Montag, 9. Mai 2022

Einen Moment innehalten


Ellerbeker Markt
. Ich gehe den Weg von meinem Einkauf (Em Eukal-Bonbons mit Granatapfel-Honig-Geschmack) Richtung Parkplatz zurück. Vor dem Gymnasium Wellingdorf steht eine Horde Schüler an der Bushaltestelle, und ich überlege, ob ich einfach hindurchgehen soll, oder lieber etwas langsamer, bis ein Bus mich überholt und die Kinder vom Gehweg wegsammelt. Ich entscheide mich, langsamer zu gehen; die Sonne scheint, es ist draußen sehr angenehm, und ich gehe auf eine Drossel zu meiner Rechten zu, die auf dem Rasen am Fuß eines Baums herumhopst und irgendwas im Gras entdeckt zu haben scheint.

Sie pickt mehrfach in den Boden, und dann sehe ich, dass sie einen Regenwurm erwischt hat. Sie versucht ihn aus dem Boden zu ziehen, aber das ist gar nicht so einfach; sie kommt nur stückchenweise voran und braucht mehrere Versuche. Ich bleibe stehen, wende mich ihr zu und beobachte ihre Aufgabe gespannt. Ich muss schmunzeln und sage ihr, dass sie sich anstrengen soll, und sie kommt tatsächlich mit jedem Versuch etwas weiter, aber der Regenwurm ist lang und steckt zur Hälfte im Boden fest. Immer wieder hackt sie auf ihn ein und zerrt ihn etwas weiter aus dem Boden.

Ich freue mich für jeden kleinen Fortschritt, den dieser Vogel da unten macht. Irgendwie ist das ein schöner Moment, und plötzlich höre ich eine Frauenstimme irgendwo rechts neben mir: "Ich habe mir schon gedacht, dass sie anhalten und der Drossel zuschauen würden." Eine Fahrradfahrerin, vielleicht Mitte fünfzig, steigt ab und schiebt ihr Rad an mich heran. "So wie sie zum Vogel geschaut haben und dann langsamer gegangen sind. Ich hab' mir gedacht, der bleibt bestimmt stehen. Sie sind also einer dieser Menschen, die so einen schönen, kleinen, unauffälligen Moment zu genießen wissen. Ich finde das toll. Das kann nicht jeder Mensch."

Ich hasse es, von unbekannten Menschen angesprochen zu werden, weil ich Angst habe, dass irgendwas schief geht. Heute nicht - denn diese Frau hat Recht mit jedem Wort, das sie gesagt hat, also drehe ich mich lächeln zu ihr: "Ja, ich finde, wir leben in einer so hektischen Welt, und so viele Menschen suchen ihr Glück irgendwo anders und können nicht sehen, dass es so schöne Momente direkt vor ihrer Nase geben kann. Irgendwie sind alle in Eile, jeder muss irgendwo hin, so wenige Menschen können einfach mal da sein. Ich habe auch irgendwie das Gefühl, dass wir erst mit dem Älterwerden irgendwann lernen, das zu sehen, was um uns herum passiert."

"Sehen sie, und solche Momente wertschätzen, das können oft nur ganz besondere Menschen", sagt sie zu mir. "Menschen, die etwas in ihrem Leben durchgemacht haben, was sie bremst. Vor meiner Krebserkrankung bin ich an solchen Situationen auch zu schnell vorbeigegangen, und erst dadurch habe ich gelernt, mal anzuhalten."

Und so sprechen wir ein paar Minuten auf einer Wellenlänge - ich und diese Frau, die ich noch nie gesehen habe, deren Namen ich nicht kenne und die ich vielleicht auch nie wiedersehen werde. In dem Moment ist es mir plötzlich überhaupt nicht mehr wichtig, schnell zum Auto und zurück nach Hause zu kommen. Der Drossel-Moment hält eine Weile an, und schließlich bedanke ich mich bei der Frau für diesen tollen Moment und sage ihr, dass ich den jetzt mit nach Hause und in's Wochenende nehmen werde. Sie wird das auch tun, sagt sie, und tatsächlich sehe ich diesen Moment vor meinem geistigen Auge immer noch so, als wäre er gerade eben passiert.

Nicht nur im Buddhismus trainiert man die Fähigkeit, mal einen Moment innezuhalten, um die Welt um sich herum wahrzunehmen, und das ist eine tolle Fähigkeit: So oft suchen wir unser Glück in der Ferne und släsch oder in der Zukunft und übersehen, dass wir es jetzt und hier direkt bei uns haben können, auch wenn wir uns gerade vielleicht in einer schwierigen Situation befinden.

Unerwartet in Wellingdorf - ein kleiner Moment Ruhe.

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