Teil 1
Hallo Flo!
Heute ist mein Geburtstag, das bedeutet, dass Du in ein paar Tagen dran bist. Ich nulle, um Sir Peter Ustinov zu paraphrasieren: Ein Jubiläum ist ein Tag, an dem eine Null für eine Null von vielen Nullen gefeiert wird. Vierzig also. Ich verbringe den Tag wie immer seit einigen Jahren ganz allein und eher ruhig. Das macht mir nichts aus, im Gegenteil, ich empfinde das sogar als sehr angenehm, und da wären wir bei dem Grund, warum ich Dir schreibe.
Es ist gut zehn Jahre her, dass wir uns näher kennengelernt haben, damals wohnte ich in dieser miesen kleinen Wohnung mit der Kesseltherme für heißes Wasser; damals hast Du dich ein paarmal auf den Weg gemacht, um mich zu besuchen. Das war schön, das waren Highlights, die mir durch das Referendariat geholfen haben. Du warst damals fünfundzwanzig Jahre alt, und ich bildete mir tatsächlich ein, dass es damals einen klitzekleinen Unterschied zwischen uns in der Reife gab. Es wäre witzig, einmal zu sehen, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn wir beide zehn Jahre älter gewesen wären.
Wahrscheinlich nicht anders; boys will be boys. Wir würden Spaß haben, viel miteinander reden, und ich würde es wahrscheinlich genau wie damals schaffen, Dich immer wieder zu verletzen mit Kleinigkeiten, die ich Dir etwas zu direkt gesagt hatte. Und ich würde mich genauso wundern, dass Du trotzdem immer wiedergekommen bist. Du hast Dich weder von meiner Art abbringen lassen noch von Deinen Freunden und Deiner Familie, die Dir sehr deutlich gemacht haben, dass sie nicht wollen, dass wir Zeit zusammen verbringen. Weil ich ein Freak sei.
Wir konnten damals ganz offen darüber reden, vielleicht erinnerst Du dich. Und ich hatte Dir damals erklärt, dass es okay ist, dass sie so denken. Viele Menschen haben genau das über mich gedacht. Aber warum? Nur weil ich andere Kleidung getragen habe als sie? Sie hatten mich doch noch nicht einmal kennen gelernt - warum sind sie so schnell zu einem Urteil über mich gekommen?
Weil ich anders bin, und viele Menschen reagieren mit Vorsicht, Angst oder daraus resultierendem Hass auf alles Unbekannte. Ich kenne das mein Leben lang, und bis vor ein paar Jahren konnte ich nicht verstehen, warum. Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen, warum bekam ich "trotzdem" immer diese Behandlung? Zu jeder Zeit gab es maximal eine Handvoll Menschen, mit denen ich richtig eng befreundet war. Im Lateinstudium ging das etwas leichter, weil da mehrere Freaks waren, ebenfalls anders, und das macht die Kommunikation vielleicht etwas leichter.
Genau wie Du sind sie bei mir geblieben. Ich merke das besonders drastisch, wenn ich an eine neue Schule komme und im neuen Kollegium viel über mich gelästert wird. Und es kommt kaum jemand auf mich zu mit dem Wunsch, mich etwas näher kennenzulernen und seine Meinung vielleicht zu ändern.
Oh, kleines Update, wenn ich schreibe "wenn ich an eine neue Schule komme" - ich habe noch immer keine unbefristete Stelle, ich habe mittlerweile an sieben verschiedenen Schulen unterrichtet. Ich würde gern sagen, dass meine Chance auf eine Planstelle in den letzten Jahren etwas gesunken sei, aber sie war immer schon niedrig, und leider kommt das auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht selten für Menschen wie mich vor.
Unser Kontakt ist vor etwa sieben Jahren auf sehr unschöne Weise abgebrochen, und deswegen schreibe ich Dir jetzt, denn es gibt da etwas, das ich Dir seit Jahren mitteilen möchte - aber ich habe es immer wieder vor mir hergeschoben. Mal, weil ich dachte, dass ich es Dir lieber persönlich sagen würde, damit Du Fragen würdest stellen können, die Dir danach vielleicht in den Kopf kommen - mal, weil ich lange überlegt habe, wie ich Dir das mitteile - als Mail, als Brief oder vielleicht als Video auf einem USB-Stick.
Ich weiß, dass Du diesen Brief nicht lesen wirst, denn ich schicke ihn nicht an Dich. Es ist nur ein Beitrag für meinen Blog. Weil ich immer noch Angst habe, noch mehr Porzellan zwischen uns zu zerbrechen. Deswegen schreibe ich den Brief quasi als öffentlichen Tagebucheintrag, in dem ich ein paar Details auslasse, wegen privat und so.
Was ich schreibe, soll keine Rechtfertigung für mein Verhalten von damals sein, sondern eine Erklärung, damit wir nicht genau wie damals ratlos bleiben, was bei uns nicht geklappt hat. Kurz und schmerzlos gesagt: Ich bin geistig behindert, ich bin Autist und Du nicht.
