"Liebe Leute, das muss ich jetzt kurz noch loswerden. Das ist für mich das erste Mal, dass ich auf der anderen Seite des Lehrerpultes sitze, und in den letzten Tagen habe ich immer wieder daran denken müssen, wie ich mich in meinen Abschlussprüfungen gefühlt hab'. Abitur, erstes Staatsexamen, zweites Staatsexamen, und ich war immer panisch und aufgeregt, und ich sehe bei einem oder zweien von euch die Aufregung gerade auch im Gesicht. Und ich wünschte, ich könnte irgendwas dagegen machen. Und am schlimmsten fand ich immer die Stille: Es ist so ruhig während der Klausur, und mein Magen hat dann immer komische Geräusche gemacht, weil ich nichts gegessen hatte und mein Kopf nicht so ganz versteht, was Hunger ist. Also wenn mein Bauch heute auch wieder vor sich her rumpelt oder so, dann grinst ihr einfach eine Runde und schmunzelt über euren komischen Englischlehrer. So, und jetzt bitte alle mal aufstehen..."
Den Rest erspare ich Euch, aber so ein bisschen Ritual vor der Prüfung muss sein, und wer mich in den Saturnalien erlebt hat, kennt das leider zur Genüge.
Aber es bleibt dabei: Es ist ein seltsames Gefühl, nicht mehr die Person auf dem Prüfstand zu sein. Klar, ich habe immer noch keine feste Stelle und werde so schnell auch keine finden, und damit auch keine Lehrproben in absehbarer Zeit haben, die dafür nötig sein könnten. Ich bin bald wieder arbeitslos, aber trotzdem fühle ich mich angekommen auf der Lehrerseite, und so sehr ich versuche, mich in die Gefühle der Prüflinge zu diesem Zeitpunkt hineinzuversetzen, so merke ich doch, dass das Erleben langsam von mir wegdriftet. Ich sitze da vorne und mache meine Logikrätsel während der Aufsicht, als wäre es eine ganz normale Klassenarbeit. Zwar mit Protokoll und Gedöns, und ich fühle mich wie die Mutter Henne und somit ein bisschen "mitaufgeregt", aber es ist anders. Ich muss nichts mehr so klassisch beweisen.
Und so sitze ich nun über den Korrekturen und mache die Erfahrungen, die viele von Euch schon seit Jahren in den Abschlussprüfungen machen: Ich habe Klaus so oft gesagt, er soll Punkte zwischen den Sätzen machen und was liefert er ab? Eine Stream of Consciousness-Mail über Roboter an der Schule. Ich habe Christian gesagt, er solle lieber die Prüfung streichen, und er hat stattdessen ein anderes Fach gestrichen und jetzt kommt für mich die große Punkteklauberei. Und natürlich hat Telse eine ganz fantastische Arbeit abgeliefert, besser noch als alle bisherigen Klassenarbeiten, und das bringt mich zum Strahlen. Und natürlich bekomme ich Angst vor den Sprechprüfungen von Marthe und Delf, denen ich möglicherweise jedes einzelne Wort aus der Nase werde ziehen müssen. Und das alles ist fiktiv, denn ich habe die Arbeiten nur überflogen. Das ist mein Autorenhirn, was da spricht.
Es ist das erste Mal als Erstprüfer, aber durch die vielen Jahre als Zweitprüfer und -korrektor, und durch viele Geschichten, die mir Freunde und Kollegen erzählt haben, kommt es mir bei den Korrekturen so vor, als täte ich das schon seit Ewigkeiten. Und trotzdem fühlt sich eine Sache immer ganz unangenehm an: Wenn man weiß, dass das Bestehen oder Scheitern des Schulabschlusses nur von der Abschlussarbeit im eigenen Fach abhängt und man damit über die Zukunft eines Prüflings entscheiden muss.
Das wird wohl auch noch längere Zeit an die Substanz gehen.
post scriptum: Liebe Eltern, ich rufe morgen an!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen