Donnerstag, 11. Oktober 2018

Die letzte Zugfahrt

Manches lässt sich nicht trennen

Wir sitzen am Bahnhof, niemand sonst wartet auf den Zug nach Freiburg. Niemand da, der stören könnte, und trotzdem sprechen wir nicht miteinander. Wir blicken beide traurig abwechselnd auf den Boden oder in die Richtung, aus der der Zug kommen sollte. Wir haben beide rote Augen. Ich vom Weinen, Er von der durchgemachten Nacht. Wir sind beide übermüdet; vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum wir nicht miteinander reden. Was sollten wir denn auch besprechen? Worüber unterhält man sich auf der letzten gemeinsamen Zugfahrt? Was sagt man sich, wenn man sich am Zielbahnhof ein letztes Mal in den Arm nimmt? Was sind die letzten Worte, die man dem Menschen sagen soll, der einem so sehr ans Herz gewachsen ist, wenn man weiß, dass man sich nicht mehr wiedersehen wird?

Ich habe mich bereits die letzten zwei Nächte über mit dem Gedanken auseinandergesetzt – aber Er ist sich erst spät, bzw. heute in aller Frühe dieser Realität bewusst geworden. Und dabei hätte es alles toll sein können. Wir beide sind für vier Tage von zuhause geflohen, quer durch Deutschland gefahren und den Europa-Park besucht. Ich hatte versucht, für alles zu sorgen, und Er meinte, dass das ein echtes Erlebnis ist.

Ich will auch gar nicht weiter darüber nachdenken, was zu dieser beschissenen Situation geführt hat. Und nun kommt der Zug, wir steigen ein und zwanzig Minuten später schon wieder aus. Und reden immer noch nicht miteinander. Dann fährt der ICE Richtung Norden ein, wir suchen unsere reservierten Plätze, ein Vierer, und uns gegenüber sitzt eine Frau mit ihrer Tochter. Die Kleine ist so niedlich, dass wir beide lächeln und ein bisschen mit ihr spielen.

Der Zug fährt ab, und ich schaue ihn zum ersten Mal an diesem Tag direkt an, und Er schaut zurück. „Hey, wollen wir uns jetzt stundenlang anschweigen?“ fragt sein Blick mich. Ich lächele traurig, Er auch. Er nimmt sich seinen MP3-Player und setzt die Kopfhörer auf. Ich fasse nach seiner Schulter, bitte noch nicht, bitte lass' uns wenigstens ein bisschen reden. Das tun wir. Unauffällig, weil wir dem kleinen Mädchen nicht alle Details der letzten Nacht servieren wollen.

Aber worüber reden wir nun? Ich schaue auf die Uhr, noch sechs Stunden, dann heißt es Abschied nehmen. Wir schauen uns seit Minuten an, ununterbrochen. Ich möchte nicht mehr wegschauen, und Er auch nicht. „Mama, warum sind die beiden Männer so still?“ Wir lächeln. „Tina, die Männer sind bestimmt sehr müde, lass' sie mal ein bisschen in Ruhe.“ Die Mutter lächelt uns an, und ich verwette mein Gehirn, dass sie genau weiß, woran Er und ich gerade denken. Sie sieht, dass wir traurig sind. Man könnte denken, dass wir uns lieben, ich ihn und Er mich. Und die Mutter lächelt hilflos, denn sie würde uns gern etwas Gutes tun.

Nach einer gefühlten Ewigkeit den Anschauens fragt Er mich, ob es okay ist, wenn Er eine Weile Musik hört. Natürlich ist es das, und wir schließen die Augen und lehnen uns zurück. Ich nehme meine Armbanduhr ab, ich möchte nicht sehen,wie unsere letzte gemeinsame Zeit verrinnt.

Und dann fangen wir doch an zu reden. Wir möchten uns nicht die Schuld geben. „Es war nicht dein Fehler“, sagt Er. Dann ich. Ich nehme seine Hand. Die kleine Tina malt in einem Buch herum. Und selbst, wenn sie das nicht täte: Heute ist es uns egal, was die Menschen um uns herum denken. Wir bekommen gar nichts mehr mit, schauen uns nur wieder an. „Ich will dich nicht gehen lassen“, aber wir haben diesen Entschluss in der letzten Nacht gefällt. Seitdem hatte er nicht mehr mit mir gesprochen, hat sich im Hotel im Bett weggedreht, weil er nach und nach die Tragweite dieses Entschlusses einschätzen konnte.

Und plötzlich fangen wir an, ehrlich miteinander zu reden. Über Gefühle, über alles, was wir erlebt haben. Über die irren Nächte, über die schönen Zeiten, ich halte immer noch seine Hand. Wir würden das niemals zuhause in der Öffentlichkeit gemacht haben, denn ich war nie ein gutes Gesprächsthema in seiner Welt, und deswegen hat Er versucht, mich geheim zu halten. Aber nun, mehrere Hundert Kilometer entfernt von den Menschen, die nicht wollen, dass wir befreundet sind, nun können wir endlich authentisch sein. Wir haben noch nie so offen gesprochen wie auf dieser Zugfahrt, haben uns angeschaut und die Mutter gegenüber lächelt uns weiter an. 

Wir haben Eis gebrochen, und wir reden über alles, was in unseren Herzen vor sich geht. Wir haben Angst davor, zurückzukehren in eine Welt, in der wir wieder Rollen spielen müssen, in der wir nicht wir selbst sein dürfen. Wir würden so gern diese Zugfahrt ewig ausdehnen, denn Er redet wie ein Wasserfall von seinen Gedanken und Gefühlen, und für eine Weile wirkt es, als würden wir uns in einer leuchtenden Kugel befinden, in der wir endlich ehrlich sind und keine Blicke von außen fürchten müssen.

Dann fährt der Zug durch den Bahnhof Hamburg-Harburg, und wir realisieren, dass die Heimat immer näher kommt - und das Leuchten unserer Kugel wird schwächer. Er setzt seine Kopfhörer auf, ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Habe ich ihn lang genug angesehen, dass ich in Zukunft ohne diesen Anblick werde auskommen können?

Time will tell...

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Und ich erspare Euch die letzten Momente nach der Ankunft in Kiel. Warum schreibe ich das hier überhaupt? Weil Streit, unschöne Gefühle, Tiefen einfach zu jeder zwischenmenschlichen Beziehung dazugehören. Und die Geschichte zeigt uns vor allem eins: Solche traurigen, schweren Zeiten machen uns stärker. Warum würde Er sonst immer noch für mich aufgeschlossen sein?

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