Ich wäre damals nie auf so eine Erklärung gekommen, und das, obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon mehrere AutistInnen unterrichtet hatte. Autisten, das waren für mich immer diese empathielosen Menschen, die kaum reden und einem nie in die Augen schauen können. Mittlerweile weiß ich, dass das "Autismusspektrumsstörung" heißt und es sie in ganz unterschiedlichen Ausprägungen gibt, auch in vermeintlich unauffälligen wie bei mir. Was bedeutet das konkret? Jetzt kommt keine psychiatrische Auflistung von Symptomen, sondern nur ein paar Dinge, die für uns damals hilfreich zu wissen gewesen wären.
Ich sage Menschen in der Regel völlig unverblümt, was ich denke - und das kommt nicht bei allen gut an, gerade wenn ich sie auf vermeintliche Fehler ihrerseits hinweise. Dabei will ich damit eigentlich nur helfen - und dass ich nicht emotionslos bin, das haben wir damals recht gut gemerkt. Ich nehme die Welt nur anders wahr, sachlicher. Ich deute nicht in jede Kleinigkeit etwas hinein, was man zu mir sagt, und im Gegenzug meine ich alles, was ich sage, auch fast immer wörtlich. "Fast", weil ich bei meiner Diagnose "high functioning autism" mir Strategien überlegt habe, möglichst unauffällig zu sein. Ich beobachte, wie andere Menschen sich in Situationen "korrekt" verhalten und ahme es nach. Das hat so gut geklappt, dass in fünfunddreißig Jahren niemand auf die Idee gekommen ist, mich einmal zu einem Psychiater zu schicken.
Nun wirst Du fünfunddreißig Jahre alt, und vielleicht möchte ich uns mit diesem Brief auch "closure" bringen, das Gefühl, dass alles in Ordnung ist und wir mit unseren Brennpunkten von damals abschließen können. Ich bin Autist und Du neurotypisch - quasi "normal". Und das hat zwischen uns für Missverständnisse gesorgt, wir haben uns gegenseitig verletzt. Es hat aber auch dafür gesorgt, dass Du bei mir geblieben bist - sei es nun wegen der Ausstrahlung meinerseits (Du hattest damals so etwas zu mir gesagt), oder - eher noch - weil Du auf Deine Weise ein anderer Mensch bist als viele Anderen.
Du hast Dir die Zeit und das dicke Fell genommen, mich näher kennenzulernen, und so ist es nicht zu dieser Ablehnung gegenüber dem Unbekannten gekommen. Du bist ein aufgeschlossener Mensch, offen und neugierig; nicht jeder kann das von sich behaupten, und das war ein Glück für uns. Wie damals meine SchülerInnen (wir wollen ja politisch korrekt sein, woke eben ^^): Die haben mich wenigstens vier bis fünf Wochenstunden lang kennengelernt und nicht nur vom Hörensagen, und sie waren fast immer ganz auf meiner Seite, das hat mir viel Kraft gegeben, wenn Eltern oder Schulleitungen mir aufgrund Hörensagens die Hölle heiß gemacht haben, eben weil ich so ein unkonventioneller Lehrer bin.
Du nicht - und dafür möchte ich mich aufrichtig bedanken. Ich hoffe, dass Du dir diese Offenheit bewahren kannst, Menschen nicht nach dem Äußeren zu beurteilen. Der Spruch mit dem Buch und Cover kam damals öfters von Dir ;-) Und letzten Endes sind wir damals nicht auseinander gegangen, weil es zwischen uns nicht funktioniert hätte - das hat nur die Probleme verstärkt, die wir damals aufgrund des Drucks von der "Außenwelt" hatten. Der war für uns beide schwer auszuhalten.
Ich hoffe, mit dieser Erklärung kann ich Dir ein wenig von Deinen Schuldgefühlen nehmen, dass Du es zwischen uns zerbrochen hast. Ich weiß jedenfalls, dass es mir viele dieser Schuldgefühle genommen hat, ich weiß, dass es aufgrund der Kommunikationsprobleme zwischen einem Autisten und einem neurotypischen Menschen diese "Streits" gab, die nie stark genug waren, um zu verdecken, dass wir tatsächlich Freunde waren - und vielleicht immer noch sind. Meinerseits auf jeden Fall. Ich trage fast immer, wenn ich rausgehe, den Anhänger mit mir, und hin und wieder fragen SchülerInnen auch mal nach, was es damit auf sich hat ;-) Und es hängt auch immer noch das große Bild in der Wohnung, von unserem "Fotoshoot" mit meinem Bruder damals.
Ich bin jedenfalls nach allem glücklich, dass wir uns kennengelernt haben, denn es hat mir so viel über mich selbst verraten. So hast Du es damals auch formuliert, auf Dich selbst bezogen. Eine Ähnlichkeit gab es dabei - wir haben beide gelernt, inwiefern unser Verhalten andere Menschen verletzen konnte, und haben versucht, bessere Menschen aus uns zu machen.
