könnte irgendwas dagegen machen. Und am schlimmsten fand ich immer die Stille: Es ist so ruhig während der Klausur, und mein Magen hat dann immer komische Geräusche gemacht, weil ich nichts gegessen hatte und mein Kopf nicht so ganz versteht, was Hunger ist. Also wenn mein Bauch heute auch wieder vor sich her rumpelt oder so, dann grinst ihr einfach eine Runde und schmunzelt über euren komischen Englischlehrer. So, und jetzt bitte alle mal aufstehen..."

Den Rest erspare ich Euch, aber so ein bisschen Ritual vor der Prüfung muss sein, und wer mich in den Saturnalien erlebt hat, kennt das leider zur Genüge. 

Aber es bleibt dabei: Es ist ein seltsames Gefühl, nicht mehr die Person auf dem Prüfstand zu sein. Klar, ich habe immer noch keine feste Stelle und werde so schnell auch keine finden, und damit auch keine Lehrproben in absehbarer Zeit haben, die dafür nötig sein könnten. Ich bin bald wieder arbeitslos, aber trotzdem fühle ich mich angekommen auf der Lehrerseite, und so sehr ich versuche, mich in die Gefühle der Prüflinge zu diesem Zeitpunkt hineinzuversetzen, so merke ich doch, dass das Erleben langsam von mir wegdriftet. Ich sitze da vorne und mache meine Logikrätsel während der Aufsicht, als wäre es eine ganz normale Klassenarbeit. Zwar mit Protokoll und Gedöns, und ich fühle mich wie die Mutter Henne und somit ein bisschen "mitaufgeregt", aber es ist anders. Ich muss nichts mehr so klassisch beweisen. 

Und so sitze ich nun über den Korrekturen und mache die Erfahrungen, die viele von Euch schon seit Jahren in den Abschlussprüfungen machen: Ich habe Klaus so oft gesagt, er soll Punkte zwischen den Sätzen machen und was liefert er ab? Eine Stream of Consciousness-Mail über Roboter an der Schule. Ich habe Christian gesagt, er solle lieber die Prüfung streichen, und er hat stattdessen ein anderes Fach gestrichen und jetzt kommt für mich die große Punkteklauberei. Und natürlich hat Telse eine ganz fantastische Arbeit abgeliefert, besser noch als alle bisherigen Klassenarbeiten, und das bringt mich zum Strahlen. Und natürlich bekomme ich Angst vor den Sprechprüfungen von Marthe und Delf, denen ich möglicherweise jedes einzelne Wort aus der Nase werde ziehen müssen. Und das alles ist fiktiv, denn ich habe die Arbeiten nur überflogen. Das ist mein Autorenhirn, was da spricht.

Es ist das erste Mal als Erstprüfer, aber durch die vielen Jahre als Zweitprüfer und -korrektor, und durch viele Geschichten, die mir Freunde und Kollegen erzählt haben, kommt es mir bei den Korrekturen so vor, als täte ich das schon seit Ewigkeiten. Und trotzdem fühlt sich eine Sache immer ganz unangenehm an: Wenn man weiß, dass das Bestehen oder Scheitern des Schulabschlusses nur von der Abschlussarbeit im eigenen Fach abhängt und man damit über die Zukunft eines Prüflings entscheiden muss. 

Das wird wohl auch noch längere Zeit an die Substanz gehen.

post scriptum: Liebe Eltern, ich rufe morgen an!

Mittwoch, 4. Mai 2022

Die letzte Stunde


Aufregend - heute hatte ich wieder ein Erstes Mal: Die letzte Doppelstunde Englisch vor einer Abschlussprüfung. Was macht man da? Ganz normal Unterricht durchziehen? Weiter im Schulbuch? Noch mehr Übungsaufgaben? Wir haben die letzten vier Monate ausschließlich mit Prüfungs-Aufgabenformaten verbracht, das sollte den Schülern mittlerweile zu den Ohren herauskommen.

Freitag ist die schriftliche Prüfung, Montag die sprachpraktische. Also haben wir heute einmal eine komplette sprachpraktische Prüfung vor versammelter Klasse durchgeführt. Warum zeigt mir dieses Blogprogramm "sprachpraktisch" als falsch an? Whatever. Das ist aufregend! Auf diese Weise konnte ich einmal in real time durchspielen, was ich da mit dem Kollegen am Montag herunterbreche.

Was soll man seinen Schülern mitgeben? Ich habe mich gefühlt wie eine besorgte Mutter, und damit liebe Grüße an meine Eltern:

"Denkt daran, euch etwas zu essen und trinken mitzubringen. Ich werde auch eine Kleinigkeit für euch dabei haben. Nehmt mehrere Stifte mit, falls einer kaputt ist. Nehmt Euch einen Glücksbringer mit. Habt ihr noch irgendwelche Fragen? Irgendwas, das unklar ist?"

Ich möchte sie am liebsten mit Fürsorge ersticken, so fühlt sich das an. Die Mutterhenne, die ihre Küken zum ersten Mal über den Hof führt; soviel zum Thema "sich nicht so viele Sorgen um andere machen". Mache ich auch nicht. Aber ich möchte das gute Gewissen haben, dass ich genug für sie getan habe, und dass sie jetzt auf sich allein gestellt in die Prüfung gehen können.

Mutig voran!

Dienstag, 3. Mai 2022

Bitte kein Lob!


"Dr Hilarius, sie haben einen Fanclub hier an der Schule."

"Aber ob das so sinnvoll ist, wenn ich vielleicht nicht an der Schule bleiben kann?"

Ich kann Lob und Komplimente nicht einfach stehen lassen - ich kann damit nicht umgehen, und wenn ich dann mal gelobt werde, versuche ich fast schon krampfhaft, das gleich zu relativieren. Das könnte eine Aspi-Sache sein (kam in der Literatur vor), aber vielleicht geht es Euch neurotypischen Menschen ja auch so? 

Ich mag kein Lob. Wie soll ich darauf reagieren? Warum bekomme ich ein Lob, wenn ich eine Sache richtig gemacht habe und nichts Besonderes dabei war? Ich muss das gleich niedermachen:

"Dr Hilarius, wir wollen sie wieder als Lehrer haben."

"Naja, so toll ist mein Unterricht wirklich nicht, es gibt so Vieles, was die anderen Kollegen besser können. Da lernt ihr wahrscheinlich deutlich mehr."

Gerade wenn es ein allgemeines Kompliment ist, bin ich direkt verwirrt: Wofür denn jetzt? Was habe ich getan? Ich kann mich nicht erinnern, irgendwas Lobenswertes vollbracht zu haben. Ich bin einfach nur ein kleiner Englischlehrer, ohne Funktionsstelle in der Schule, ich möchte Buletten, und nicht herausragen! (die Sannitanic versteht das)

Habt Ihr einen Tipp, wie ich auf sowas reagieren soll? 

Sonntag, 1. Mai 2022

Kulinarische Extravaganz oder Post-Aprilscherz?


Hin und wieder bringt eine deutsche Convenience-Food-Firma neue Sorten von Tiefkühlpizzas heraus, die ich erstmal nicht ernstgenommen habe - dann probiert und teilweise sogar richtig gut fand (Pizzaburger, Pizza Pasta) oder von denen mir zumindest nicht übel geworden ist (Schokopizza). Das neueste Experiment konnte aber einfach nicht gutgehen: Eine Pizza, belegt mit Fischstäbchen.

Das fällt in der Tiefkühltruhe allein schon dadurch auf, dass die Packung fast doppelt so dick ist wie die anderen TK-Pizzen, und der Inhalt etwa fünfzig Prozent schwerer. Der Name Pizza Bastoncini di Pesce hat mich zuerst an an eine Kampfbastion denken lassen, angesichts der Attacke an Fischeiweiß ist das gar nicht so weit hergeholt. Und wie soll das überhaupt logistisch gehen, dass eine TK-Pizza, die nach etwa zehn Ofenminuten durch ist, gleichzeitig essbar sein soll wie Fischstäbchen, die gewöhnlich fünfundzwanzig Minuten brauchen?

Etwa zweiundzwanzig Minuten soll dieses Werk, das an Picasso erinnert (zufällige Anordnung von essbaren Gegenständen?), im Ofen bleiben. Das alles klang so weit jenseits der Norm, vor allem wenn man bedenkt, dass das ganze als Mem auf Twitter gestartet ist. Das kann doch einfach nicht deren Ernst sein, oder Detlef. Eine halbe Stunde später steht dieses Monster vor mir - und ich habe es verschlungen.

Geschmacklich ist es eher undefinierbar, deswegen habe ich noch Zitronensaft auf die Fischstäbchen geträufelt; ansonsten finden sich auf der Pizza Spinat, Tomatensoße und Käse. Die Konsistenz ist allerdings ein interessantes Erlebnis - erst in ein (ansatzweise knusprig-)weiches Fischstäbchen zu beißen und dann auf den krossen Pizzaboden zu stoßen. 

Auch wenn ich glaube, dass es bei einer wirklich begrenzten Edition bleibt (wobei - die Pizza Pasta sollte das ursprünglich auch sein, und es gibt sie noch über zehn Jahre später), werde ich die Pizza demnächst wohl noch einmal probieren. Einfach, um mich zu versichern, dass ich das Ganze nicht geträumt habe.

Fehlt eigentlich nur noch: Pizza Kotelett-Sahnetorte, garniert mit Klosteinen und Radiergummibröseln. Guten Appetit!

post scriptum: Nächste Woche wird spannend. Keep your fingers crossed (und auch gern die toes)!