"Bessere Menschen", was für ein blöder Ausdruck. Als müsste man einen Soll erfüllen, um ein guter Mensch zu sein. Ich glaube immer an das Gute im Menschen.
Danke, Flo, dass Du auch so geglaubt hast, und sicherlich auch immer noch glaubst. Behalte Dir das bei! Und vielleicht siehst Du unsere gemeinsame Zeit damals ja auch inzwischen mit etwas anderen Augen, schon weil Du etwas "reifer" greworden bist, und damit bin ich wieder bei dem Käse von oben mit dem Alters- und Reifeunterschied zwischen uns. Du bist nun etwas älter, als ich es damals war. Würdest Du nun Dinge anders machen als damals? Wer weiß das schon...
Happy Birthday!
Mit vielen lieben und dankbaren Grüßen,
Dr Hilarius
ps.: Immer fleißig an's "Putzen, putzen" denken" :D
Teil 2
Wie verbringe ich meinen vierzigsten Geburtstag? Ehrlich gesagt, habe ich darüber erst nachgedacht, als die große Buba am Vorabend da war. Tag wie jeder Andere, oder? Ach warte mal, diesmal ja mit einer Null, als ob das etwas Besonderes wäre. Wird mein Leben jetzt irgendwie anders?
Ich meine mich zu erinnern, wie ich an meinem dreißigsten Geburtstag mit der Tante in Husum in einem Café war, und ich glaube, ich meinte damals, dass mein Leben sich etwas aufregender anfühlte - dass ich gespannt sei auf alles, was in den Dreißigern passiert, und dass ich wie ein neugieriger Entdecke darauf zu gehe.
Inzwischen habe ich viele Antworten gefunden, teilweise auf Fragen, die ich mir gar nicht gestellt habe. Ich fühle mich nicht ganz so entdeckerig-neugierig, im Gegenteil, ich fühle mich ein kleines bisschen müde. Ich vermute mal sehr stark, dass das mit meiner beruflichen und privaten Talfahrt zusammenhängt.
Immerhin fühle ich mich aber optimistisch. Nicht, dass ich einen unbefristeten Job finde, und erst recht nicht, dass ich verbeamtet würde. Auch nicht, dass ich rechtzeitig mein Arbeitslosengeld bekomme. Kleine Schritte gehen: Erstmal optimistsch sein, dass ich vielleicht doch noch meinen Schwerbehindertenstatus bekomme.
Aber auch realistisch bleiben. Mir wird jetzt noch übel, wenn ich an die vielen Mitmenschen denke, die mir gesagt haben, okay, dann hat das jetzt an der Schule nicht geklappt, aber nächstesmal bewerbe ich mich als Schwerbehinderter, und dann bekomme ich endlich meine Stelle - und dann kam die "Ablehnung" vom LaSD.
Ich hasse solche "Versprechungen", die sich dann als leider falsch herausstellen. Deswegen ist einer der Gedanken im Buddhismus, dass das Leben leichter ist, wenn man sich keine Hoffnungen macht - denn die haben immer das Potential, zu Enttäuschungen zu führen.
Ich wollte Einiges in den Ferien machen, ich wollte meine Eltern besuchen, in den Hansa-Park fahren, ich wollte in Hamburg mit der S-Bahn fahren und endlich mein Bad auf Vordermann bringen. Während manchmal einfach das Wetter in diesem Sommer dagegen war, lag es teilweise auch an eben jenen Enttäuschungen, die mich jedesmal wieder in eine Art Schockstarre versetzt haben. Ich habe es satt, aber ich kann eben auch nichts dagegen tun. Nichts gegen unser Schulsystem (oder zumindest Aspekte davon) und nichts gegen Teile unserer social security.
Auch wenn ich meinen Geburtstag seit Jahren immer allein verbringe, spüre ich an diesem Tag die lieben Menschen, die in Gedanken bei mir sind. Es ist immer ein Meditationstag, und wie in jeder Meditation geht es zuerst immer darum, die größten Probleme gedanklich anzugehen, damit man am Ende vielleicht bei ausschließlich positiven Denkweisen ankommen kann.
Wie wird es wohl, wenn ich meinen fünfzigsten Geburtstag habe? Die große Buba hat auf ihre Karte für mich ganz charmant geschrieben, dass sie dem alten Frettchen zum hundertsten Geburtstag gratuliert (und ich wiehbe sie dafür). Und im Flur hängen jetzt zwei Thalia-Titten, in die ich immer reinrenne, wenn ich aus dem Bad komme, und so langsam sehen sie aus, als hätte da jemand die Luft rausgelassen.
Aufgabe für das neue Lebensjahr: Die Ballons nicht zum Sinnbild für mein Leben werden lassen! ;-)
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